An diesem Tag

Von

An diesem einen Tag wollte ich mich auf den Weg begeben wie jemand, der weit­er nichts als das zu tun hat. Ja, auch einen Zettel mit meinen geheimen Vor­bildern wollte ich mir in die Hosen­tasche steck­en, um die Namen all der­er von Zeit zu Zeit auszu­rufen, die es ver­standen, sich mit­ten in Bedräng­nis und Ver­wirrung jeman­dem anzu­ver­trauen, der sich zwar als schweigsam, nicht aber als gle­ichgültig erweisen kann. Braucht es nicht Mut und die Bere­itschaft, Erfahrun­gen im Unbekan­nten zu sam­meln, um sin­nvoll zwis­chen Schweigsamkeit und Gle­ichgültigkeit zu unter­schei­den?

Immer­hin hat­te mich über viele Jahre hin­weg häu­fig das Gefühl inten­siv­en Ver­lusts von Ori­en­tierung heimge­sucht, ver­gle­ich­bar dem über­aus mühevollen Schwim­men in einem vom Wind aufgepeitscht­en Gewäss­er, bei dem das Ufer ganz aus dem Blick­feld gerät. Mir war dann, als riefe etwas nach mir, zuerst sehr drän­gend, laut, eine Durch­mis­chung von Geräuschen, die dann aber, je entsch­ieden­er ich ihm nach­gab und mich den Wellen über­ließ, ohne mich über Gebühr anzus­tren­gen, in Wim­mern, schließlich aber in leis­es Säuseln überg­ing. Ich hat­te mich gefragt, welch­er Art die Sache war, die sich hier zeigte, und ob die Geschicht­en unbekan­nter Ahnen sich darin Gehör ver­schafften. Ein­mal war ich nach solch­er Nacht an meinem Schreibtisch gesessen, hat­te zum geschlosse­nen Fen­ster hin­aus­ge­blickt und beobachtet, wie die Katze ein Eich­hörnchen jagte, das Eich­hörnchen aber geschwind den kahlen Nuss­baum hin­auf klet­terte, um von dort oben die Katze ihr Inter­esse ver­lieren zu sehen. In diesem Augen­blick war ein Buch aus dem Regal gefall­en, das ein­mal meinen Großel­tern gehört und das ich schon ganz vergessen hat­te; als ich mich darüber beugte, um es aufzuheben, fie­len ihre Erin­nerungs­bilder her­aus und ein sehr altes getrock­netes, vierblät­triges Klee­blatt. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass dies hier ein Gruß mein­er Groß­mut­ter war – und stellte die Bilder auf und betra­chtete das Klee­blatt einge­hend, ehe ich es wieder zurück zwis­chen genau jene Seit­en schob, aus denen es mir in den Schoß gefall­en war.

Jet­zt aber beschloss ich, seine Kon­tur vor­sichtig abzuze­ich­nen und das Bild den Namen jen­er zuzuge­sellen, die mir an diesem Tag als leuch­t­en­des Beispiel vor­ange­hen soll­ten.

Ein besser­er Tag als dieser würde auch gar nicht kom­men kön­nen: Der Him­mel ver­lor sich in hellem, weit­em Blau, und wenn sich eine Wolke bildete, dann strahlte sie die Leichtigkeit eines durch­läs­si­gen, unbeküm­merten Lun­gen­flügels aus, der eben­so wie ich nichts weit­er im Sinn hat­te, als sich der Far­ben­pracht und Vielfalt jen­er Gestal­ten zu erfreuen, in die hinein er sich ver­schwen­dete. Auf dem Feld­weg vor mir sam­melten sich da und dort kleine Pfützen, Reste des Gewit­ters der let­zten Nacht, eine Wohltat für die Böden, aus denen Mönch­spf­ef­fer, wilder Knoblauch, Son­nen­hüte und eine Vielfalt dicht­ester Schaf­garbe sich aufrichtete, wie um mich daran zu erin­nern, dass ich mir als sehr junger Men­sch bei ein­er Unzahl schwieriger Ereignisse, per­sön­lich­er und unper­sön­lich­er, vor Augen geführt hat­te, was alles am näch­sten Tag an Schönem, let­ztlich Unversehrbarem noch da sein würde, ganz unab­hängig von der Entwick­lung eben dieser Ereignisse.

Ich hob, von met­al­len­em Klang in der Luft aufgeweckt, den Kopf und sah fünf Schwäne über mich hinziehen, ver­mut­lich auf dem Rück­weg zum Fluss, den ich bere­its hin­ter mir gelassen hat­te. Wür­den sie nicht, dort angekom­men, die Flügel spreizen, ehe sie sich geschmei­dig im Wass­er abset­zten, um ohne jeglichen Nach­druck auf ein von jeher geschenk­tes Ter­ri­to­ri­um zu ver­weisen, das nicht erst durch beson­dere Vorzüge erwor­ben wer­den muss?

Wie wun­der­bar war mein Weg! Kaum ein Haus säumte ihn, und wenn doch eines auf­tauchte, dann klet­terte der Efeu in den Fig­uren dreier Tänz­er die Wand hin­auf, und Katzen schlichen vor­bei, die sich satt davor in den Schat­ten legten. Ein­mal stand mit­ten in ein­er Wiese ein vergessen­er Lieges­tuhl aus Holz, bespan­nt mit gestreiftem Tuch, durch das der Wind strich; ein Eichel­häher set­zte zum Sink­flug an, es schien, als wolle er aus­gerech­net an einem Ort ras­ten, der ihm gewiss stre­it­ig gemacht wer­den würde.

Ich war sich­er, dass es die Stille, durch die ich mich bewegte, nicht bedrück­en würde, wenn ich ihr einen Traum über­gab, der sich mir seit län­ger­er Zeit immer wieder ins Gedächt­nis schlich, ohne mir einen allzu deut­lichen Wink zu geben:

Ich befand mich darin in ein­er Hütte, die ein­sam auf einem ver­schneit­en Berg lag; hin und wieder kam ein Wan­der­er vor­bei und fragte mich, ob ich etwas zu essen hätte, wenig­stens einen Teller Suppe. Erfreulicher­weise leerte sich der Sup­pen­topf kaum jemals, sodass ich nie­man­den abweisen musste, nur störte es mich, nicht zu wis­sen, wie lange ich hier noch aushar­ren und worauf mein Sein hier hin­aus­laufen sollte: Ob ich von nun an keine andere Auf­gabe mehr zu erfüllen hätte, als Wan­der­ern Suppe zu geben? Nie fragte mich ein­er nach dem Weg oder wie es kam, dass ich hier oben, mit­ten im Schnee, Woh­nung genom­men hätte, auch Rat ver­langte kein­er, einzig Suppe wurde gewün­scht. Ein­mal, als ich darüber in tiefe Ver­wun­derung geri­et, fand ich mich plöt­zlich in einem wun­der­baren Garten wieder, in dem wilde Rosen, Glock­en­blu­men, Margeriten und Dost in reich­er Fülle sich hin und her wiegten; auch gab es da hohe, mächtige Buchen, Birken und Kas­tanien. Wenn ein Luftzug sie bewegte, klang es wie das Rieseln von Wass­er. Mit­ten darin aber stand eine Theke und eine Klei­der­stange, auf der ver­schiedene Stücke zur Auswahl hin­gen. Während ich einen Man­tel pro­bieren wollte, klin­gelte mein Tele­fon, und während ich in mein­er Tasche nach ihm suchte, kam eine Frau auf mich zu, offen­bar die Eigen­tümerin, die mich mit san­ften, aber bes­timmten Augen ansah, und mir sagte, sie glaube, ich hätte noch einen weit­en Weg vor mir; hier, im Garten, könne ich nun nicht mehr länger bleiben. Sie glaube, ich müsse durch etwas Großes hin­durch, und dies würde einige Zeit in Anspruch nehmen, denn der­ar­tige Schneemen­gen schmölzen nicht an einem Tag. Während sie mich zum Tor begleit­ete, wick­elte sie mir noch einen Schal um den Hals und set­zte mir eine Pelzmütze auf den Kopf; aber bedanken kon­nte ich mich nicht, denn nun stand ich wieder im Schneegestöber und musste darin den Weg zu mein­er Hütte find­en.

Kein Wun­der, dass ich ins Sin­nieren kam!

So mussten sich in der alten Geschichte Adam und Eva gefühlt haben, als Gott sie aus dem Garten Eden wegschick­te, weil sie dem Rat der Schlange gefol­gt waren. Noch im Traum fragte ich mich, welch falsch­er Annahme ich aufge­sessen war, ohne es zu bemerken, und ob es vernün­ftig war, im Garten nach dem Tele­fon zu greifen? Ich begriff, dass ich mit solchen Fra­gen auf gar keinen Fall zu ein­er frucht­baren Erken­nt­nis gelan­gen würde, und hielt es für richtiger, nicht zu vorschnell eine Antwort zu erwarten. Meine Achtung vor den bei­den Fig­uren aus der Geschichte aber wuchs blitzar­tig: Hat­ten sie sich nicht ein Ja für eine über­aus schwierige Aus­gangssi­t­u­a­tion abgerun­gen, waren sie ihren Weg nicht tat­säch­lich gegan­gen? Mein kurz­er Aufen­thalt im Garten musste jeden­falls trotz allem eine Art Nahrung für mich gewe­sen sein, denn als ich im Traum zu mein­er Hütte zurück­kehrte, war die Suppe aus, und ich machte mir nicht das ger­ing­ste daraus…

Zurück in diesem Som­mertag hörte ich zarte Wind­böen in den Kro­nen der Eichen rauschen; der Duft von frischem Heu lag in der Luft. Eine kleine Pen­sion, die aus­sah, als hätte sie hier jemand vergessen, stand am Ufer eines Sees, an dem kein Baden­der zu Gast war; allerd­ings sah ich in dem leicht ver­wilderten Garten eine Frau Hort­en­sien zurechtschnei­den.

Sie erzählte mir, dass hier in früheren Jahren reger Betrieb geherrscht habe; wie aber jed­er wisse, hät­ten sich die Ansprüche der Men­schen drastisch verän­dert, und heute übe wed­er der See noch die Gegend irgendwelche beson­deren Reize auf Reisende aus. Es gebe hier auch kaum noch Gas­tronomie; sie sel­ber bewohne das Haus auch längst nicht mehr, sie bringe es aber nicht übers Herz, es zu verkaufen; hier her fahren könne sie nur, wenn der Gesund­heit­szu­s­tand ihres Mannes, den sie in ihrer Woh­nung in der Stadt pflege, ihre Abwe­sen­heit erlaube. Sie koste dann die Stille des Haus­es sehr aus, und wun­dere sich darüber, dass sie gar nicht trau­rig würde, wenn sie von Gastz­im­mer zu Gastz­im­mer ging, um die Fen­ster zu öff­nen und Luft durch die Räume ziehen zu lassen. Ja, solche Tage wären ihr kleines Fest, es genüge ihr dann vol­lkom­men, nichts weit­er zu hören, als hin und wieder das Nagen der Eich­hörnchen oder den Flügelschlag der Schwäne oder das Knack­en ein­er Leitung im Haus. Früher sei sie sel­ber in den Win­ter­monat­en in der Welt herum gereist, habe sich gesät­tigt an der unge­heuren Lebendigkeit der Großstädte, jet­zt blicke sie auf den einen und andern mit­ge­bracht­en Gegen­stand ganz ohne Wehmut. Zwar sei sie sehr beun­ruhigt über den Lauf der Dinge, über all die besorgnis­er­re­gen­den Entwick­lun­gen, aber jet­zt, wo sie sich der Begren­ztheit ihrer Leben­stage bewusster als früher wäre, lasse sie sich von der Fülle nicht mehr über­wälti­gen, son­dern frage sich eher, worauf es noch ankomme. Der gehäufte Besuch von Ver­ab­schiedun­gen und Beerdi­gun­gen trage seinen Teil zu solch­er Fokussierung bei; und manch­mal denke sie, wenn sie jün­geren Men­schen etwas zu sagen hätte, dann das, dass man nicht früh genug damit anfan­gen könne, das Augen­merk darauf zu richt­en, Wesentlich­es von Unwesentlichem zu unter­schei­den. Plöt­zlich entschuldigte sie sich dafür, mir dies alles ein­fach so gesagt zu haben, und ver­ab­schiedete sich, als würde sie einzig rasches Davonge­hen vor dem Weit­er­sprechen bewahren. Ich wink­te ihr nach, erstaunt darüber, wofür wir Men­schen uns entschuldigen.

Sogle­ich lag der See wieder ganz still vor mir und lud mich ein, ein Bad zu nehmen. Das Wass­er war kalt, rein und dunkel, denn ein großer Teil wurde von einem bewalde­ten Hügel beschat­tet, und beim Schwim­men durch­strömte mich jenes sel­tene Glück, das einen sog­ar jubeln lässt. Und war es nicht wun­der­bar, sich für die Dauer ein­er leisen Stunde von nichts anderem umgeben zu fühlen, als von ein­er Welt, in der ein Haus übrig bleibt für eine noch ausste­hende Gen­er­a­tion an Gästen…? Beina­he wäre ich nach meinem Bad im Schat­ten ein­er Eiche eingeschlafen, ich döste und sah im hal­ben Traum einen Weg vor mir, auf dem mir unbekan­nte Men­schen in Grup­pen Leit­er­wä­gen zogen, auf denen aller­hand Haus­rat ver­sam­melt war, und Klei­der und Spielzeug.

Ich hat­te noch zwei kleine, eben­falls halb ver­lassene Orte zu durch­queren, und der Weg, der mich bis dahin erwartete, führte durch den Wald, ent­lang eines Flusses, dessen Lauf von großen, bemoost­en Steinen durch­brochen und umge­lenkt wurde. Vor mir her flat­terten zwei Zitro­nen­fal­ter, so fröh­lich, dass mir meine Beine von ihrem Anblick leicht wur­den. Ein feier­lich­es Gefühl ergriff mich, wie es häu­fig geschah, wenn ich allein an einem Som­mertag durch einen kaum bekan­nten Wald spazierte, begleit­et nur von zeitweiligem Rascheln im Gebüsch, von Vögeln, deren Stim­men ich nicht aus­re­ichend dif­feren­zieren kon­nte, und dem Wind, dessen Schwung sich damit beg­nügte, Äste und Zweige über­aus zart zu bewe­gen. Ich wusste, dass ich an der Weg­ga­belung den linken Pfad, der den Hügel hin­auf­führte, einzuschla­gen hat­te; er war beina­he zugewach­sen, sodass ich meinen Schritt ver­langsamte, um die Ringel­nat­tern nicht zu irri­tieren, die sich hier gern son­nten.

Auf dem schmalen, ansteigen­den Pfad holten mich Erin­nerun­gen an längst ver­gan­gene Ereignisse ein, die in vie­len Schicht­en über­aus dunkel leuchteten; wie sehr sehnte ich mich danach, sie ganz aus mein­er Hand in eine andere zu geben, die bess­er als ich wusste, wie sie zu ord­nen seien.
Vor eini­gen Jahren hat­te ich in einem Muse­um ein kleines Gemälde betra­chtet, auf dem zwei Gestal­ten eine ansteigende Straße hin­aufgin­gen, und es schien dabei, als wäre der Him­mel über ihnen zugle­ich der Grund unter ihren Füßen, nur fließen­der und sich in allen Far­ben spiegel­nd und brechend. Jet­zt und hier und über mir war er immer noch ungetrübt, und bald wür­den sich die Zin­nen der alten Bur­gru­ine, die da hoch oben über Wald und Fluss blick­te, scharf gegen ihn abheben.

Auch hier­her hat­te sich an diesem Tag nie­mand ander­er verir­rt, sodass ich die alte Mauer, von der aus die Gegend am besten zu über­schauen war, ganz für mich allein hat­te. Ich war müde und sah wieder den tanzen­den Schat­ten zu, die von den Ästen auf die übrig gebliebene Wand geze­ich­net wur­den. So lag ich, unbeschäftigt, einge­bet­tet in eine nur schein­bar abgele­gene Land­schaft, die ihre Üppigkeit so ungeschützt ver­schenk­te. Bald würde mein Weg den Wald ver­lassen und ins freie Feld überge­hen, wo sich Scharen von Son­nen­blu­men aus­bre­it­eten, und Gräs­er mit trans­par­enten Spitzen, die sich gewiss über jeden Zweifel an ihrer Berech­ti­gung, auf so selb­stver­ständliche Weise da zu sein, erhoben. In der Ferne erhaschte ich hin­ter ein­er Hecke aus Weiß­dorn ein paar Gestal­ten, die neben ihren Motor­rädern lagerten. Als ich näherkam, erkan­nte ich, dass es Jugendliche waren, die Musik hörten, raucht­en, wenig sprachen und ihren Blick in die Ferne schweifen ließen. Einen von ihnen hörte ich sagen, dass er alles unter Kon­trolle habe und gewiss nicht süchtig wer­den würde, ein ander­er meinte, es sei wohl schw­er, ein Leben lang von nichts und nie­man­dem abhängig zu sein, er sei nicht sich­er, ob es nüt­zlich wäre, das anzus­treben. Ich grüßte und fragte sie, ob sie einen Weg abseits der Straße ken­nen wür­den, der ins näch­ste Dorf führe. Sie erk­lärten mir, ich solle ein­fach den Feld­weg weit­erge­hen und rechts abzweigen, bevor der wieder in den Wald münde. Von hier dauere es aber noch sehr lange, sich­er eine Stunde; wenn ich hinge­gen ein­fach der Straße fol­gen würde, wäre ich so gut wie gle­ich da. Ich bedank­te mich, froh darüber, nicht allzu lange unter so wenig Schat­ten weit­er zu gehen. Ich griff in meine Hosen­tasche und erin­nerte mich der Namen, die ich hier­her mitgenom­men hat­te. Wie dankbar war ich, dass ich an den Geschicht­en ihrer Träger nicht vor­bei gekom­men war! Oder hat­ten sie mich von sich aus einge­holt, in der Weise ein­er stillen, aber über­aus wirk­samen Begeg­nung, bei der man ahnt, dass hier etwas geschieht, dem man sich nicht entziehen sollte? Ich weiß es nicht; und was tut‘s am Ende zur Sache? Ich ging fröh­lich dem Dorf ent­ge­gen. Es bestand aus weni­gen Höfen, die sich links und rechts der Straße aneinan­der grup­pierten, mit kleinen Vorgärten und manch schö­nen Toren, von denen eines rosarot gestrichen war. Noch bevor ich mich der Haus­num­mer ver­sicherte, wusste ich, dass dies das Haus mein­er Bekan­nten war, die mich vor langer Zeit ein­ge­laden hat­te, sie zu besuchen.

Sie führte mich in den Garten; wir saßen vor ein­er riesi­gen Schaukel und einem Meer an aller­lei hell strahlen­den Blu­men und tranken Wass­er. Sie erzählte mir, dass sie mit­tler­weile sehr gern hier lebe, obwohl die Arbeit an diesem Haus kein Ende nehme, und hier wenige Men­schen lebten, zu denen sie engeren Kon­takt pflege. Sie käme gut mit allen Nach­barn aus, schätze es auch, dass man einan­der auf der Straße wahrnähme und einige Worte wech­sle, aber darüber hin­aus lebe sie hier sehr für sich; eine störende Empfind­ung des Allein­seins stelle sich aber keineswegs ein, zumal sie mit ihren in der Welt ver­streuten Fre­un­den über ver­schiedene Kanäle ver­bun­den sei. Mir, antwortete ich, fehle manch­mal der physis­che Kon­takt zu Men­schen, denen ich mich nahe fühlte, ich hätte allerd­ings oft fest­gestellt, dass die Zeit­en des Man­gels an Aus­tausch und Gespräch dazu führten, dass der Blick nach Innen klar­er würde und so manch­er Nebel, der da aufzus­püren war, sich aufhellte.

Meine Bekan­nte stand auf, um mir in ihrem Ate­lier eine Rei­he von Zeich­nun­gen zu zeigen, an denen sie die let­zten Monate gear­beit­et hat­te... Ich sah zarte Vögel auf Leitun­gen sitzen oder schwere Gewichte heben; ich sah viel weit­en Raum um sie herum, und kuge­lar­tige For­men, an deren Rand sie ihre Füße set­zten, und durch die hin­durch es wie Wass­er zu rieseln schien.

Sie erzählte mir, sie habe Ange­hörige ver­loren, zu denen die Beziehung immer schwierig, aber sehn­suchtsvoll gewe­sen wäre, und Fre­unde, die es ver­mocht­en, sich in der let­zten Zeit ihres Lebens in allen Hand­lun­gen auf das Notwendig­ste und Wichtig­ste zu reduzieren – so, als hät­ten sie, auf uner­wartete Weise, immer schon zwei gut ver­bun­dene Gewichte in sich getra­gen, von denen eines immer hier und das andere immer ander­swo gewe­sen wäre, „drüben“, wie man so unbeküm­mert sagt. Die Vögel wären dann wie von selb­st in den Raum zwis­chen den Gewicht­en geflo­gen… Manch­mal fie­len ihr so viele Dinge ein, die sie ihrem Vater, an dessen Seite sie nicht aufgewach­sen war, gern gesagt hätte; ein­mal sei er hier in diesem Garten gesessen und habe ihr erzählt, was er wann und wie in seinem Leben gemacht hätte; sie sei beein­druckt gewe­sen, gle­ichzeit­ig sei ihr dabei einge­fall­en, wie sehr sie ihn dann und wann gebraucht hätte; einen Augen­blick lang sei sie nahe daran gewe­sen, ihn mit diesem Ver­säum­nis zu kon­fron­tieren, im näch­sten aber habe sie gedacht, „wer bin ich, dir jet­zt Vor­würfe zu machen?“ Und so habe sie es dabei belassen. Ich antwortete, dass ich drei Jahre nach dem Tod meines Vaters auf ein­mal das Bedürf­nis ver­spürte, einen Weg zu gehen, von dem ich wusste, dass er ihn häu­fig gegan­gen war, allein. Ich hätte mich ins Auto geset­zt und wäre an den Ort gefahren; die ganze Zeit über wäre ich auf dem Weg nie­man­dem begeg­net, sodass ich mir unge­hin­dert alles zuflüstern kon­nte, von dem ich dachte, dass mein Vater es mir jet­zt und hier gerne sagen würde. Ich hat­te tat­säch­lich die ganze Zeit über das Gefühl, dass er an mein­er Seite war.

Eine Weile war es ganz still; dann holten wir die Suppe aus der Küche und set­zten uns zurück in den Garten. Der Him­mel würde an diesem Tag bis in die Nacht hinein ungetrübt bleiben, kein Grund also, sich ihrer Wärme zu entziehen.