Stimmen, Schnitte, Gegend

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Welche Spuren in Form von Ein­flüssen und Notwendigkeit­en aus ver­wandten Kün­sten, aus der Pop­ulärkul­tur, aus frem­den Leben find­en sich in einem Werk? Die Suche nach den eige­nen, selb­st gepflanzten Wurzeln ist auch ein Nach­spüren und Nachge­hen, wie die (eigene) Sprache zirkuliert und was sie zum Klin­gen brin­gen kann.

1. Raw like Sushi
Das Kind, das die Autorin ein­mal war, ist so sehr geprägt von der volk­stüm­lichen Musik und den Schlagern aus dem Radio oder den Zelt­festen in der Gegend, dass es Jahrzehnte später noch zwang­haft mitsin­gen muss, wird irgend­wo so ein Ever­green ange­spielt, ähn­lich arg ist es anson­sten nur mit Kirchen­liedern. Schließlich kom­men die pop­ulären Songs der Hit­pa­rade und das auf bil­lige Musikkas­set­ten kopierte Gesamtwerk von Ambros, Gröne­mey­er und Kon­stan­tin Weck­er hinzu.
Im Eltern­haus gibt es eben­so wenig Schallplat­ten wie Büch­er, also keine. Aber als sich ein­er der älteren Brüder (endlich!) eine Kom­pak­tan­lage mit Plat­ten­spiel­er besorgt, bekommt die 16-Jährige ihre erste LP geschenkt. Suzanne Vegas Soli­tude Stand­ing mit Tom’s Din­er und Luka eröffnet der Ein­ser­schü­lerin (allerd­ings nur in Deutsch und Musik) zum ersten Mal eine neue, andere Welt, wie man Geschicht­en erzählen kann: In einem Din­er, naja, Kaf­fee­haus sitzen und ein­fach auf­schreiben, was da alles ist, in der Öffentlichkeit solitär sein oder zumin­d­est allein unter anderen, das lässt die eigene Exis­tenz im Café Belvedere in der Graz­er Innen­stadt, in dem die Schulschwänz­erin­nen ihre Vor­mit­tage ver­brin­gen, in einem neuen Licht erscheinen. Aus der Per­spek­tive eines mis­shan­del­ten Kindes sprechen.
Frischmuth, Frisch und Inner­hofer im Deutschunter­richt, Pat­ti Smith, Joni Mitchell und Suzanne Vega aus den Box­en, später PJ Har­vey, Fiona Apple, Roisin Mur­phy.
Das alles gab es schon in der Lit­er­atur, in der Bilden­den Kun­st, im Film und die Schü­lerin erar­beit­et sich recht viel davon, so gut es halt geht ohne famil­iäre Vor­bil­dung oder bürg­er­liche Her­an­führung, aber in der Musik, im Pop ist alles direkt zu haben, zu erleben, zu sein.
Es ist nicht nur die Art, wie diese Texte gebaut sind, direkt und beiläu­fig zugle­ich, frag­men­tarisch, es ist vor allem die Stimme der Singer-Song­wri­terin, die die Hörerin direkt erwis­cht, logis­ches Phänomen, in Sprache, Musik, Gesang.
Die Stimme mis­cht Sinnlich­es und Sinn, ist Materie und Geist, ist immer physisch und psy­chisch zugle­ich, demon­stri­ert Macht und offen­bart Ohn­macht, die Sprache ist an den Kör­p­er gebun­den, ohne diesen ist kein sprach­lich­er Aus­druck denkbar.
Roland Barthes spricht vom „Korn der Stimme“, wenn die Sprache (natür­lich auch von franzö­sisch Zunge) mit der Stimme zusam­men­trifft. In einem Inter­view sagt er: „Die Stimme ist wirk­lich der Ort des Kör­pers, der zugle­ich am meis­ten begehrenswert und am sterblich­sten ist, gewis­ser­maßen am herzzer­reißend­sten (…) Die Rauheit der Stimme ist in der Ver­führung, eben ger­ade in der Abwe­sen­heit des unbekan­nten Kör­pers, der unter­halb der Stimme ist und der auf eine geheimnisvolle Weise in die Stimme überge­ht.“ Barthes‘ Rauheit wird mit­tler­weile mit Kör­nung über­set­zt. In der Kör­nung der Stimme kann jen­er emo­tionale Zus­tand herausgelesen/gehört wer­den, den Barthes als Hal­tung aufge­fasst hat.
Als die junge Schü­lerin kurz nach Suzanne Vega auf die isländis­che Punk- oder Post­punkband Sug­ar­cubes trifft, kommt zur bloßen Möglichkeit des Geschicht­en­erzäh­lens noch die erstaunliche Erken­nt­nis hinzu, dass sie selb­st etwas schaffen/schöpfen kön­nte – ver­mit­telt durch die Stimme Björks und vielmehr noch jene von Neneh Cher­ry auf Raw like Sushi: außer sich sein, schreien, alles her­auss­chreien, sich, und, als wäre man für die Momente des Hörens oder Tanzens sel­ber Punk, Anar­cho, Under­ground, obwohl in Graz oder Salzburg … naja … Die Tur­bu­len­zen in Björks Stimme vere­inen Schmerz, Kum­mer und das schöne Leben, stellen alles in Frage. Zur Leg­ende gehört, dass sich die Sug­ar­cubes an dem Tag grün­de­ten, an dem Björk ihren Sohn zur Welt brachte. Neneh Cher­ry, die irgendw­er auch ein­mal Joni Mitchell of HipHop nan­nte, mis­cht ver­schiedene Stile, Stim­mungen, macht alles, wie sie will, nimmt sich vom Alten, was sie braucht, zitiert, aber es ist auch klar, dass die Ver­gan­gen­heit als solche abzulehnen ist, damit wirk­lich etwas Neues entste­hen kann. Pri­vat und poli­tisch schließen sich nicht aus, müssen sich aber auch nicht die Waage hal­ten. Neneh Cher­ry per­formt immer wieder hochschwanger, in den Videos taucht dann ein Säugling an ihrer Schul­ter auf, was sie nicht weniger attrak­tiv, sexy und selb­st­be­wusst erscheinen lässt. Es ist selb­stver­ständlich ihr Kör­p­er.
Hell, kalt und scharf ist diese Stimme.
Schrill und sou­verän.
Rau. Wirk­lich grobes Korn in aller Hel­ligkeit.
Heute seien die weib­lichen Stim­men laut ein­er Studie aus dem Jahr 2017 und im Ver­gle­ich zu zwanzig Jahren zuvor tiefer – weil die Frauen sich emanzip­iert hät­ten, aber das ist nur eine Ver­sion, die die „aus dem Kör­p­er gekippten Stim­men“, wie Ines Geipel es nen­nt, die Piepsstim­men in den Kinder­se­rien, auf Insta­gram und den unzäh­li­gen Youtube-Chan­nels ausklam­mert.
Die Schreie Neneh Cher­rys oder Björks kon­nten Geburtss­chreie, schöpferisch­er Akt, Wut, Liebe, Poe­sie und Poli­tik zugle­ich sein, alles mögliche, was an Unzeit­gemäßem in der Stimme mitschwingt, sie entziehen sich der Bew­er­tung, der Behand­lung, der Einord­nung.
Ohne sie und die weib­lichen Pop-Stim­men der 80er-Jahre wäre aus ein­er wie mir wohl nie eine Schreibende gewor­den. Kör­nung, Rauheit und Tur­bu­len­zen sind der Kör­p­er in der sin­gen­den Stimme und in mein­er schreiben­den Hand.

2. Godard-Prinzip
„Aber es gibt keine indi­vidu­ellen Lösun­gen, weißt du? Man lernt, indem man kämpft. Du akzep­tierst Dinge zu schnell.
Es ist mein Recht, mit Frauen Prob­leme zu haben.
Frauen, Geld: Es ist eigentlich ganz ein­fach. (Pfeifen von Paul, eben­so laut wie Robert, der weit­er spricht.) Es ist wie eine Bewe­gung – eine kon­tinuier­liche Rebel­lion. Ich kann Dinge nicht wie du akzep­tieren. Deshalb bin ich Aktivist.
Ich bewun­dere dich dafür.
Dann mach mit.
Ich denke darüber nach. Was liest du?
Einen Artikel über Bob Dylan“
Ein Auss­chnitt aus einem Film­di­a­log aus Mas­culin – Fem­i­nin oder: Die Kinder von Marx und Coca-Cola von Jean-Luc Godard aus dem Jahr 1966: Indi­vidu­um und Gesellschaft, Frauen, Aktivis­mus, Rebel­lion, ein Artikel über Bob Dylan. Vieles wird direkt miteinan­der in Beziehung gebracht oder zumin­d­est nebeneinan­der gestellt, die Wen­dun­gen sind wie in den meis­ten Fil­men Godards nicht über­raschend, son­dern unvorherge­se­hen. Und alles hängt mit allem zusam­men.
Zum ersten Mal gese­hen habe ich den Film rund zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen, wahrschein­lich in den Kun­st­stück­en auf FS 2, der ORF-Kul­tursendung, Orig­i­nal mit Unter­ti­tel, spät­nachts und manch­mal heim­lich, was allein schon eine gewisse Magie hat­te und die große Kinolein­wand zwar nicht erset­zen, aber doch etwas kom­pen­sieren kon­nte.
Godards Film adap­tiert zwei Erzäh­lun­gen von Guy du Mau­pas­sant zu ein­er losen, filmis­chen Hand­lung, die Geschichte von Paul, Robert, Madeleine und ihren Fre­undin­nen wird frag­men­tarisch erzählt, sehr undrama­tisch, es wird nicht in Haupt­fig­uren- und Neben­hand­lun­gen und -schau­plätze unter­schieden. Und doch wird erzählt.
Details und was am Rand des Bil­dauss­chnitts passiert, Wider­sprüch­lichkeit­en und erzäh­lerische Vielfalt vor allem, aber nicht nur auf der Ebene der Mon­tage. (Die deutsche Regis­seurin Angela Schan­elec treibt diese „Ran­der­schei­n­un­gen“ fün­fzig Jahre später weit­er, scheut sich auch nicht davor, dass zum Beispiel Verkehrslärm die Dialoge beina­he übertönt.)
Vielle­icht einem Apho­ris­mus Kafkas nicht unähn­lich: „Sich als etwas Fremdes ansehn/Den Anblick vergessen/Den Gewinn behal­ten“ schneidet/montiert Godard aneinan­der, was nicht zusam­menge­hört.
Während die lin­eare Erzäh­lung, jene, die im Fluss bleibt, und im Film die kon­ven­tionelle Mon­tage, welche das Raum-Zeit-Kon­tin­u­um erhält, die größere Illu­sion erzeu­gen, ermöglicht ein Film aus lauter Einzel­bildern oder ein­er, in dem „eins nicht zum anderen passt“ (Godard) die Möglichkeit, die Leer­stellen im Kopf mit eige­nen Bildern zu füllen. Dafür ver­ant­wortlich ist das Dazwis­chen, das im Unver­bun­de­nen entste­ht, und ein Kino (eine Erzäh­lung, ein The­ma) im Kopf ermöglicht, das dem Prozess der Erin­nerung ver­gle­ich­bar ist. Nicht alles erk­lärt, beant­wortet. Raum und Zeit als absolute Kat­e­gorien wer­den aufgewe­icht, kein sim­pler Real­is­mus mehr, Poe­sie statt oder mit Hand­lung – Amos Vogel nen­nt das in seinem Buch über Avant­garde­film die „Sub­ver­sion des Inhalts“.
Filmis­che Sequen­zen, ver­mehrter Gebrauch von Mon­tage und Schnitt, Kam­er­a­zoom und Focus usw.: Um etwas zu beschreiben, das ich in der Lit­er­atur ver­suche, mögen der­lei Vok­ab­u­lar und Ver­gle­iche brauch­bar sein. Aber Texte sind Texte und keine Filme, es gibt keine bewegten Bilder, es gibt keine Kam­er­aauf­nah­men, Kam­er­afahrten in Tex­ten, am ehesten noch (aber natür­lich auch nicht) gibt es Stills, abfo­tografierte Momen­tauf­nah­men wie im Film. Hil­f­s­mit­tel, die etwas über die Nähe und Dis­tanz der Erzäh­lerin zu ihren Fig­uren aus­sagen, über stufen­lose Per­spek­tivwech­sel, vielle­icht auch über die Beweglichkeit und Anschaulichkeit des Be- und Geschriebe­nen. Nicht nur, um das, was mich zum Sprechen und v.a. Schreiben bringt, mit zu benen­nen, zitiere ich Bewegt­bilder in mein­er Lit­er­atur. Die ver­schiede­nen Möglichkeit­en und v.a. natür­lich Unmöglichkeit­en der unter­schiedlichen Medi­en sind mir dabei sehr wohl bewusst. Das Nebeneinan­der der Dinge, die Wahrnehmung in Frag­menten und auch simul­tanes, mul­ti­per­spek­tives Wahrnehmen statt lin­ear­er Wahrnehmung kann wohl auch in der Lit­er­atur aufge­fun­den wer­den, in der Lyrik, im lit­er­arischen Essay, in ein­er Prosa, die heute kaum noch ver­legt wird.
Mit Amos Vogel (und Kra­cauer, Kluge u.a.) würde ich Film als „vielle­icht ein­flussre­ich­ste Kun­st des [20.] Jahrhun­derts“ beze­ich­nen. Film mit der ihm inhärenten Bewe­gung ist auf eine Zukun­ft hin aus­gerichtet, das kann Lit­er­atur so nicht.
Der Essay­filmer Harun Faroc­ki stellte fest, dass es „heute immer noch schwierig [ist], dem gerecht zu wer­den, so über­raschend-komisch operiert Godard gegen alle Regeln“ – in diesem Fall spricht er über Le Mepris/Die Ver­ach­tung, gemeint ist aber natür­lich der ganze, auch der the­o­retis­che Godard mit seinen Filmgeschicht­en, sein­er Filmgeschichte. Dass Godard nicht poli­tis­che Filme machen wollte, son­dern poli­tisch fil­men, ist ja schon fast ein Spruch fürs Stamm­buch von uns Kün­st­lerin­nen. Die Gegenüber­stel­lung von Bildern, zeitliche Koinzi­den­zen, unbes­timmte – offene – und doch gemein­same Bezüge per­sön­lich­er, gesellschaftlich­er Momente und Ideen, Mod­elle statt Abbilder, nicht ein endgültiges Bild, son­dern die Bewe­gung des Dargestell­ten, der Erzäh­lung, die zur Reflex­ion wird, Find­en statt Erfind­en und vor allem, die Regeln brechen, nicht zulet­zt die eige­nen: Ich kann Godard natür­lich noch weniger gerecht wer­den wie Faroc­ki, noch Lit­er­atur schreiben wie Schan­elec heute Filme macht, aber Godard immer wieder anse­hen, vergessen und neu schreiben und vor allem – sich selb­st über­raschen, oder, um noch ein­mal Kaf­ka und Godard zu zitieren:
„Dreier­lei:
Sich als etwas Fremdes ansehn
Den Anblick vergessen
Den Gewinn behal­ten
Oder nur zweier­lei, denn das Dritte schließt das Zweite ein“.
Und dies: „Ich bewun­dere dich dafür./ Dann mach mit./ Ich denke darüber nach. Was liest du?“

3. Land­schaften, Verkör­pe­run­gen
Man stellte eine Lit­er­aturzeitschrift zusam­men, las auf Vernissagen in neuen Gale­rien, von denen einige auch blieben, und wenn man die war, die halb­wegs gut organ­isieren kon­nte, wurde man zur Pro­duzentin eines Kurz­films für einen befre­un­de­ten Regis­seur. Weil ich die Texte von Her­ta Müller ver­ste­hen und bess­er ken­nen­ler­nen wollte, über­legte ich mir, Pas­sagen daraus in ein­er szenis­chen Lesung auf die Bühne zu brin­gen, im The­a­ter­dock, damals noch in der Lehrter Straße war das, aber einige andere Orte im Berlin der 90er Jahre wären dafür eben­so in Frage gekom­men. Es war fast noch die analoge Zeit, ich bat die Autorin per E-Mail um Erlaub­nis, ob der Ver­lag involviert war, weiß ich nicht mehr.
Wie gesagt, alle macht­en ver­schiedene Sachen, organ­isierten Pro­jek­te miteinan­der, allein, mit Fre­undin­nen und neuen Bekan­nten, und wenn es der Prozess der Aneig­nung und Verkör­pe­rung, der Auseinan­der­set­zung mit der eige­nen (lit­er­arischen) Her- und Hinkun­ft war, die man mit ein­er über­schaubaren, aber inter­essierten Öffentlichkeit teilen wollte.
Her­ta Müller hat die Niederun­gen, ihr erstes Buch (1984 in West­deutsch­land erschienen) nicht geschrieben, weil sie Schrift­stel­lerin wer­den wollte, son­dern um sich aus der krassen Ein­samkeit im Zusam­men­hang mit der Ver­fol­gung und Ver­leum­dung durch den rumänis­chen Geheim­di­enst her­auszuschreiben und sich der eige­nen Kind­heit in einem bäuer­lichen biederen Dorf im Banat zu vergewis­sern, sich ihrer selb­st klar zu wer­den. Ihr Schreiben kam aus dem Schweigen in der poli­tis­chen Ver­fol­gung, aber auch aus dem kaum miteinan­der Reden im bäuer­lichen famil­iären Milieu. Der Tod des Vaters eröffnet die titel­gebende läng­ste Erzäh­lung, abschließend fällt die Erzäh­lerin in ein Tin­ten­fass. Die weißen Gum­mi­warzen am Strumpfhal­ter und Chrysan­the­men, mitunter „eingerollt am Gesicht der Mut­ter“, die waren in mein­er Kind­heit ähn­lich vorhan­den wie in Müllers früher Prosa (und dann eben auch in mein­er eige­nen, was ich beim Schreiben nicht bedachte, erst später wieder fiel es mir auf).
Sprache muss unver­braucht und neu sein, will sie sich rel­e­vant äußern zur Welt, in der sie her­vorge­bracht wird, will sie poli­tisch sein (auch wenn es für Müller keine poli­tis­che, son­dern nur eine indi­vidu­elle Form gibt). Die Erzäh­lerin schält sich aus dem Deutschen her­aus, aber ins Rumänis­che nicht voll­ständig hinein. Im Dialekt heißt es: „Der Wind geht“, im Hochdeutschen „Der Wind weht“ – etwas tut sich weh – und schließlich „Der Wind schlägt“ im Rumänis­chen, tut anderen weh. Wenn sich der Wind dann gelegt hat, also „ste­hen geblieben“ ist, ist das eine Ver­schiebung wie, aber auch jen­seits von Metonymisierung und Meta­phern, ein Umbruch ins Neue, das Grausames, Groteskes aus Kind­heit und Katas­tro­phe des Aufwach­sens ver­störend, aufwiegel­nd erzählt. Agla­ja Vet­er­anyi, die zweite große in Rumänien geborene und auf Deutsch schreibende Schrift­stel­lerin dieser Gen­er­a­tion wäre da vielle­icht auch noch zu nen­nen.
Neben den Frauen­fig­uren in den Fam­i­lien und dem Nebeneinan­der der einzel­nen Gen­er­a­tio­nen in diesem mir frem­den Land und Sys­tem inter­essierte mich sehr die Wahrnehmung in den Prosa­tex­ten. Mich inter­essierte der dop­pelte Wahrnehmungsvor­gang, bei dem sich der Blick in die Außen­welt mit den Blick­en ins Innere ver­mis­cht; die Wirk­lichkeit­saneig­nung, die weit über die Auf­nahme von Fak­ten hin­aus­ge­ht; jene erken­nende Wahrnehmung in Sprich­worten wie jen­em der Groß­mut­ter: „Der Teufel sitzt im Spiegel“, das ist für die Umge­bung eine Gefahr und für die, die sich selb­st ansieht, sowieso; wie die Wahrnehmung sprach­lich so nahe an ihr Objekt, an die Kör­p­er, Gefüh­le, her­ankommt, bis alles in seine Einzel­teile zer­fällt und dann neu und anders wieder zusam­menge­set­zt wird.
Vielle­icht kann man von einem prothe­sen­haften Schreiben sprechen – und irgend­wie ste­ht diese die Kör­perteile auseinan­dernehmende Lit­er­atur, in dem die Zähne nicht aufeinan­der passen, Glied­maßen in der Nähe des dazuge­hören­den Kör­pers herum­liegen, ein Akko­rdeon für die Arme und Beine der Män­ner und Frauen den drück­enden Tan­go spielt, irgend­wie ste­ht diese Prosa Müllers auch invers und wort­bildlich zu dem, was sie, die Nobel­preisträgerin von 2009, seit langem haupt­säch­lich macht, näm­lich lyrische Col­la­gen aus aus­geschnit­te­nen Wörtern und Buch­staben.
„Das Dorf ste­ht wie eine Kiste in der Land­schaft.“, heißt es ein­mal. Das Dorf der Kind­heit ist eine Kulisse, die Protagonist*innen sind schweigende, trink­ende, immerzu weinende frag­men­tierte Verkör­pe­run­gen von Ein­schrei­bun­gen und Zumu­tun­gen. Es ist ger­adezu synäs­thetisch, wie die Land­schaft und ihre Geschichte in die Bewohn­er überge­ht, wie die Gren­zen zwis­chen Umge­bung, Wet­ter, Men­sch und Inven­tar niederg­eris­sen wer­den. Die Baumkro­nen sind Röcke, der Hof kam die Nacht bein­hal­ten (voller Nacht sein), die Nacht hat keine Jahreszeit (weil man sie nicht sieht). Land­schaft, Herkun­ft, Fam­i­lien­trau­ma und das drück­ende Schweigen sind dem Kind eingeschrieben, es wird selb­st Teil dieser Niederun­gen. „Die Vögel waren aus­gezehrt und blieben schreiend in der Luft. Der Hunger flat­terte.“ Aber es ist eine kubis­tis­che Synäs­the­sie, keine roman­tis­che, deren Mehrsprachigkeit und Mehrspar­tigkeit auch das totale Ver­schweigen enthält.
Ich gab der szenis­chen Lesung den Titel „Über den Riss in der Land­schaft“, pro­jizierte S/W-Bilder rumänis­ch­er Dorffeste aus den 80er-Jahren an die hin­tere Büh­nen­wand und ließ während der Lesung ein Mäd­chen mit einem Fahrrad davor herum­fahren. In dem Kuvert, in dem ich die Kopier­vor­lage für das Poster der Ankündi­gung auf­be­wahrte (so viel war noch ana­log!), fand sich außer­dem ein Pro­gram­mzettel vom Prater der Volks­bühne zu einem „chore­o­graphis­chen The­ater“ mit dem Titel „Sylvia Plath“ von Johann Kres­nik, das ich wohl unge­fähr zur sel­ben Zeit besucht haben dürfte. Natür­lich war ich nicht allein beim Kom­binieren und Ver­wursten der ver­schiede­nen kün­st­lerischen Gen­res. Natür­lich sprechen die Texte für sich selb­st – und wie! –, aber beim Begreifen, vielle­icht sog­ar Ver­ste­hen, hat mir, der Lesenden, Vor­lesenden, Insze­nieren­den geholfen, wenn schon nicht alles, so doch möglichst viel zusam­men­zubrin­gen – und die rezep­tive Anwe­sen­heit eines Pub­likums sorgte für zusät­zlichen Erken­nt­nis­gewinn.

4. Moos/Clouds (Exkurs und vor­läu­figer Schluss)
Moose zählen wie Farne und Flecht­en zu den ältesten leben­den Pflanzen der Erde. Sie sind blüten­lose Sporenpflanzen, die sich durch Gen­er­a­tionswech­sel fortpflanzen, was bedeutet, dass sich die geschlechtliche und ungeschlechtliche Fortpflanzung von Gen­er­a­tion zu Gen­er­a­tion abwech­selt. Wass­er kön­nen sie nur durch die Luft oder durch Nieder­schläge aufnehmen. Moose kön­nen sehr alt wer­den.
Nicht nur einem Foto lässt sich nichts hinzufü­gen, weil es rand­voll sei, so Roland Barthes in der Hellen Kam­mer; alle Autoren, zitiert er Sartre, wür­den darin übere­in­stim­men, dass die Bilder, die die Lek­türe eines Romans begleit­en, arm­selig seien: „Bin ich von einem Roman in Bann geschla­gen, entste­ht kein Bild in mir. Dem BILD-MINIMUM der Lek­türe entspricht das BILD-MAXIMUM des Fotos; nicht nur, weil es bere­its ein Bild in sich ist, son­dern weil dieses ganz spezielle Bild sich als voll­ständi­ges aus­gibt …“
Lange Zeit war es so: alle paar Jahre ein neues Autor*innenfoto, zum neuen Buch etwa. Aus dem Punk­tum, der Nach­bil­dung bedeut­samer Momente, ist längst die Punk­t­wolke gewor­den, die sug­geriert, dass jed­er Raum, jed­er Ort mess­bar und darstell­bar und an einem unbekan­nten Ort spe­icherbar ist. Die Autorin sollte zu Werbe- und Mar­ket­ing­grün­den ihre Social-Media-Accounts pfle­gen, am wirk­sam­sten sind Self­ies. Ich bin per­ma­nent viele, das wis­sen wir schon lange. In der dig­i­tal­en Ver­w­er­tung des Selb­st­por­traits (Self­ies) bin ich nicht nur immer und vielfach ein ander­er, ich bew­erte und werte, ich bin per­ma­nente Augen­zeu­g­in, ich gebe vorgegebe­nen Such­be­fehlen nach und schaue und schaue, folge Spuren von Ver­let­zung, Ver­höh­nung, Selb­st­darstel­lung und Spek­takel, set­ze der Bilder­flut eigene, immer neue Bilder ent­ge­gen. Die per­ma­nente Vergewis­serung, hier zu sein und gle­ichzeit­ig da. Im Netz und an einem herzeig­baren Ort. Als funk­tion­ierende Iden­tität nur exis­tent in der Bestä­ti­gung ander­er (aller ander­er, möglichst viel­er). Zugle­ich ist nicht ein Über­schreiben oder Aus­löschen, wie man es vielle­icht für eine ver­gan­gene Bilder­folge ver­muten kön­nte, im Gange, son­dern das Ver­wis­chen von Gese­hen­em (und Geschehen­em?). Bilder haben sich in uns einge­bran­nt und ver­schwinden, als hät­ten sie gar nie existiert. Die Leere ist ein Ort in unser­er Wahrnehmung. An Unter­schei­dun­gen und Zusam­men­hän­gen von Moos, Flecht­en und Clouds wird noch zu arbeit­en sein, an Tex­ten ohne die Zugabe von Hash­tags umso mehr.