Kugelsicher

Von

“And I feel my fin­ger on your trig­ger”
The Bea­t­les, Hap­pi­ness Is a Warm Gun

Die neulich nur am Rande mit­ge­hörte Geschichte: Ein Men­sch, wahrschein­lich ein Dichter, sei durch ein in der Brust­tasche sein­er Jacke ver­wahrtes Notizbuch dem Tod durch Erschießen entron­nen. Die Kugel, das muss man sich vorstellen, sei in seinem Notizbuch buch­stäblich steck­enge­blieben. Wer hat sie abge­feuert? Und, vor allem, warum? Lei­der blieb das offen. Also erzäh­le ich die andere Geschichte vom Schießen, gerne eben­falls eine mit uner­wartetem Aus­gang. Stellen Sie sich vor: einen Linksaußen­spiel­er bei ein­er­lei welchem Match. Der dribbelt lock­er dahin, stößt in den Strafraum vor, gewiss in den geg­ner­ischen, doch als die eige­nen Fans in Erwartung des Tre­f­fers von ihren Sitz­plätzen sprin­gen, dreht er unver­hofft ab, läuft ent­ge­genge­set­zt, um den Ball see­len­ruhig ins eigene Tor zu kick­en, die Arme hochzureißen, sich auf die Knie fall­en zu lassen und unter dem Beifall der Geg­n­er sein Spiel­er­trikot zu küssen. Es kön­nte so weit­erge­hen: Er dreht eine Tor­jubel­runde, die schein­baren Gegen­spiel­er aus­nahm­s­los abzuk­latschen. Dann ste­ht er plöt­zlich still und ver­har­rt stun­den­lang in Balotel­li-Pose. Und da, allerd­ings ver­hal­ten, begin­nen selb­st die Fans auf den eige­nen Rän­gen für den Heroen zu klatschen.

Sie sehen: alles ist möglich. Im Schreiben immer­hin. Wenig­stens hypo­thetisch. Die Prax­is ist kom­pliziert­er. Denn der Schreiber soll neben dem Werk beste­hen, wird also darauf bedacht sein, Erwartun­gen zu entsprechen, auch wenn er dabei so tut, als han­dle er eigensin­nig. Er pocht auf die Frei­heit der Kun­st, aber er bleibt befan­gen, ver­sklavt an Mark­t­mech­a­nis­men, der Fange­meinde verpflichtet, Fre­un­den oder Ver­wandten oder dem Moral­is­mus sein­er sozialen Blase (wie ich den Aus­druck has­se!), den er entwed­er ernst nimmt oder mit Unernst bemän­telt, um nicht als Stre­ber zu gel­ten. Er soll nicht Charak­ter­schwein sein, noch gegen das Regel­w­erk seines Betriebs ver­stoßen. Man fragt nach sein­er Gesin­nung, nach beson­deren Merk­malen in seinem Lebenslauf, beson­ders nach sein­er Herkun­ft – auf die „Betrof­fen­heit“ komme ich später zu sprechen. Sprachäs­thetis­che Fra­gen wer­den kaum noch ver­han­delt in Zeit­en der Regres­sion, die nicht Ver­jün­gung anzeigt, son­dern das Kern­symp­tom kollek­tiv­er Ver­greisung. Sie trifft alle Alters­grup­pen und sozialen Schicht­en – mitunter auch Beruf­sleser – und geht mit dem Hang ein­her, sich am Vul­gären zu ergötzen, auch mit der Bil­li­gung bil­liger Lauterkeit: Senil­ität sucht Ver­flachung. Um sich und anderen aber das eigene Unver­mö­gen nicht eingeste­hen zu müssen, erhebt man die Not zur Tugend, tut ger­adezu, als sei die Flach­heit das Größte und Flap­sigkeit rich­tung­weisend. Ein Hoch auf die ein­fache Sprache! Als Zeichen der Dis­tin­guiertheit sollte es wohl reichen, sich von Zeit zu Zeit auch solchen zuzuwen­den, die als anspruchsvoll gel­ten, deren Mark­twert aber nicht zwin­gend auf Ästhetik beruht, son­dern auf See­le­nadel.
Zum besseren Ver­ständ­nis sollen andere reden. Sagen wir Jadon und Eden.

Eden: „Es reicht für gewöhn­lich, ein biss­chen Kri­tik zu üben an Poli­tik und Gesellschaft, als kri­tis­ch­er Geist zu gel­ten. Schon gibt es Treuepunk­te von den eige­nen Leuten.“
Jadon (fällt ihm ins Wort): „Merke: Jede Grup­pierung hält sich selb­st für die beste. Ist sie selb­st nicht betrof­fen von einem gröberen Unrecht, gibt sie sich eben berührt vom Unrecht an ein­er anderen, die sie für würdig befind­et, es etwas bess­er zu haben.“
Eden: „Wer selb­st einen Hin­ter­grund hat, kriegt einen Back­ground­bonus, wem aber kein­er vergön­nt ist, dem bleibt nur die gute Gesin­nung, also, wie du schon mein­test, die Betrof­fen­heit vom Ver­häng­nis der andern. Betrof­fen­heit ist heute wahrschein­lich die härteste Währung, der Schlüs­sel zur Wel­ter­schließung. Der Iden­tität­shypochon­der kriegt sie pas­siv verord­net, als erschwinglich­es Zäpfchen.“
Jadon: „In dieser Dar­re­ichungs­form kann er sie sich schmer­z­los …“
Eden: „Sprich es ruhig aus, mein Fre­und …“
Jadon: „… Na, in den Hin­tern steck­en.“
Eden: „Ganz im Sinn …“
Jadon: „… Peter Hand­kes?“
Eden: „Das Iden­titäts­dilem­ma macht es zum größten Makel, als priv­i­legiert zu gel­ten, also schon qua Herkun­ft vom gün­sti­gen Schick­sal ver­we­ich­licht. Ein­er der größten Trümpfe ist näm­lich der Opfer­sta­tus.“
Jadon: „… Sobald sich der Spieß ein­mal dreht.“
Eden: „Denkst du jet­zt wie ich an alte weiße Män­ner?“
Jadon: „Ver­giss es, es würde nichts nützen, für solche einzuste­hen, solang sie als Feind­bild gel­ten.“
Eden: „Und wenn ein­er von Geburt an Armut und Hunger lei­det?“
Jadon: „Ste­ht er im Vormerk­buch der Betrof­fen­heit­slob­by trotz­dem unter fern­er liefen.“
Eden: „Es lehnt sich nur mehr aus dem Fen­ster, wer darauf rech­nen kann, dass die eige­nen Leute schon mit dem Sprung­tuch warten.“
Jadon: „Trotz­dem lässt er sich feiern für seine Zivil­courage, wenn er hoheitsvoll in Human­is­ten-Pose Hal­tun­gen deklamiert, die ihn ins Wanken brin­gen, sobald man von ihm fordert, den Blick auf jene zu lenken, auf die er gewöhn­lich her­ab­sieht, weil sie es bess­er haben oder, schlim­mer, noch schlechter.“
Eden: „Seine chro­nis­che Wut ist seine größte Schwäche: Sie hin­dert ihn, zu vergeben.“
(Bei­de Her­ren treten ab von der gedacht­en Bühne).

Sie sehen, Jadon und Eden sind sich weit­ge­hend einig. Kom­men wir also zur Frage, ob es sich denn gehört, von Schrift­stellern mehr zu erwarten als dass sie gefäl­ligst schreiben. Soll man sie weit­er­hin loben, wenn sie deklamieren, was die, deren Brot sie essen, gemein­hin für richtig hal­ten – mit dem Unter­schied, dass sie die Worte find­en für das, was die anderen ver­muten? Und wer verteilt am Ende die Hal­tungsnoten und Preise für schein­bare Größe im Denken?
Schreiber sind auch nur Men­schen. Die wir als mutig bejubeln, sind oft Para­noik­er mit kugel­sicher­er Weste. Nichts ist heute leicht als sich zum Dis­si­den­ten in eigen­er Sache zu machen im Glauben­skrieg um ein Wis­sen, das doch nur Mei­n­ung bleibt, die man moralisch auflädt: die Ansicht des Geg­n­ers gilt vie­len nicht bloß als falsch, son­dern als ver­w­er­flich! Gerät man zwis­chen die Fron­ten, bleibt noch die Selb­stzen­sur zwis­chen Schweige­s­pi­rale und kru­dem Agen­da Set­ting.
Doch ist es nicht auch verdächtig, ohne Mei­n­ung zu sein und das auch zuzugeben? Oder eine Sache unschlüs­sig zu betra­cht­en, anstatt nur Licht zu sehen oder eben nur Schat­ten? Nehmen wir etwa das Gen­dern. Ist es emanzi­pa­torisch, wie die Für­sprech­er sagen, oder wieder bloß ein Regres­sion­ssymp­tom im oben beschriebe­nen Sinn – Zwangs­sex­u­al­isierung, Iden­tität­szuschrei­bung, allen­falls ver­dachts­geleit­et? Wer gibt einem das Recht, die weib­liche Form zu gebrauchen, nur weil man einen Men­schen auf­grund von Erken­nungsze­ichen, die ihrer­seits frag­würdig bleiben, auf das Geschlechtliche fes­tlegt? Und gibt es nur zwei Geschlechter im Denken der Gen­derg­erecht­en? Und soll man zum Beispiel als Schreiber in Zukun­ft preis­geben müssen, welchem Geschlecht ein Gedicht gilt, anstatt es der Fan­tasie der Leser zu über­lassen? Die Gefahr fürs Gute birgt oft das Gut­ge­meinte. Trig­ger­war­nun­gen sind nur ein weit­eres Beispiel. Mag sein, dass sie manche tat­säch­lich vor dem Absturz bewahren. Doch wo es in Mode kommt, sich generell zu scho­nen, sich nicht wehtun zu lassen, wird man am Ende auch taub für die Nöte der anderen. Wo Wegschauen salon­fähig wird, wird die Welt vor lauter Empfind­lichkeit unsen­si­bel. Und wird der all­seits Gewarnte nicht um Erfahrun­gen gebracht, die ihm helfen kön­nten – um neue Betra­ch­tungsweisen und Hand­lungsmöglichkeit­en? Und kann es nicht heil­sam sein, was einen sprach­los macht endlich benan­nt zu find­en?
Es braucht die Rück­sicht und San­ftheit auch und vor allem in der Sprache, aber wir müssen ihr – wo es um alles geht – ihre Drastik belassen, dür­fen sie nicht verzärteln im Namen ein­er Kor­rek­theit, die mit Worten bemän­telt, anstatt etwas zu ent­lar­ven. Falsch ver­standene Scho­nung fördert am Ende nur die Impotenz der Beschrei­bung. Um wieder ein Beispiel zu nen­nen: Es gibt keinen Kindesmiss­brauch, Kinder gebraucht man nicht – es muss Verge­wal­ti­gung heißen!

Schreiber sind auch nur Men­schen, und die Frei­heit der Kun­st ist ein hehres Ver­sprechen, an dem sie scheit­ern müssen, solange sie auf die hören, die ihnen Vorschriften machen. Es geht um Stel­lung­nahme, darum, jeden Ver­dacht eines unzeit­i­gen Denkens aus dem Werk zu ver­ban­nen, sich im Namen der par­tiku­laren Fair­ness Autoritäten zu beu­gen zwis­chen Kon­for­mitäts­druck und der Hei­de­nangst, selb­st ins Out zu ger­at­en oder ins falsche Gehege. So wird zwar die Rück­sicht auf Vielfalt (Schlag­wort „Diver­sität“) neuerd­ings großgeschrieben, doch wer­den Annäherungsver­suche an eine fremde Gruppe nicht logis­cher­weise gebil­ligt. Der Schreiber muss Wür­den­träger eigen­er Betrof­fen­heit sein und kein Bessergestell­ter, der es sich her­aus­nimmt, von frem­den Nöten zu kosten oder sich das nicht am eige­nen Leib Erlit­tene wie ein Dieb anzueignen. Er soll erst gar nicht wagen, in frem­den Schuhen zu gehen. Man wird ihn anmaßend nen­nen, vielle­icht sog­ar über­grif­fig, oder ein Foul vortäuschen, um den Freis­toß zu kriegen: Hey Gesin­nungsver­sager! Nimm gefäl­ligst den Fin­ger von meinem ver­dammten Trig­ger! Die Killer­phrase lautet: Du kannst keine Ahnung haben, hast also nicht mitzure­den. Zu einem gewis­sen Teil ist das auch nachvol­lziehbar. Es wäre ein grobes Unrecht, bloß Kap­i­tal zu schla­gen aus dem Schick­sal der anderen. Dage­gen ist es ver­messen, dem nicht selb­st Anbe­langten nicht ein­mal zuzugeste­hen, sich eines frem­den Schick­sals liebevoll anzunehmen, den Stimm­losen und Ver­s­tummten eine Stimme zu geben. Hier kann die Außen­sicht zur Notwendigkeit wer­den.

Ein weit­eres Dilem­ma: Die heuti­gen Autoritäten strafen den Gren­zgänger nicht mit der safti­gen Watsche, die ja eigentlich gut fürs Geschäftliche wäre, son­dern mit Ver­nich­tung, also sozialem Auss­chluss. Man nen­nt diese Form der Zen­sur gerne auch „Can­cel Cul­ture“. Wer nichts riskieren will, wirft sich am Ende ent­nervt das ange­sagte Trikot der „richti­gen“ Mannschaft über, nimmt Platz in der Nich­traun­z­er-Zone – trotz des Unbe­ha­gens, das ihn dabei beschle­icht. Geht er auf Num­mer sich­er, weicht der Schreiber eben ins Geschichtliche aus oder in Sci­ence Fik­tion und andere Harm­losigkeit­en, um für die schnelle Sai­son seine Ruhe zu haben, mehrheit­stauglich zu bleiben. An den The­men der Wächter streift er erst gar nicht an, um sich nicht dem Vor­wurf der Aneig­nung auszuset­zen. Und weil er den Betrof­fe­nen über kurz oder lang heim­lich den Armen­stolz nei­det, lei­ht er sich hin­ten­herum ein wenig vom Glanz ihres Elends. Mit dem Etikett der Sol­i­darisierung – ein buntes Pro­fil­bild­ban­ner in sozialen Medi­en ist völ­lig umson­st zu haben – nimmt er Hal­tun­gen ein, die ihn gut daste­hen lassen, aber kein Han­deln erfordern. Manch ander­er flüchtet vielle­icht in Pseudo­pro­voka­tion, die sich in Stumpf­sinn erschöpft, gibt vor, den Geist zu bekämpfen, dem er selb­st Vorschub leis­tet. Wieder andere maulen „Man wird doch noch sagen dür­fen“ und stil­isieren sich zum Opfer. Wo keine Feinde sind, kon­stru­iert man sich welche, Sün­den­böcke zum Beispiel oder namen­lose, aber bedeu­tende Mächte. Oder schreibt über Dinge, die irgend­wie alle betr­e­f­fen. Und apro­pos: Wo bleibt die vielfach prog­nos­tizierte Coro­na-Bücher­welle? Soll sich die Welt etwa gar der heuti­gen Seuche zum Trotz mit Pestro­ma­nen beg­nü­gen? Es muss doch irgendwen juck­en, die Sen­sa­tio­nen des All­t­ags der neuen Nor­mal­ität zu Geschicht­en zu machen. Halt! Auch der Hang zum Erwart­baren ist ein Symp­tom der Ver­greisung, die sich jugendlich gibt, genau wie die Lust, zu ermessen, was geschrieben sein soll und was auf keinen Fall. Wieder dro­ht Tabuisierung. Coro­na ste­ht auf der Watch­list übri­gens ganz weit oben, knapp gefol­gt von Omas aus Süd- und Osteu­ropa. Wir sehen: die Angst des Schützen beim aufgelegten Elfme­ter ist auch nicht von schlecht­en Eltern.
Zurück also zu der Frage, ob es berechtigt ist, von Schreiben­den mehr zu erwarten als gefäl­ligst zu schreiben und sich im besten Fall um die Sprache zu küm­mern. Ethik und Ästhetik sind getren­nt zu betra­cht­en. Die gute Leseer­fahrung trägt nicht zwin­gend bei zu einem besseren Leben oder „richtigem“ Han­deln. Die Frei­heit der Schrift­stellerei beste­ht ja ger­ade darin, Freiräume zu eröff­nen, Gegen­wel­ten also zu den Geset­zen des All­t­ags und seinen Tugendpflicht­en. Von daher ver­bi­etet sich die Moral­isierung des Schreibens. Der Schreiber ist kein Delin­quent, wenn er in seinen Geschicht­en gel­tende Gren­zen ein­reißt. Er wird es erst, wo er ver­sucht, Leser zu fanatisieren oder auch nur zu lenken. Auch die Frei­heit der Kun­st endet bei der Ver­het­zung.

Die kugel­sichere Weste braucht es heute so wenig, wie ein Brust­taschen­no­tizbuch. Wer würde heute noch auf einen Dichter schießen, der sich wider­stand­s­los in die Schranken weisen lässt, immer darauf bedacht, nir­gend­wo anzueck­en, anstatt aus dem Vollen zu schöpfen mit der Scham­losigkeit, für die einen manche lieben und viele abgrundtief has­sen. Die Regeln sind aus­gemacht: Der Schreiber hat nicht zu reden, son­dern stil­lzusitzen, ab und zu vorzule­sen und vom Wass­er zu nip­pen, das man ihm hingestellt hat, aber dabei nicht zu wip­pen, sich nicht die Stirn zu schlitzen, schon gar nicht aufzuste­hen oder ein paar Seit­en aus seinem Buch zu reißen, nur um sie zu zerknüllen und nach denen zu wer­fen, die die Regeln bes­tim­men, oder auf allen Vieren von der Bühne zu krabbeln und zwis­chen die Zuschauer­rei­hen, um einem Kri­tik­er wort­los ans Bein zu pinkeln. Ist er nicht ein­ver­standen, kann er den Ver­anstal­ter bit­ten, ihn bitte auszu­laden, um weitschweifig zu ver­laut­baren, mit alten weißen Män­nern nicht gemein­sam zu lesen, auch nicht mit SUV-Fahrern, Schnee­brun­z­ern, Trinkern, Wich­sern und denen, die ihn lieben für seinen Heili­gen­schein, weil sie noch nicht wis­sen, wofür sie ihn has­sen müssten.

Noch ein Satz zur Trig­ger­war­nung: Ich kenne ein paar Leute, die sind nach der Lek­türe mein­er Büch­er gestor­ben, darunter zwei Fre­unde, selb­st Dichter.