Judasweg

Von

Es war die Zeit der Honig­mel­o­nen und der leicht­en Klei­dung, die Zeit des aufk­om­menden Som­mers, und es war die Knaben­hand, von der Elke träumte, und sein Mund, den sie in ihrer Vorstel­lung sich bewe­gen spürte, sprechen hörte. Den Kuss, der daraufhin unweiger­lich fol­gen musste, weil er in diesen Fil­men, die Erwach­sene schaut­en, unweiger­lich fol­gte, stellte sich Elke unan­genehm vor, Lip­pen auf Lip­pen und so nah beieinan­der, als würde man zusam­men­kleben. Elke hat­te noch nie jeman­den auf den Mund geküsst, und sie würde es auch nie tun, lieber wollte sie ster­ben. Die Mäd­chen aus ihrer Klasse sagten, dass einem Barthaare wach­sen wür­den, wenn man einen Jun­gen auf den Mund küsse. Elke mochte keine Bärte, schon gar nicht an Frauen. Die Bäck­er­stochter hat­te Barthaare im Gesicht, die hat­te bes­timmt schon viele Jun­gen auf den Mund geküsst, und das war nun ihre Strafe für die vie­len Küsse, diese Haare im Gesicht, die eigentlich nur Män­ner hat­ten. Elke mochte nicht küssen, nie­man­den, aber sie mochte es, wenn sich ihre Brust­warzen unter ihren Fin­gern aufrichteten und sie ein Ziehen an dieser Stelle spürte, die sie sich nicht zu berühren traute.

Wenn Elke alleine im Schul­hof stand, träumte sie von der Hand des Jun­gen auf ihrer Brust. Sie träumte nahezu immer von diesem Jun­gen und sein­er Hand auf ihrer Brust, auch an diesem Tag. Sie stand alleine in der Nähe des großen Baumes, der seinen Schat­ten auf die spie­len­den Kinder unter ihm warf. Meis­tens stand sie dort, eher abseits als mit­ten­drin und allein, weil sie es nicht aushielt, wie die anderen Mäd­chen rede­ten. Nicht nur, dass diese so laut waren, wenn sie rede­ten oder kicherten, es waren auch diese ganzen Gerüche, die sich unan­genehm ver­mis­cht­en und die Elke deshalb nicht mochte.
Es war wie in einem ihrer Träume, denn der Junge aus der Schule stand plöt­zlich bei ihr, nur drei Schritte von ihr ent­fer­nt und auch alleine. Erst jet­zt sah sie, wie groß er schon war. In ihren Träu­men fragte immer der Junge, ob er ihre Brüste stre­icheln darf, worauf sie ihre Bluse aus­zog und seine Fin­ger über die kleinen Hügel fahren spürte. Aber jet­zt stand der Junge nur da und sagte nichts, schaute sie nicht ein­mal an, stand ein­fach nur da und stützte sich auf sein rotes Fahrrad. Elke wusste nicht, was sie tun sollte, sich­er liebte er sie sehr, son­st wäre er ja nicht zu ihr gekom­men, hätte sich nicht zu ihr gestellt, und weil Elke den Jun­gen auch liebte, nahm sie all ihren Mut zusam­men und fragte ihn, ob er ihre Brüste stre­icheln möchte. Der Junge lachte nicht, als sie ihn das fragte, der Junge beachtete sie nicht ein­mal, schaute weit­er in die andere Rich­tung, dann richtete er sich langsam auf. Elke wollte ihn ger­ade noch ein­mal fra­gen, lauter jet­zt, damit er sie auch wirk­lich hören kon­nte, doch kam ihr der Junge zuvor.
– Hin­ter der Schule, sagte er leise und mit ein­er sehr tiefen Stimme.
– Im Wald hin­ter der Schule, gle­ich nach dem Unter­richt. Er würde dort auf sie warten.
In Elkes Träu­men war der Wald noch nie vorgekom­men, und seine Stimme war auch eine andere, hellere, und doch freute sich Elke auf den Wald und auf den Jun­gen mit seinen schö­nen Hän­den, Knaben­hän­den, von denen sie schon so viel geträumt hat­te.

Der Junge stand dort im Wald, angelehnt an einen Baum mit überkreuzten Beinen. Sie solle sich ausziehen, sagte er, als er Elke kom­men sah. Jet­zt flüsterte er nicht mehr, seine Stimme war laut und noch tiefer als im Pausen­hof. Er wirk­te nervös, und Elke fühlte sich plöt­zlich unwohl. Warum flüsterte er nicht wie in ihren Träu­men, und warum sagte er ihr keine schö­nen Dinge, dass er sie liebte und sie heirat­en möchte zum Beispiel, so wie es die Prinzen in den Märchen immer tat­en. Elke über­legte, ob sie davon­laufen sollte. Was, wenn er sie küssen wollte? An das hat­te sie gar nicht gedacht. Er durfte sie nicht küssen, das musste sie ihm ja auch noch sagen, denn sie wollte keine Barthaare in ihrem Gesicht. Der Wald war Elke unheim­lich, und sie kam sich darin wie ein kleines gehet­ztes Tier vor, wie ein klein­er Hase, der vom Fuchs gejagt wurde. Sie schaute an dem Jun­gen vor­bei auf die Bäume, die sie zu erdrück­en schienen. Erst jet­zt bemerk­te sie die andere Gestalt hin­term Gebüsch, einen Mann, groß und alt, mit einem Bart im Gesicht.

Der geschän­dete Leich­nam des jun­gen Mäd­chens wurde erst viel später von einem Polizei­hund unter einem Reisighaufen gefun­den. Die Polizei rief die Bevölkerung zur Mith­il­fe auf. Alle Infor­ma­tio­nen zu diesem Mord­fall wur­den ver­traulich unter der Notrufnum­mer oder direkt bei der Polizei behan­delt. Die Ermit­tlun­gen blieben jedoch erfol­g­los. Irgend­wann wurde der Mord­fall als unaufgek­lärt zu den Akten gelegt.