Schneestöbern

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Wenn es nach Schnee riecht, obwohl er noch nicht da ist. Man spürt ihn kommen. Und wenn dann wirklich erste kleine Wattebauschen vom Himmel fallen, die lautlos auf der ausgestreckten Hand landen, um kurz ihre kunstvollen Körper zur Schau zu stellen und sich dann in Wasser aufzulösen. Als Kind bin ich auf der Fensterbank gesessen und habe auf die vorüberziehenden schwarzen Wolken geschaut. Sobald die ersten Flocken herabtaumelten, lief ich aus dem Haus, um sie zu begrüßen. Oft war ich noch in Socken oder barfuß.

Ich stellte mich auf eine Steinplatte in der Mitte unseres Hofes, legte den Kopf in den Nacken und schaute mit zwinkernden Lidern in das Geschwader von unzähligen weißen Pünktchen, die aus dem Dunkel des Himmels heraustanzten und die, sowohl im Vorbeiflug als auch bei den federleichten Landungen auf meinem bald von kleinen Bächen überzogenen Gesicht unendlich schön waren. Bis ich gezwungen war, den letzten Spalt der Augen zu schließen und meinen Kopf demütig nach vorne zu neigen. Auf diese Weise habe ich mir die Zehen gefroren.

Meine Mutter sagte: Es hat ja damals so viel Schnee gegeben. Und weil du mir auch immer nachgelaufen bist. Und wenn ich nur schnell Ofenholz geholt habe, kaum hab ich mich umgedreht, bist du schon hinter mir im Schnee gestanden.

Sechzig Jahre später sprach mich beim Begräbnis meiner Mutter eine alte Frau mit schwarzem Kopftuch an. Sie merkte, dass ich sie nicht erkannte und nannte ihren Namen.

Die gefrorenen Zehen konnten mit endlos währenden Wechselbädern wieder ins Leben zurückgeholt werden. Als ich bei einem der vielen Arztbesuche mit unzulänglichen Worten darüber zu klagen begann, dass meine Zehen nunmehr so schrecklich juckten, sagte der Arzt freudig erregt zu meiner Mutter: Er spricht an. Da freute sich auch meine Mutter, und ich bekam noch mehr Wechselbäder. Und dann auch Pelzschuhe mit Reißverschluss, für draußen.

Das war dann wohl noch in meiner Pelzschuhzeit. Wir waren etwa ein Dutzend Kinder, die jeden Morgen den Berg hinauf und dann hinunter ins Nachbardorf zur Schule gingen. An der Dorfkreuzung waren die Mitschülerinnen und Mitschüler aus allen vier Himmelsrichtungen zu erwarten. Wenn Schnee lag, kamen manche auch auf ihren Schiern. Der erste Teil der Strecke war dann zwar mühsamer, dafür war die Fahrt ins Nachbardorf hinunter umso schöner.

Bei Schneefall war ich am liebsten allein unterwegs. Wie die Wälder und Wiesen, die Häuser und Gärten hinter dem weißen Flirren verschwanden und die sichtbare Welt immer kleiner wurde, bis ich mit meinen Schritten und meinem Atem allein war. Alle anderen Geräusche schienen jetzt von außerhalb zu kommen. Der Schneefall begleitete mich, als wäre er ein Schutzschirm, der die Blicke und die Schneebälle der anderen von mir fernhielt. Manchmal ist die Welt dabei so klein und so ununterscheidbar weiß geworden, dass ich die Orientierung verlor und warten musste, bis ich von denen, die ich die ganze Zeit reden gehört hatte, eingeholt wurde.

Einmal wurde es, als der Unterricht schon zu Ende ging, plötzlich ganz dunkel. Die Lehrerin musste die Lichter aufdrehen. Der Wind bog die Bäume nieder, dann prasselte schlagartig ein wilder Eisregen gegen die Fensterscheiben, der bald in einen Schneesturm überging. Die meisten Schüler aus den umliegenden Dörfern blieben in der Schule, um das Ende des Unwetters abzuwarten. Ich machte mich auf den Heimweg. Auf der Straße versuchte ich mit der Hand die Augen abzuschirmen und gegen die auf mich wie Sand einprasselnden Körner anzukämpfen, wurde aber schnell umgeblasen. Kaum war ich, mit dem Rücken zum Wind, wieder auf den Beinen, wurde ich erneut zu Boden geschleudert. Ich kroch zum Straßenrand.

Eine ein paar Jahre ältere Mitschülerin aus unserem Dorf stieß auf mich, wie ich dort saß, zusammengekauert, den Kopf zwischen den Knien. Sie nahm mich auf die Arme und trug mich, mit meinem Gesicht an ihrem Hals, den Berg hinauf und auf der anderen Seite bis in unser Dorf hinunter, gegen den tosenden Schneesturm, der kein Ende nehmen wollte.

Sechzig Jahre später sprach mich beim Begräbnis meiner Mutter eine alte Frau mit schwarzem Kopftuch an. Sie merkte, dass ich sie nicht erkannte und nannte ihren Namen. Ich erzählte ihr, dass ich oft daran denken müsse, wie sie sich damals im Schneesturm für mich aufgeopfert habe. Sie erinnerte sich an den Schneesturm, aber sie erinnerte sich nicht daran, dass sie mich heimgetragen hat.