Ein Walbus und ein Experte für Unterwasserschutz

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Mit den Noti­zen wächst der Tag, und jeden Tag ver­suche ich, ein Stück der Welt festzuhal­ten, die mich umgibt. Manche dieser Gesprächs­fet­zen, Beobach­tun­gen, Wort­funde fügen sich später in Erzäh­lun­gen oder Romane ein, manche bleiben für immer unter sich. Das fol­gende Notizsed­i­ment han­delt vom Hier und Heute im Dezem­ber 2020, vom Gestern und Mor­gen und der Aus­sicht von meinem Berg aus Mate­r­i­al.

Aus dem Radio spricht der Experte für Unter­wasser­schutz, über meinem Schreibtisch hängt das Bild aus Meer­estiefen: Ein Wal trans­portiert eine fidele Gesellschaft, wohin ist unbekan­nt. Über seinen Rück­en sind zwei Gurte ges­pan­nt, an denen ein Unter­wasser­boot befes­tigt ist, das einem Zugabteil ähnelt. Schein­bar müh­e­los schwimmt das Tier gegen die Strö­mung an, als trüge es keine ton­nen­schwere Last. Die Fahrgäste unter­hal­ten sich. Eine Frau blickt aus dem Fen­ster, ruhig wirkt das Draußen, das an ihr vorüberzieht.

Der Experte für Unter­wasser­schutz berichtet von atyp­is­chen Stran­dun­gen bei Schn­abel­walen und anderen Tieren, her­vorgerufen durch mil­itärische Manöver und Schal­limpulse bei der Suche nach Öl. Bei diesen Schal­limpulsen reden wir von Laut­stärken, die für den Men­schen abso­lut unvorstell­bar sind – ver­glichen mit dem Sig­nal, das bei uns aus einem Meter Dis­tanz zu Gehörschmerz führen würde, sind diese Impulse das Mil­liar­den­fache.

Die Frau blickt aus dem Fen­ster des Unter­wasser­bootes, bei­de Hände erhoben, als wäre sie neben­bei in ein Gespräch mit ihrem Gegenüber ver­tieft. En L’An 2000 schrieb der Zukun­ft­sze­ich­n­er über sein Bild dieses Wal­busses. Es ist Teil ein­er Serie an Postkarten, die zwis­chen 1900 und 1910 ent­standen und sich alle mit der Welt in hun­dert Jahren beschäftigten. Zur Weltausstel­lung in Paris erschien das erste Motiv, 86 weit­ere Karten soll­ten fol­gen. Die Fig­uren tra­gen die Klei­dung der Jahrhun­der­twende, sie lehnen sich entspan­nt zur Videotele­fonie zurück, lauschen einem Roboterorch­ester oder sausen im Wal­bus von einem Ort zum näch­sten. Leicht und schw­ere­los wirkt die Zukun­ft.

Ein Hör­er ruft an, er erkundigt sich beim Experten für Unter­wasser­schutz, ob es möglich wäre, dass es sich bei den Wal­stran­dun­gen um eine seel­is­che Panik han­dle, sie flücht­en und möcht­en eigentlich gar nicht mehr ins Wass­er hinein, ein ander­er ver­mutet bewussten Massenselb­st­mord. Ich glaube nicht an kollek­tiv­en Selb­st­mord, sagt der Meeres­forsch­er.

Kann es sein, dass es eine evo­lu­tionäre Folge ist und die Wale wieder ver­suchen an Land zu gehen? Naja, der Aus­gang mit Todes­folge ist kein guter Plan, insofern kann ich mir das nicht vorstellen. Ertauben Wale? Ja, dauer­haft bedeutet das ihr Ende.

Wie laut war das Meer zwis­chen den Jahren 1900 und 1910? Ich sehe einen Delfin, der freudig den Wal­bus umtanzt. Konzen­tri­ert und aufrecht sitzt der Wal­bus­fahrer am Steuer. Vielle­icht hofft er, bald an Land zu kom­men, noch rechtzeit­ig zum Aben­dessen zu Hause zu sein, vielle­icht wün­scht er, seine Schicht möge heute länger dauern, vielle­icht hat er wie ich Her­man Melville im Ohr: Now small fowls flew scream­ing over the yet yawn­ing gulf; a sullen white surf beat against its steep sides; then all col­lapsed, and the great shroud of the sea rolled on as it rolled five thou­sand years ago.

Es spricht wieder der Experte für Unter­wasser­schutz, er spricht von Weißwalen im Sankt-Lorenz-Strom, die als Gift­müll entsorgt wer­den müssen, wenn sie stran­den, von Abfällen und Chemikalien, die sich in den Tieren anre­ich­ern, von Schad­stof­fen, die sich erst nach hun­derten Jahren zer­set­zen. Wir dür­fen nicht vergessen: Das Meer ist kein paradiesis­ch­er Ort für Wale und Delfine mehr.

Fra­gen an den Wal­bus­fahrer: Pfeifen Sie wie ein Fiak­er? Hören Sie während der Fahrt Radio? Ken­nen Sie den Namen des Wales, den Sie steuern? Wech­seln Sie Wale? Ver­mei­den Sie Mikro­plas­tik? Wie stellen Sie sich das Meer im Jahr 2100 vor?

Zum Schluss eine pos­i­tive Aus­sicht, unter­bricht die Mod­er­a­tion. Der Experte für Unter­wasser­schutz über­legt kurz, dann spricht er mit einem Funken Begeis­terung: Es gibt in Schot­t­land einen ganz tollen Punkt, dort kann man Delfine beobacht­en, wie sie Lachse jagen.

Der Wal­bus­fahrer lacht darüber, als er im Hafen ein­trifft, er streckt sich und richtet seine Uni­form. Die fidele Gesellschaft hat den Wal­bus bere­its ver­lassen, als der Experte für Unter­wasser­schutz plöt­zlich aus dem Nichts auf­taucht und die Gurte kappt, woraufhin der Wal im Meer ver­schwindet. Die Frau, die zuvor aus dem Fen­ster blick­te, wartet mit ihrem Schoßhünd­chen auf ein Taxi und wird Zeu­g­in des Wal­bus­fahrerzorns.
Mon Dieu, sagt sie und küsst den Hund auf die Stirn.