Sechs Präsidentenlieder

Von

1

Die Kinder sitzen rings im Kreise
und sin­gen, lachen unge­niert.
Der Präsi­dent befiehlt: „Seid leise!
Ich will, dass ihr euch konzen­tri­ert,

denn wir besprechen jet­zt die Lage.
Die Lage ist sehr kom­pliziert.
Drum passt gut auf, was ich euch sage,
damit ihr alles auch kapiert.

Die Lage näm­lich ist ganz anders,
als viele sagen, näm­lich so.
Und wär’ sie nicht so, dann, ja dann wär’s
schlimm für uns. Drum sei’n wir froh,

dass, schon als man uns in sie brachte,
die Lage so war, wie sie war,
näm­lich anders, als man dachte.
Ver­standen, Kinder? Alles klar?“

2

Der Präsi­dent liest gern Gedichte.
Prosa mag er nicht so sehr.
Dann und wann zwar liest er Fichte,
öfter aber Baude­laire.

Man sieht ihn blät­tern im Gedicht­band,
lächeln über manchen Reim.
„Was ich lei­der darin nicht fand“,
seufzt er, „ist Der Krieg von Heym.

Grad nach dem wär’ mir gewe­sen
heute. Frag mich nicht, warum.“
Seine Gat­tin, auch beim Lesen,
zuckt nur mit den Achseln stumm.

Die Kinder sind in ihren Zim­mern.
Draußen bläst der Wind. Es schneit.
In der Ferne ist ein Wim­mern,
dünn, doch deut­lich: Ein Geläut’.

3

Der Präsi­dent isst Blun­zen­radeln
und singt dabei ein Wiener­lied.
Er singt: „Ich hab die schö­nen Madeln
net erfun­den“. Flieder blüht.

Die Katze schläft und macht Geräusche
fast klingt’s, als ob sie Blut­durst hätt’.
Vom Kinderz­im­mer her Gekreis­che.
Die Lippe glänzt vom Blutwurst­fett.

Der Präsi­dent genießt’s, lacht heit­er,
nimmt noch ein wenig Sauer­kraut,
wis­cht sich den Mund und singt dann weit­er,
(es stört ihn nicht, dass er noch kaut).

„Ich hab’ die erste Geig’n net machen lassen“,
voll Inbrun­st intoniert’s der Präsi­dent,
bemüht, das Lied ganz neu zu fassen,
so dass er’s selb­st nicht mehr erken­nt.

4

Der Präsi­dent, ein Glas Cham­pag­n­er
in der Hand, ste­ht im Foy­er
und spricht zur Gat­tin: „Onkel Wan­ja
find’ ich fürchter­lich!“ – „Oje“,

sagt sie, und er: „Bei Schiller,
Wil­helm Tell, da tut sich was!
Auch ist die Insze­nierung schriller.
Oder Shake­speare, Maß für Maß.

Hor­vath, ja, das ist The­ater!
Aber Tsche­chows Stücke… Ach,
in denen geht’s so end­los fad her!“
Spricht’s und schenkt Cham­pag­n­er nach,

auch der Gat­tin, die kaum zuhört.
Sie hält ihr Glas hin: „Gib mir mehr.
Schwör’, dass man von dir kein Buh hört!
Ich liebe näm­lich Tsche­chow sehr.“

5

Der Präsi­dent war im Muse­um.
Nun spricht er über Malerei.
Die Kinder rühren stumm im Tee um.
Die Gat­tin köpft ihr Früh­stück­sei.

Der Präsi­dent erzählt von Akten,
also Bildern nack­ter Fraun,
gegen­ständlichen, abstrak­ten,
auch von einem nack­ten Faun.

„Sich­er eins der besten Bilder“,
sagt er, „nein, das beste Bild.
Dieser Aus­druck!“ ruft er, „wilder,
wirk­lich, wilder noch als wild!“

Schon hört man knur­ren seinen Magen.
Er greift nach ein­er Scheibe Speck.
„Mehr“, sagt er, „ist nicht zu sagen.
Bacon ja. Der Rest ist Dreck.“

6

„Die Kinder lesen kein Gedicht mehr“,
klagt der Präsi­dent, „zu schw­er,
behaupten sie und lesen nicht mehr
Shel­ley, Hölder­lin, Baude­laire.

Was, Gat­tin, soll aus ihnen wer­den?
Die Knaben lesen Fan­ta­sy,
die Mäd­chen irgend­was mit Pfer­den
statt Lyrik, dabei kön­nte die

im spätern Leben ihnen nützen.
Sie ist so großer Weisheit Quell!
Mit Prosa ist’s ja wie mit Witzen,
man ver­gisst selb­st gute schnell.“

Die Gat­tin sagt: „Ach, lass sie lesen!
Ihr spät’res Leben ist noch fern.
Bist nicht auch du einst jung gewe­sen
Und lasest sog­ar Hesse gern?“