Forêt de Saint-Germain-en-Laye

Von

Vielle­icht ist es ja so: Über den all­ge­mein bekan­nten sieben Hautschicht­en hat der Men­sch als achte Schicht eine Zivil­i­sa­tion­shaut. Mit der kommt er nicht zur Welt. Die wächst ihm ab Geburt. Dick­er oder dün­ner, je nach­dem, wie sie gepflegt und gehegt wird. Ver­sorgt man sie nicht gut, bleibt sie dünn und reißt schnell auf, und was aus den Ris­sen wuchert, kön­nte zu Fol­gen führen, von denen es dann betreten wieder ein­mal heißt: ‚Das hat doch nie­mand gewollt!‘
(Chris­tine Nöstlinger)

Irgend­wann, als er es endlich unbeobachtet benützen darf, sucht er im SmartLIVE nach dem Fluss, seinem Fluss. In dem, wie er weiß, seine Mut­ter täglich badet, nein: schwimmt. Er sucht den Fluss Mat, von dem er sich­er sein kann, er hat ihn erlebt, er ist in dieser Welt; und find­et nichts.

„Nicht gefun­den. Nicht gefun­den“, wieder­holt das Gerät mit ein­er Stimme, die ihm angenehm ist, die er sich aus­ge­sucht hat, eine Jun­gen­stimme, pfif­fig und klar, aber kein biss­chen qui­etschig, so wie Bal­a­ban sel­ber gern sprechen würde, kräftig, melodiös, mit feinen Untertö­nen. Wo ist der Fluss hin? Ein ganz­er Wasser­lauf kann doch nicht ein­fach inner­halb weniger Jahre ver­sick­ern, vom Erd­bo­den ver­schwinden? Bal­a­ban sucht nach der Stadt Mat und die Ein­träge haben sich geän­dert, keine Rede mehr von Wass­er.

„Ver­armt“, sagt die SmartVOICE, „ver­lassen“, fährt sie fort, „nur mehr wenige alte Men­schen verblieben“. Die Vor­silbe -ver echot in Bal­a­bans Gedanken, er sucht nach Flüssen über­haupt und find­et ein Ergeb­nis, das ihm den Atem stock­en lässt. „Flüsse sind weit­ge­hend von der Erdober­fläche eli­m­iniert wor­den, erstens weil dort auf­grund steigen­der Tem­per­a­turen die Ver­dun­stung so hoch wurde, dass zahlre­iche Ströme auf dem Weg von der Quelle bis ans Meer aus­trock­neten, was zu einem frap­pan­ten Absinken der Wasser­spiegel führte, trotz schmelzen­der Polkap­pen, zweit­ens, um ein und für alle­mal auszuschließen, dass jemand hine­in­fällt und ertrinkt.“ Dieses Vorhaben habe inner­halb kürzester Zeit real­isiert wer­den kön­nen, ein­fach weil die Welt­poli­tik und die inter­na­tionalen Konz­erne bere­it dazu waren und sich einig, das habe zu geschehen und absolute Pri­or­ität. Die Bewohner­in­nen und Bewohn­er der Welt seien nicht son­der­lich dazu befragt wor­den, aber man habe ihnen sug­geriert, das wäre, was auch sie abso­lut woll­ten. Ein Land sei dabei Vor­re­it­er gewe­sen und mit gutem Beispiel vor­ange­gan­gen, näm­lich die Gegend um Mat. „Deine Heimat“, unter­bricht die angenehme Stimme ihren Vor­trag, als spüre sie Bal­a­bans Erschreck­en und Zweifel. „Ja, die spüre ich“, bestätigt die SmartVOICE, „denn ich messe deine Gedanken­ströme und berechne, was du denkst, ziehe meine Schlüsse.“
Bal­a­ban hätte das Gerät gern an die Beton­wand der Baracke gepf­ef­fert, hätte es in zahllose Einzel­teile zer­sprin­gen sehen wollen, aber er weiß, die Zer­störung des Dings ist streng ver­boten, er würde der­art bestraft, dass er es wahrschein­lich gar nicht über­lebte. Zudem will er mehr erfahren, es muss doch möglich sein, dieses Gerät zu überlis­ten. Es ist schließlich nur ein Ding, soviel ist von Hele­nas Erziehung in ihm übrigge­blieben, Dinge sind besieg­bar.

„Du bist nicht so klug, wie du denkst“, kom­men­tiert die SmartVOICE in fre­undlichem Ton, „du fragst dich, was sug­gerieren heißt und absolute Pri­or­ität, befrage doch meine Wort­de­f­i­n­i­tion­slis­ten, betra­chte die erk­lären­den Videos.“

„Gle­ich schalt ich dich ab.“ Bal­a­ban hat sich gefasst. Nur noch Nach­schauen, was aus den Flüssen gewor­den ist, wo diese Wasser­massen sich jet­zt befind­en. „Wenn du meine Gedanken liest, suche, was ich mich frage, du Mist­d­ing, du leblos­es Met­al­lzeug.“

„Jet­zt hast du irgend­wie vage gedacht, Bal­a­ban.“

„Mach dich nicht lustig, ich habe dich noch immer in der Hand und kann dich jeden Moment zer­schmettern.“
„Davor wirst du dich hüten, Engelchen“, flötet die sym­pa­this­che Stimme.

Bal­a­ban fühlt Trä­nen der Wut auf­steigen, unter­drückt sie, er ist schließlich fast elf.

„Flüsse!“, befiehlt er dem Gerät, „Sag schon, wo die Flüsse sind.“

„Flüsse wer­den großteils direkt an der Quelle in feinen Kap­il­laren aufge­fan­gen und in abso­lut dicht isolierten Sys­te­men, aus denen kein Molekül ver­dun­stet, dor­thin geleit­et, wo sie gebraucht wer­den: Großstädte, Getränke­fab­riken, allen voran die Betriebe Coca-Cola und Rauch, Brauereien, Küh­lanla­gen, Autowaschan­la­gen, Whiskey­her­steller, Tex­til­fab­riken, und in die Badez­im­mer und -toi­let­ten von allen, die welche besitzen. So geht kein Tropfen ver­loren, ein Teil jedes Flusses gelangt freilich immer noch in die Ozeane, sie sind da wie gehabt, zumin­d­est an der Ober­fläche. Von den bis­lang üblichen Hob­bies, die offene Flus­släufe ver­langten, Mäan­der oder Ästu­ar­ien, wie Rud­ern, Kajak­ing oder Vergnü­gungs­fahrten auf Schif­f­en, mit dem alleini­gen Zweck, die Ufer der nun obso­let gewor­de­nen Flüsse zu bestaunen, von diesen Beschäf­ti­gun­gen ist man abgekom­men, die Regierun­gen haben sie als zu riskant eingestuft und ver­boten.
Die Kap­il­laren, die inner­halb von Reko­rdzeit über ganze Kon­ti­nente ver­legt wur­den, gespon­sert von den Konz­er­nen, die davon prof­i­tieren, dienen im Neben­ef­fekt auch der Fes­ti­gung des Erd­bo­dens dort, wo die Erd­kruste anson­sten von der Ero­sion bere­its völ­lig abge­tra­gen wor­den wäre.“

„Aber wo schwimmt jet­zt meine Mut­ter?“ Der Bub kauert im Staub an der Wand der Baracke, in der er schläft, er weiß nicht mehr, ob er spricht oder denkt, die ganze Welt ist also trock­en­er als dieses Camp? Nir­gends kühlt ein Strom, trägt dich im Auf­blas­reifen schwebend zur näch­sten Biegung? Über­all Trock­en­heit und das einzige Nass spritzt aus Duschen? Eigentlich wäre ihm sehr recht, wenn ihn jet­zt jemand schla­gen würde.
„Die Men­schen haben Strö­mungs­beck­en in ihren Häusern. Während sie sich darin bewe­gen, ziehen in den Raum pro­jizierte the­o­retisch mögliche Aus­sicht­en vor­bei, passende Gerüche wer­den ver­sprüht, nach Kräutern, salzi­gen Ton­er­den, zertrete­nen Muscheln, heißem Kies, sich im sandi­gen Boden ver­graben­den Faden­würmern. Nie­mand gin­ge heutzu­tage mehr in ein enormes wasserge­fülltes Beck­en mit unzäh­li­gen Frem­den und zahllosen unbekan­nten Krankheit­ser­regern. Deine Mut­ter tang­iert das nicht mehr, deine Mut­ter ist zu eben­falls unzäh­li­gen, aber ster­ilen, Aschen­teilchen gewor­den.“

Von dem Tag an, da sie ins Camp ein­treten, bekom­men die Kinder täglich sechs bis sieben Stun­den Filme zu sehen. Videoschauen ist ihre Haup­tauf­gabe, es sind Filme aller Art, Roman­ver­fil­mungen und Doku­men­ta­tio­nen, Inter­views, Sit­coms und Serien, meist mit 3-D-Erleb­nis­ef­fek­ten, ihre dazuge­höri­gen Brillen haben die Jun­gen an Bän­dern um die Hälse hän­gen, der Name ihres Besitzers ist an der Innen­seite des linken Bügels ein­graviert, damit sie sie nicht ver­wech­seln.

Tiere kom­men in den Fil­men zum Lei­d­we­sen Viel­er kaum vor, Pflanzen schon gar nicht, beziehungsweise höch­stens als Dekor oder etwas, das die men­schliche Speisekarte bere­ichert. Die Jungs schauen trotz­dem gern, das Core-Team hat hier pfeil­ger­ade ins Schwarze getrof­fen mit sein­er Strate­gie. Abge­se­hen von einan­der gibt es nichts, was die Kinder mehr fes­selt als Filme und da sind längst nicht unbe­d­ingt die ihre Favoriten, bei denen Mit­machen möglich und erwün­scht ist, wo sie sel­ber in die pro­jizierten Kostüme schlüpfen kön­nen und einan­der auf der Lein­wand neben pro­fes­sionellen Schaus­piel­ern bewun­dern, oder die, bei denen sie sich bewe­gen, ren­nen, sprin­gen, kämpfen, nein, viele Buben lieben ger­ade die Videos, bei denen sie sich zurück­lehnen kön­nen, ein­fach nur schauen, was passiert. Ab und zu schläft ein­er ein, obwohl sie wahrlich genug Zeit zum Schlafen haben; um sieben Uhr abends ist Bet­truhe, vor sieben Uhr mor­gens darf kein­er den Schlaf­saal ver­lassen.

Ein Film ist Bal­a­bans Liebling, es ist ein sehr alter, aus der Zeit, als noch nicht ein­mal seine Mut­ter geboren war. Die Geschichte spielt in einem Land, von dem er zuhause als kleines Kind schon gehört hat­te: Ital­ien. Die Protagonist*innen sind unfass­bar großar­tig gek­lei­det, wie lebendig gewor­dene Fig­uren auf his­torischen Gemälden, über die es eben­falls ab und zu Filme zu sehen gibt, sie wohnen in ein­er her­rlichen Vil­la, fast ein Kunst­werk oder eine Kirche, aber dort wird gekocht und Klavier gespielt, es geht um eine Fam­i­lie mit drei Kindern. Der eine Sohn ist aber mit der Mut­ter beson­ders eng; seine Schwest­er liebt Frauen und seine Mut­ter ver­liebt sich in seinen besten Fre­und, der Koch ist und die wun­der­barsten Gerichte aus seinen Töpfen auf die Teller zaubert – Essen, das aussieht wie Spielzeug. Welchen Effekt solche Speisen auf die Men­schen haben, wie sie sie beza­ubern und verza­ubern, zeigt sich im Film ganz deut­lich. Kein­er in dem Film ähnelt auch nur eine Spur den Leuten, die Bal­a­ban im Camp umgeben. Oder doch wom­öglich ein wenig der Vater des Knaben, der so sym­bi­o­tisch ist mit der Mut­ter, er kön­nte dur­chaus ein Teil des Core-Teams sein und würde dort nicht son­der­lich her­vorstechen. Der Lieb­haber der Mut­ter, der Koch, hat ein Haus irgend­wo im Gebirge, dort sieht es aus wie in Mat. Zu seinen bevorzugten Szenen, die er sich am lieb­sten in Wieder­hol­ungss­chleife hun­derte Male anschauen würde, gehören die Sequen­zen, wenn da hin­aufge­fahren wird, durch Felder und Wälder, auf schmalen Straßen, die Mut­ter in leuch­t­end orange­far­bigen Hosen, der junge Mann in schmutziger Arbeit­sklei­dung wird sie ihr bald abstreifen. Die Mut­ter in dem Film ist die erste Frau, die Bal­a­ban nackt sieht, nicht ganz, aber vom Bauch aufwärts, und er bildet sich ein, sie ähnelt Hele­na, wie er sich nicht an sie erin­nert, im hin­ter­sten Winkel seines Gedächt­niss­es klickt etwas, wenn er diese Frau in ihren far­ben­prächti­gen Klei­dern sieht.

Das Ende der Geschichte ver­ste­ht er nicht. Aber es fasziniert ihn.

In der Vil­la find­et eine große Par­ty statt, der Koch bere­it­et das Festmahl zu, es gibt die Leib­speise des Jun­gen, des Sohnes, eine beson­dere Suppe, die seine Mut­ter nur für ihn kocht, seit er selb­ständig essen kann, eine bunte Suppe mit vie­len Zutat­en, manche müssen im Garten gepflückt wer­den, auch Fis­che sind darin und andere Wassertiere. Als die Suppe auf den Tisch kommt, sieht der Junge seine Mut­ter bit­ter­böse an, die bei­den sprin­gen vom Tisch auf, ohne einen Löf­fel zu nehmen, ren­nen hin­aus in den Garten. Dort stre­it­en sie am Rand des Swim­ming­pools, in dem blaues Wass­er glänzt, obwohl es Nacht ist und stock­fin­ster. Plöt­zlich rutscht der Junge irgend­wie ab, weil er sich von der Mut­ter ent­fer­nen, nicht von ihr berühren lassen will, fällt in den Pool. Im Fall­en trifft sein Kopf einen Stein der Ein­fas­sung. Wie er dann im Wass­er driftet, Gesicht nach unten, sei es nur für wenige Sekun­den, weißt du sofort, da kann kein Kranken­haus mehr helfen. Danach ist die Mut­ter nochmals zu sehen, in einem enor­men leeren Gebäude, eine Kathe­drale muss das sein, hohe verzierte Fen­ster, Türen, durch die Riesen schre­it­en kön­nten ohne sich zu bück­en.

Zum Glück wer­den Filme auch manch­mal wieder­holt. Er hat danach gefragt. Der Film sei ein Verse­hen gewe­sen, er entspräche nicht dem Pro­gramm des Core-Teams, nicht den Core-Inter­essen des Core-Teams und hätte keinen erzieherischen Wert, bekam er zur Antwort. Doch aus­geschlossen sei nichts.

Bal­a­ban beschließt, mit dem Auf­bruch aus dem Camp zu warten, bis er den Film wieder gese­hen hat.

Er wird ein Jahr Geduld haben.

Die Luft ist dick gewor­den, lässt sich nur schluck­en, kaum mehr ein­saugen. Zäh­flüs­siger Pud­ding aus Rauch. Und wirk­lich ist der Him­mel erst­mals nicht hell, nicht blau, obwohl die Sonne scheint oder was auch immer da Wärme abstrahlt, son­dern grau ver­dunkelt, und manche hal­ten das im ersten Moment für heißersehnte Wolken. Doch küh­ler ist es nicht gewor­den, im Gegen­teil. Und da sind hal­ber­stick­te Schreie. Hus­ten und Rufe der Lehrer, die ver­suchen Ord­nung im Chaos zu hal­ten, die Kinder irgend­wohin zu führen, raus. Aber es gibt auch den einen oder anderen von ihnen, der sich aus dem Staub macht. Das Core-Team übri­gens ist, ja genau: futsch. Wenn es darum gin­ge, sind sie weg. Beziehungsweise: Sie wis­sen eben, jet­zt geht es darum weg zu sein. Da haben sie eine schnelle Auf­fas­sungs­gabe.

Die Jun­gen, die an den bis an die höch­sten Eck­en der Barack­en hin­aufzün­gel­nden Flam­men vor­bei zum Tor geführt wer­den, das sie, seit sie hier sind, nie mehr aus der Nähe gese­hen haben, staunen nicht schlecht, wie viele ihrer Lehrer und ihrer Kol­le­gen unbeschadet mit­ten durchs Feuer gehen, während Pflanzen und Bäume und sog­ar das ros­tige Skelett des Krans unwahrschein­lich schnell geschluckt wer­den, auflodern wie etwas, für das sie keinen Ver­gle­ich haben, woan­ders würde man sagen, wie mit Ben­zin über­gossen, wie trock­enes Brennholz, wie Zünd­schnüre und aufge­hen in einem Feuer­w­erk.

Natür­lich hat Emir das gefilmt und bald wird er es fer­tig geschnit­ten und bear­beit­et haben. Während die anderen zwei abwech­sel­nd in die Ped­ale treten, sitzt er hin­ten im Anhänger, geban­nt von seinem Gerät. Mar­co, der kleine durch­sichtige Mar­co radelt uner­müdlich, glück­licher­weise, son­st hätte Bal­a­ban dem Ältesten, der sich die Luxu­s­po­si­tion angeeignet hat, schon längst gezeigt, wo das Gras wächst, ihn so unsan­ft wie möglich aus­ge­laden.

Das ist ihr Fahrzeug: ein Tan­dem mit einem dop­pel­rä­dri­gen Sportwägelchen dahin­ter, im Camp haben die Dinger zu Wet­tbe­wer­ben gedi­ent und zum Vor­führen der Gläu­bi­gen nach ihrer Bekehrung, bunt geschmückt und im Schein­wer­fer­licht.

Das haben sie zusät­zlich mit: ein vierzig Zen­time­ter langes Flugzeug, fern­s­teuer­bar, darauf mon­tiert hat Emirs SmartLIVE ihre Flucht gefilmt, eben­so wie alles drumherum.

Als sie weit genug weg sind, zehn Stun­den auf den Ped­alen, das Kon­di­tion­strain­ing im Camp ist immer­hin zu etwas gut gewe­sen, schmeißen Bal­a­ban und Mar­co sich von den Sät­teln ins Gras. Das Tan­dem mit Emir im Schlepp­tau rollt noch ein paar Meter weit­er.

„Ich sterbe vor Hunger.“ Bal­a­ban reißt einen Halm ab, steckt ihn sich zwis­chen die Zähne, bricht einen Zweig mit grü­nen Blät­tern von einem Strauch, beißt in die Blät­ter als wären sie ein Stück Brot.

„Nimm dich zusam­men, die kön­nten giftig sein.“ Mar­co klingt böse. Dem Kleinen scheint nichts zu fehlen, er hat kein einziges Mal geklagt, wed­er trinken noch essen ver­langt.

Das Flugzeug steigt auf, stößt in den grauen Him­mel, der hier eine gän­zlich andere Tex­tur hat als im Camp, eine andere Farbe sowieso, nicht schön­er, nein, durch­läs­siger, käl­ter ist er. Bald frieren die Buben, zumin­d­est die zwei größeren, sie kauern sich unter Gestrüpp, bekla­gen die schlechte Vor­bere­itung ihrer Flucht. Mar­co liegt auf dem Boden, drückt das Gras unter sich flach, als läge da ein schw­eres Met­all­teil, er scheint zu schlafen. Da kommt der Flieger zurück. Bal­a­ban springt auf, fängt ihn, bevor er eine Bruch­landung machen kann, Emirs Hand will rasch­er bei dem SmartLIVE sein, Ell­bo­gen in die Rip­pen. „Das ist meins, kapiert.“ Der leere Magen macht die Fre­unde aggres­siv, nur Mar­co schläft bewe­gungs­los auf der Wiese; sie fühlt sich anders an als im Camp, feuchter, elastis­ch­er, eigentlich ess­bar.

Sie sehen: Grün, viel Grün vor allem, dann einen helleren Fleck mit unregelmäßi­gen Rän­dern, fast wie ein Fußab­druck ein­er Krea­tur mit drei dick­en Zehen, feine weiße schnurg­er­ade Striche in dem Grün, teil­weise stern­för­mig ange­ord­net, auf Zen­tren zie­lend, ein bre­it­er Streifen, hell­grün ohne Verbindung mit irgend­was, drumherum ein ander­s­far­biger bre­it­er Streifen, wie ein Mosaik aus beige, braun, grau, ovale, eck­ige Fleck­en und das Ganze in ein­er Schlinge, klar definiert und schwungvoll geze­ich­net, oliv­grün, von eini­gen dick­eren Strichen quer durch­schnit­ten. Bal­a­ban muss an ein Las­so denken.

„Da hat uns wer einge­fan­gen.“

„Das ist ein Fluss, Dummkopf.“

Das oliv­grüne Las­so zieht sich rechts oder östlich in ein eng­maschiges Muster aus Lin­ien, Dreieck­en und Quadrat­en, ins­ge­samt hell­grau gefärbt, mit ab und zu einem grü­nen Rechteck oder Kreis. Kurz bevor das Video abbricht, ist am Hor­i­zont ein merk­würdi­ges Objekt zu sehen, wie ein Riesen­spielzeug oder ein Werkzeug um am Him­mel herumzuschrauben, Wolken zu repari­eren, aus Met­all beste­hend, scheint es den Buben, eine Art überdi­men­sion­aler Schrauben­zieher.

„Was kön­nte das sein?“

„Keine Ahnung.“

So ein Bauw­erk war in den Fil­men nie vorgekom­men, über­haupt wirkt das Leben, seit sie das Camp ver­lassen haben und auf ihr Tan­dem gestiegen sind, ganz und gar nicht wie ein Film und bish­er haben sie her­zlich wenig von dem, was sie gel­ernt haben, auf dieser Rad­tour anwen­den kön­nen. Die Brillen, die GOOGs wie die 3-D-enhancers, sind zu nichts nutz; beim Fahren getra­gen bewirken sie nur Schwindel, denn das, was ihnen in der Wirk­lichkeit vor die Räder kommt, zeigt der Fourth View des SmartLIVEs nie an.

„Wom­öglich haben wir defek­te Exem­plare erwis­cht“, mut­maßt Emir, während Bal­a­ban überzeugt ist, „Sie haben uns mit Absicht solche zugeteilt, alle Buben haben die, nur sie selb­st haben welche, die außer­halb des Camps funk­tion­ieren.“ Endlich ver­ste­he er, wie das funk­tion­iert habe, wie sie es geschafft hät­ten, alle Jungs da drin auf eine Art ruhig zu stellen. Emir ver­ste­ht nichts oder will nichts ver­ste­hen. „Vor allem die Essens­beschaf­fung haben die völ­lig vergessen uns beizubrin­gen“, mur­rt sein Fre­und weit­er, obwohl ihm klar ist, hier hil­ft Reden nichts, hier hil­ft keine Brille und kein SmartLIVE. „Wir müssten jagen, hier muss es doch Tiere geben; es gibt über­all Tiere.“

Bal­a­ban denkt an Mat, als er das Dunkel­grün auf der Auf­nahme sieht, die gle­ich­mäßig oliv­grün gefärbte Fläche. Diesen Fluss gibt es also noch. Er spürt eine enorme Erle­ichterung, ver­gisst minuten­lang sog­ar seinen Hunger. Die Idee, Tiere zu jagen hat er natür­lich aus einem Film. Doch da tru­gen die Jäger Waf­fen bei sich.

„Wir kön­nten fis­chen, in dem vie­len Wass­er, da, das müsste ein Teich sein, ein See.“ Bal­a­ban hat plöt­zlich ver­standen, wie diese Land­schaft funk­tion­iert, er hält den Fin­ger auf den fußab­druck­ähn­lichen Fleck, das automa­tis­che Zoom zieht den Blick in einen Wirbel aus Grün­schat­tierun­gen, näher, bis sich Büsche aus­nehmen lassen, am Rand ein­er offen­bar algenbe­deck­ten Wasser­fläche, ja, das muss Pflanzen­ma­te­r­i­al sein, näher und näher bis nurmehr grünes Rieseln übrig­bleibt.

„Diese Videoauf­nah­me­pro­gramme müssten bess­er steuer­bar wer­den“, kri­tisiert Emir, weil er sich weniger gut zurechtfind­et als der jün­gere Bal­a­ban. Um her­auszufind­en, wo auf diesen Bildern sie sich nun befind­en, aktivieren sie bei­de in ihren Geräten die Such­funk­tion nach dem geo­graphis­chen Stan­dort, im Camp war die von den Störsendern des Tech­nikers im Core-Team, die einzig diesem Zweck dien­ten, automa­tisch deak­tiviert wor­den. In der Aufre­gung der Flucht hat­ten die Buben kom­plett auf diese Funk­tion vergessen. Zum ersten Mal seit ihrer Ent­führung wer­den sie erfahren, wo auf diesem Erd­ball sie sich aufhal­ten.

Emir tippt auf die Türkei, Bal­a­ban auf Aser­baid­schan, weil er das Wort mag und das Kli­ma dort so ver­mutet, wie sie es erleben. Jeden­falls außer­halb Europas muss es sein, alles im Camp hat sich ganz uneu­ropäisch ange­fühlt, und die Ent­führer wären nie und nim­mer in Europa geblieben, im gesit­teten, kon­trol­lierten Europa, dort wäre so etwas wie das Camp nicht möglich.

Andrea Grill – Forêt de Saint-Germain-en-Laye

Stan­dortbes­tim­mung“, die zwei Geräte sprechen im Chor mit ihren reizen­den Knaben­stim­men, aber lei­der wider­sprechen sie sich. Das eine SmartLIVE spricht vom Garten eines Kaisers, einem Jagdge­bi­et, fol­glich Pri­vat­grund, das andere sagt: Ban­lieu, ehe­ma­liges Erhol­ungs­ge­bi­et, seit der let­zten großen Seuche im Jahr 2021 Sper­rge­bi­et, Betre­tungsver­bot. Nur den Namen betr­e­f­fend sind sie sich einig, Forêt de Saint-Ger­main-en-Laye.