Farbe bekennen

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Vor ein paar Monat­en erhielt ich die Anfrage, ob ich einen Offe­nen Brief unterze­ich­nen würde, der fol­gen­der­maßen begin­nt: „Am 13. April machte die Jury des Preis­es der Leipziger Buchmesse ihre Short­list öffentlich. Alle darauf Genan­nten sind hochver­di­ente Autor:innen und Übersetzer:innen. Jede:r Einzelne wäre ein:e würdige:r Preisträger:in. Unter den Nominierten befind­en sich jedoch keine Schwarzen Autor:innen und Autor:innen of Colour.“ Die Ver­fasserin­nen und Ver­fass­er erk­lärten, sie fän­den die Entschei­dung der Jury prob­lema­tisch, doch es sei keineswegs ihre Absicht, zu „attack­ieren“, vielmehr „wollen wir ihre Entschei­dung zum Anlass nehmen, eine Diskus­sion zu führen, die in unseren Augen längst über­fäl­lig ist: Über insti­tu­tionelle Struk­turen inner­halb der deutschen Gesellschaft, die nicht immer für alle wahrnehm­bar sind, aber den­noch immer wirken. Auch im Lit­er­aturbe­trieb.“
Lit­er­atur kön­nte und sollte „gesellschaftliche Struk­turen“ und „herrschende kul­turelle Vorstel­lun­gen“ in Frage stellen, dafür sei es allerd­ings notwendig, ihre Vielfalt zu fördern und zu pfle­gen. „Doch im deutschen Lit­er­aturbe­trieb gibt es ganz offen­sichtlich eine insti­tu­tionelle Struk­tur, die Schwarze Schriftsteller:innen und Schriftsteller:innen of Colour auss­chließt. Kul­turelle Insti­tu­tio­nen, die fast auss­chließlich weiße Autor:innen ausze­ich­nen, ver­hin­dern die Weit­er­en­twick­lung der vielfälti­gen Lit­er­atur- und Kul­turszene in Deutsch­land. So ver­fes­tigt sich ein eindi­men­sion­ales Konzept von Lit­er­atur und Kul­tur.“ Das Ziel sei eine Kul­tur, in der „eine Viel­heit an Stim­men und Per­spek­tiv­en Nor­mal­ität ist.“ Dafür seien Jurys, Ver­lagshäuser und Feuil­leton-Redak­tio­nen notwendig, „die die gelebte Real­ität der deutschen Gesellschaft repräsen­tieren“.
Ini­ti­iert wurde der Brief von Wis­senschaf­terin­nen und Wis­senschaftern aus Deutsch­land, Großbri­tan­nien und den USA. Einen guten Vor­satz enthielt er auch: Die Unterze­ich­nen­den ver­sprachen, selb­st tätig zu wer­den, in ihren jew­eili­gen Bere­ichen bzw. wis­senschaftlichem Umfeld, um dem aktuellen Ungle­ichgewicht ent­ge­gen­zuwirken.1

Ich las den Brief wieder und wieder; ich wusste nicht recht, wie ich reagieren sollte. Ein­er­seits war ich nicht über­rascht, ein solch­es Schreiben geschickt zu bekom­men. In vie­len Anfra­gen, die mich erre­ichen, geht es um diesen The­menkreis. Mal ver­birgt er sich in den Schlag­wörtern Migra­tion, Migra­tionslit­er­atur oder Migra­tionsh­in­ter­grund, mal ver­steckt er sich in einem Korea-, Ostasien- oder Asien-Titel, dann wieder möchte man meine Mei­n­ung zu Heimat bzw. Heimat­losigkeit hören. Anfangs war ich jedes Mal über­rumpelt, wenn Fra­gen zu diesem The­menkreis auf­taucht­en, später erwartete ich sie, es ging sog­ar so weit, dass ich sie beant­wortete, selb­st wenn sie gar nicht gestellt wur­den, ein solch wohl dressiertes Zirkuspferd war ich.

Das Unbe­ha­gen, das ich nach jedem Auftritt als Anna Kim, Migra­tionslit­er­atin spürte, wollte mich nicht mehr ver­lassen.

Stich­wort Zirkuspferd (eine leichte Übertrei­bung, ich weiß): Ich galop­pierte brav auf die Bühne, zeigte mein Kun­st­stückchen, obwohl es nicht immer um dieses ging, son­dern um eine wie mich auf dem Podi­um, ich wieherte ein paar Mal, dem Pub­likum gefiel es (oder nicht), und schon war die Show auch wieder vor­bei. Dass sich sowohl mein Zirkusakt als auch die Worte, die sich in meinem Wiehern ver­steck­ten, immer öfter wieder­holten, bemerk­te ich nicht nur, ich tat dies bewusst: Ich wieder­holte das, was (meis­tens auf­grund sein­er Schlichtheit) funk­tion­ierte, das andere ließ ich aus. So ver­lor das Gesagte zunehmend seinen Inhalt, das Sprechen wurde zu einem sinnlosen Akt, und die Ver­anstal­tun­gen began­nen mich zu quälen. Der Unter­schied zwis­chen der Per­son, die an den Lesun­gen oder Podi­ums­diskus­sio­nen teil­nahm, und der Pri­vat­per­son Anna Kim war bald unüber­brück­bar groß; auf der Bühne meinte ich, eine Anna Kim spie­len zu müssen, die mit mir nicht viel gemein­sam hat­te, bis auf das Geburt­s­jahr und den Geburt­sort. Gle­ichzeit­ig war mir bewusst, dass dies nicht nur, aber auch meine Schuld war, ich hat­te diese Fig­ur miter­schaf­fen, auch ich hat­te ihr die Worte in den Mund gelegt, und ich ließ sie sie aussprechen. Das Unbe­ha­gen, das ich nach jedem Auftritt als Anna Kim, Migra­tionslit­er­atin spürte, wollte mich nicht mehr ver­lassen.
Ich tat das Einzige, was ich mein­er Mei­n­ung nach tun kon­nte: Ich begann, Ein­ladun­gen abzulehnen. Es traf sich, dass ich zu dieser Zeit schwanger wurde und auf­grund von Kom­p­lika­tio­nen nicht mehr reisen durfte.

Der Offene Brief erre­ichte mich nach fast drei Jahren Büh­nen- und Öffentlichkeitsab­sti­nenz. Ich hat­te die Zeit nicht genutzt, um über mein Dilem­ma nachzu­denken, im Gegen­teil, ich hat­te die Zeit genutzt, um darüber nicht nachzu­denken, nicht ein­mal einen Gedanken daran zu ver­schwen­den; ein­fach ich zu sein, selb­stver­ständlich ich zu sein, son­st nie­mand2. Das Schreiben ließ es nicht weit­er zu, diese Selb­st­täuschung fortzuset­zen, denn es definierte mich in ein­er Weise, die ich in dieser Klarheit sel­ten aus­ge­sprochen höre: Es machte mich zu ein­er Autorin of Colour.

Bish­er gab es zwei Arten, wie die Öffentlichkeit auf mein Ander­s­sein reagierte: (1) Sie nahm es zur Ken­nt­nis, zugle­ich über­sah sie es. (Das, dies ist mir im Nach­hinein klar, ver­set­zte mich in einen anges­pan­nten Zus­tand.) Geschah dies aus Fre­undlichkeit? War es der Ver­such, mir Gle­ich­heit zuzugeste­hen? Ich glaube schon; ich glaube allerd­ings auch, dass dies ein­er Hil­flosigkeit entsprang: Mein Gegenüber hätte auch gar nicht gewusst, wie er diesen Teil fre­undlich mitein­beziehen sollte und kon­nte. Damit zwang er mich jedoch so zu tun, als gäbe es nicht den Teil der Gesellschaft, der mich als einen Fremd­kör­p­er wahrn­immt. (2) Sie nahm es nicht bloß zur Ken­nt­nis, sie nahm es als das Einzige zur Ken­nt­nis. Ein Gespräch, das unter diesem Gesicht­spunkt geführt wird, ist eine Sack­gasse. Es nimmt oft die Gestalt ein­er Inqui­si­tion an, denn es geht um die Fes­tle­gung, manch­mal sog­ar um die Beto­nung von Dif­feren­zen. Gemein­samkeit­en dür­fen am Ende des Abends – als ver­söhn­lich­er Ausklang – ange­führt wer­den, ste­hen aber nicht im Zen­trum der Befra­gung; nicht sel­ten war mir, als wäre ich am Ende des Abends fremder als zu Beginn.
In bei­den Fällen, (1) und (2), stellt sich gar nicht erst die Frage, ob man dem Ent-Frem­den ein Ende set­zen sollte. Und wie.

Als Kind gehörten meine Fam­i­lie und ich zu den Exoten unter den Aus­län­dern, etliche Jahre später wurde ich zu ein­er Per­son mit Migra­tionsh­in­ter­grund, und nun sollte ich eine Far­bige sein?

Ich set­zte mich an den Com­put­er, um den Brief zu unter­schreiben, doch etwas hielt mich davon ab. Ich bin keine deutsche Autorin, sagte ich mir, ich kenne mich mit dem deutschen Lit­er­aturbe­trieb nicht genug aus, um ihn zu kri­tisieren. Außer­dem, erk­lärte ich mir selb­st, ist es prob­lema­tisch, Begriffe wie colour ein­fach so aus dem anglo-amerikanis­chen Raum zu übernehmen, diese Län­der besitzen eine andere Geschichte, eine, in der Sklaverei eine wesentliche Rolle spielte, sind somit in Öster­re­ich und Deutsch­land nicht in gle­ichem Aus­maß anwend­bar. Außer­dem, schloss ich meine eige­nen Aus­führun­gen, bin ich keine Autorin of Colour. Oder bin ich eine Autorin of Colour? Als Kind gehörten meine Fam­i­lie und ich zu den Exoten unter den Aus­län­dern (die Notwendigkeit, das weib­liche Pen­dant anzugeben, bestand damals noch nicht), etliche Jahre später wurde ich zu ein­er Per­son mit Migra­tionsh­in­ter­grund, und nun sollte ich eine Far­bige sein?
Natür­lich stim­men alle diese Beze­ich­nun­gen. Mein Geburt­s­land sowie das mein­er Eltern liegt im Aus­land, ergo bin ich eine Aus­län­derin. Am Anfang mein­er Biografie ste­ht eine, wenn auch nicht von mir beschlossene, Migra­tion, also besitze ich einen Migra­tionsh­in­ter­grund. (Im Laufe meines Lebens kamen zu dieser Migra­tion viele weit­ere dazu. Im Hin­ter­grund mein­er Biografie tum­meln sich dem­nach Migra­tio­nen.) Und ja, meine Haut­farbe ist anders als die der Mehrheit in Öster­re­ich und Deutsch­land. Wie genau man diese Fär­bung nen­nt, ist Def­i­n­i­tion­ssache; wenn alles, was von ein­er eher hellen Haut­farbe abwe­icht, far­big genan­nt wird, ist meine Haut mit Sicher­heit far­big und ich somit eine Far­bige.
Die Beze­ich­nung Aus­län­derin habe ich gel­ernt zu überse­hen. Migra­tionsh­in­ter­grund ist ein Begriff, der genau­so hässlich ist wie die Absicht, die in der Bedeu­tung steckt, doch offen­bar bin ich dage­gen so abges­tumpft, dass es mich heute kaum noch berührt. Das Wort Colour aber löste in mir ein neues Gefühl aus: Ich fühlte mich in ihm gefan­gen. Es schien ein Netz über mich auszubre­it­en, von dem ich meinte, mich nur befreien zu kön­nen, wenn ich es zer­riss –
und nun kommt Coro­na ins Spiel.

Am Anfang der Pan­demie schien die Welt ger­adezu beglückt davon zu sein, in Chi­na die Schuldige gefun­den zu haben. In Deutsch­land, wo ich zu dem Zeit­punkt lebte, herrschte sowieso keine beson­dere Chi­naliebe; es wurde ger­adezu mit Genuss darauf hingewiesen, wer die Pan­demie aus­gelöst habe. Dass ein Präsi­dent Trump mit Chi­na-Flu und ähn­lichen Beze­ich­nun­gen Öl ins Feuer goss, muss ich nicht weit­er aus­führen. In jedem Fall häuften sich die Mel­dun­gen, dass Men­schen auf­grund ihres ostasi­atis­chen Ausse­hens attack­iert wor­den wären, im Früh­jahr 2020 auch in Europa, nicht nur in den USA3.
Ich hat­te schon bemerkt, dass mir Men­schen auf den Straßen auswichen, die Straßen­seite wech­sel­ten und Augenkon­takt mieden; ich hat­te aber auch dezi­diert fre­undliche Blicke erhal­ten. Ich hätte nicht sagen kön­nen, ob es an der Pan­demie lag, dass unser damals ein­jähriger Sohn, immer, wenn er mit meinem Mann (einem Weißen) unter­wegs war, beim Bäck­er Brezel und Quark­bällchen geschenkt bekam, mit mir aber nicht, oder ob ich, wenn ich mich in ein­er unor­dentlichen Schlange einord­nete, ein­fach überse­hen wurde, weil unor­dentliche Schlangen nun ein­mal schw­er zu überblick­en sind. Vielle­icht, fragte ich mich, lag es auch an mir, und mein (über­vor­sichtiges) Benehmen rief erst recht unfre­undlich­es Ver­hal­ten her­vor?
Mir wurde schmer­zlich bewusst, was sich hin­ter dem Begriff hon­orary white ver­birgt; wie zynisch er ist. Arbi­trary white sollte er laut­en, sagte ich mir, nicht hon­orary. Ehre emp­fand ich schon lange keine mehr, von der Mehrheits­ge­sellschaft der­maßen aus­geze­ich­net wor­den zu sein. Das Konzept hon­orary white – bei uns nen­nt es sich Muster­mi­granten und gut inte­gri­ert und meint doch bloß assim­i­liert – täuscht nicht bloß die Empfänger dieser zweifel­haften Ehre, es gaukelt auch der anderen Seite vor, einen Prozess durch­laufen, also abgeschlossen zu haben (den Prozess der Akzep­tanz näm­lich, der am Anfang der Inte­gra­tion ste­ht und nicht, wie manche glauben, jen­er der Assim­i­la­tion) –, obwohl dies nicht der Fall ist. Racial pro­fil­ing ist seit 9/11 stärk­er gewor­den, keines­falls schwäch­er; wenn man sich mir gegenüber neuerd­ings tol­er­ant zeigen will, spricht man mich auf Englisch an und erk­lärt, wenn ich sage, ich spräche auch Deutsch: „Good for you.“ Haben wir mit den Begrif­f­en aus dem anglo-amerikanis­chen Raum auch die dort herrschen­den Gewöhn­lichkeit­en über­nom­men?
Nicht zulet­zt bedeutet hon­orary white auch, sich dafür schä­men zu müssen, wenn man diskri­m­iniert wurde, weil jene, die ehren­hal­ber weiß sind, ja nicht (nie!) diskri­m­iniert wer­den. Wenn es zu einem solchen Über­griff kommt, ist die Schuld nicht bei den Schuldigen zu suchen – sie ges­tanden ja den Opfern eine Ehre zu –, son­dern bei den Opfern. Diese haben sich offen­sichtlich etwas zu Schulden kom­men lassen.
„Doch im deutschen Lit­er­aturbe­trieb gibt es ganz offen­sichtlich eine insti­tu­tionelle Struk­tur, die Schwarze Schriftsteller:innen und Schriftsteller:innen of Colour auss­chließt.“ Ja, das gibt es, vielle­icht han­delt es sich (noch) nicht um eine Struk­tur, son­dern mehr um eine Kul­tur oder eine Gewohn­heit: die Gewohn­heit näm­lich, so zu tun, als existierte im Betrieb kein Ras­sis­mus (und auch kein Sex­is­mus). Der Lit­er­aturbe­trieb ist jen­er Teil unser­er Gesellschaft, der aus jedem Autor, aus jed­er Autorin mit nicht weißer Haut­farbe automa­tisch einen hon­orary white macht. Damit aber nimmt er an den herrschen­den Struk­turen teil und führt diese sog­ar fort, obwohl es nicht notwendig wäre. Denn: Soll­ten wir, die wir über das Mögliche genau­so schreiben wie über das Unmögliche, nicht bess­er sein? Soll­ten wir nicht imstande sein, einen geschützten Raum zu schaf­fen, in dem Akzep­tanz nicht nur ver­sprochen, son­dern gelebt wird?
Es hil­ft nichts, wir leben in ein­er Welt, nein, wir leben in einem Entwick­lungssta­di­um, in dem der eth­nis­che Hin­ter­grund noch immer eine große Rolle spielt. Wann wir dieses Sta­di­um ver­lassen wer­den, lässt sich nicht abschätzen; es hängt auch davon ab, ob und wann alle Betrof­fe­nen, die Mehrheit und die Min­der­heit, Farbe beken­nen.

Je öfter ich den Offe­nen Brief las, desto mehr wurde mir bewusst, wie far­big ich war; wie viel geistiger Aufwand und Selb­st­täuschung nötig gewe­sen waren, um diese Tat­sache zu ignori­eren. Und mit einem Mal war ich erle­ichtert, ger­adezu befre­it –
als hät­ten sich die Rän­der des Net­zes gelüftet.