Was bleibt

Von

Warum habe ich nicht gle­ich Blu­men mit­ge­bracht statt Bier und Apfel­strudel?
Er brauche alle Kalo­rien, die er bekom­men könne, hat die erste Kranken­schwest­er gemeint, und auch die zweite Kranken­schwest­er hat meine Frage, ob ich ihm das Bier und den Apfel­strudel geben dürfe, bejaht, und erst die dritte hat mir dann, nach­dem sie das Bettzeug und sein Gewand zweimal wech­seln mussten, erk­lärt, dass er so gut wie nichts mehr bei sich behal­ten kann.

Vor dem Senioren­heim in der Sonne sitzen ein paar Leute und lächeln, während ich mit den Blu­men an ihnen vor­bei und hinein gehe, so als wäre ich jede Woche, vielle­icht sog­ar jeden Tag hier bei ihm gewe­sen. Der Weg durch die Ein­gang­shalle fühlt sich ver­traut an. Die Treppe hin­auf, den Gang ent­lang. Es scheint fast nor­mal, zu seinem Zim­mer zu gehen, alles scheint nor­mal, bis ich die Tür öffne.

Mein Vater liegt auf dem Boden. Das Kranken­haushemd bedeckt ihn halb. Seine nack­ten Beine. Um ihn herum die drei Kranken­schwest­ern. Sie sehen mich an. Er sei aus dem Roll­stuhl gerutscht. Sie warten auf die Ret­tung. Sie dürften ihn nicht bewe­gen. Wahrschein­lich eine oder mehrere Rip­pen gebrochen. Seine Augen sind offen, er sieht mich an und ich kann nicht anders. Ich gehe auf die Knie, stelle die Blu­men auf den Boden und greife nach sein­er Hand.

Ich halte seine Hand, als die San­itäter kom­men und ihn fra­gen, ob ihm etwas wehtue. Ja, sagt er. Ich halte seine Hand, als sie ihn immer wieder fra­gen, wo es ihm wehtue, und er nicht antwortet. Ich lasse seine Hand erst los, als sie beschließen, ihn alle gemein­sam mit einem Ruck auf die Trage zu heben. Eine Schwest­er ver­spricht die Blu­men zu gießen, eine andere zis­cht dem San­itäter zu, dass mein Vater besach­wal­tet sei, als würde das irgen­det­was erk­lären, als wäre damit vol­lkom­men klar, wie man sich mir gegenüber zu ver­hal­ten habe.

Ich laufe ihnen hin­ter­her. Ich frage, ob ich mit­fahren darf, und steige in den Ret­tungswa­gen ein, vorne beim San­itäter. Er lenkt schweigsam und ich habe das Bedürf­nis, ihm alles zu erzählen. Dass mein Vater und ich uns heute zum ersten Mal an der Hand gehal­ten haben. Dass er schon vor einiger Zeit aus meinem Leben gerutscht ist wie aus seinem Roll­stuhl.
Aber als wir von der Auto­bahn ab- und durch die Stadt fahren und das Kranken­haus vor uns auf­taucht, habe ich noch immer nichts gesagt. Das Auto hält, der eine San­itäter steigt wort­los aus und hil­ft dem zweit­en San­itäter mit der Trage. Sie drehen sich nicht nach mir um. Ich folge ihnen, starre auf ihre Rück­en und auf die große Tür, sie öffnet sich. Sie schieben den Vater davon.

Ich habe mich in einen Warter­aum geset­zt. Als wür­den sie meinen Vater irgend­wann wieder her­auss­chieben. Als würde er plöt­zlich wieder auf­tauchen, so wie er damals wieder aufge­taucht ist. Geheilt. Damals hat das Wort für mich gut gek­lun­gen, und meine Mut­ter hat ihm geglaubt. Für eine kurze Zeit hat sie ihm geglaubt. Mit einem Ruck ste­he ich auf, gehe einen, gehe weit­ere Gänge ent­lang, ste­he vor einem Schal­ter, stelle Fra­gen und erhalte keine Antworten. Ich drehe mich um und folge den Exit-Schildern.

Erst draußen schaue ich auf mein Handy. Ein ent­gan­gener Anruf von David und eine Nachricht von Chris: Ich hoffe, du find­est die richti­gen Worte, lese ich, für diesen Abschied. Ein Regen­tropfen fällt aufs Dis­play. Ein zweit­er. Ich stecke das Handy weg und gehe zur Bushal­testelle, steige in den Bus mit der Anzeige Zen­trum und Haupt­bahn­hof, stecke die Streifenkarte in den Entwert­er und set­ze mich ans Fen­ster. Mein Handy vib­ri­ert, es ist so wichtig und schwierig, Abschied zu nehmen, hat Chris geschrieben, sei dankbar, dass du die Möglichkeit hast. Ich bin froh, dass der Bus sich in Bewe­gung set­zt, dass die Regen­tropfen immer schneller und lauter gegen die Scheiben pras­seln, dass alles ver­schwimmt:

Wie Chris und ich uns nackt gegenüber­sitzen und ich ihm von meinem Vater erzäh­le, ihm sage, dass ich die Erin­nerun­gen an ihn an ein­er Hand abzählen könne. Wie er mir geste­ht, dass er gar kein Bild von seinem Vater habe, obwohl er mit ihm zusam­menge­wohnt hat bis zu seinem Tod. Wie ich mir ein­bilde, Trä­nen in seinen Augen zu sehen. Wie mein Blick zwis­chen David und seinem Vater hin und her schweift, wie iden­tisch Davids Hin­tern und der seines Vaters sind, wie die bei­den von hin­ten nur die Dicke der Speck­rolle um die Mitte und die Anzahl der Haare auf ihrem Kopf unter­schei­det und wie dieser Unter­schied immer klein­er wird. Wie sein Name plöt­zlich auf dem Dis­play meines Handys auf­scheint. Der Aus­druck auf dem Gesicht mein­er Mut­ter, als ich ihr sage, dass ich zu ihm fahren und mich ver­ab­schieden werde, und wie sie schließlich sagt: Ja. Wahrschein­lich ist das gut.

Der Bus fährt in eine Kurve, mein Kopf rutscht gegen die Scheibe, ich lasse ihn dort liegen. Ich sehe Ströme von Wass­er und wie ich zum ersten Mal das Zim­mer betrete. Seine Arm­ban­duhr auf dem Tisch neben dem Bett. Wie er ver­sucht, sich aufzuricht­en. Wie ich das Bier aus meinem Ruck­sack hole und in den Trinkbech­er leere. Wie ich den Apfel­strudel aus der Alu­folie wick­le und auf den Tisch lege. Wie ich behaupte, die Mut­ter hätte den Apfel­strudel gemacht. Wie er begin­nt, mich nach ihr zu fra­gen. Die Apfel­strudel­stücke an seinem Kinn, auf sein­er Brust, als ich über­lege ihn zu füt­tern, wie er mich nie gefüt­tert hat. Wie der erste Schwall Bier aus ihm her­auskommt und dann der zweite. Wie das Bier und der Apfel­strudel aus ihm her­aus über das Bett und durch das Zim­mer spritzen. Wie ich um Hil­fe rufe, wie sie rufen, ich soll hin­aus­ge­hen, und wie ich nicht gehe, nicht gehen kann, son­dern bleibe und zuschaue. Wie damals.

Mein Kopf wird unsan­ft gegen die Scheibe gedrückt, ich richte mich auf, über­lege gle­ich bis zum Bahn­hof zu fahren, in den Zug zu steigen, und dann nach Hause, zu David, denke ich, oder zu Chris und ob es irgen­deinen Unter­schied macht. Der Bus hält in immer kürz­er wer­den­den Abstän­den, der Regen lässt nach, aber die Leute, die ein und aussteigen sind nass. Ich wun­dere mich, dass ich trock­en geblieben bin. Ich ver­suche mich in dieser Stadt zu ori­en­tieren, in der ich nur ein­mal war. Für die Zeitspanne von einem Bier habe ich gedacht, er würde sich für mich inter­essieren. Stadtzen­trum, höre ich.

Ich steige aus und gehe zum Hotel, als würde ich mich hier ausken­nen. Ich stelle mich unter die Dusche, bis kein warmes Wass­er mehr kommt. Dann wick­le ich mich in ein Hand­tuch und rufe David an. Er erk­lärt mir, dass es nicht meine Schuld sei, dass der Vater aus dem Roll­stuhl gerutscht ist. Ob ich mor­gen zu ihm komme, will er wis­sen, und ob ich wirk­lich noch ein­mal hin­fahren und mich ver­ab­schieden will, ob ich nicht schon genug gelit­ten habe. Ich behaupte, dass ich erst­mal etwas essen und dann wei­t­er­denken würde. Nach­dem ich aufgelegt habe, hole ich die übrigge­bliebene Flasche Bier aus meinem Ruck­sack, öffne sie und trinke. Warm, süß, geselcht. Damals hat die Mut­ter die Kotze aufgewis­cht und das Blut, wessen Blut war es, ich bin nicht mehr sich­er.
Wenn du jeman­den zum Reden brauchst, melde dich, lese ich auf meinem Handy, jed­erzeit. Ich gehe zum Fen­ster, öffne es und atme die frische Luft ein. Ich starre auf mein Handy, auf die Unter­hal­tung mit Chris, ver­suche mir vorzustellen, er wäre hier. Ich frage mich, ob er mit­gekom­men wäre, hätte ich ihn gefragt. Ich tippe: Ich kann nicht, will nicht reden.
Ich gehe ins Bad, trockne meine Haare, ziehe mich an und trinke das Bier, fast auf ex. Ich bin über­rascht, wie gut ich ausse­he. Ich sollte bei dir sein, schreibt Chris, ja, antworte ich, ich sollte immer bei dir sein, schreibt er, vielle­icht, schreibe ich, werfe das Handy aufs Bett und ver­lasse das Zim­mer.

(
Jedes Fick­en ist ein Fick­en gegen den Tod, habe ich in einem Roman geschrieben. Habe ich zu dir gesagt. Oder du zu mir.
No one fucks as hard as a writer, hab ich kür­zlich wieder wo gele­sen.
Wir kön­nten auch sagen: Jedes Schreiben ist ein Schreiben gegen den Tod.
Jede Geschichte ein Ver­such, das Unver­ständliche ver­ste­hbar zu machen, das Unerträgliche erträglich.
Jed­er Text der Ver­such, Schmerz in Lust zu ver­wan­deln.
Und dieser Ver­such wiederum selb­st ein Schmerz an der Gren­ze zur Lust und eine Lust an der Gren­ze zum Schmerz und ist nicht alle Lust Lust an dieser Gren­ze, denn: Alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit ..?
Jede Geschichte ist auch eine Liebesgeschichte, hast du geant­wortet. Oder ich dir.
Vielle­icht ist es auch nur die richtige Mis­chung aus Wahrheit und Lüge.
Oder?                                                                 )

Am näch­sten Tag kenne ich den Weg ins Hotel. Am Handy eine Nachricht von David: Wann kommst du wieder? und ein ent­gan­gener Anruf von Chris. Ich weiß schon, wie lange ich duschen kann, bis das Wass­er kalt wird. Ich sehe noch immer gut aus. Ich kenne den Weg ins Kranken­haus und finde den richti­gen Ton am richti­gen Schal­ter. Ich hin­ter­lasse meine Tele­fon­num­mer. Sie wür­den mich anrufen, wenn es so weit ist, ver­sprechen sie und schick­en mich auf die Onkolo­gie.
Da er sich übergeben hat, sei er in der Iso­la­tion­szelle, erk­lärt mir eine Ärztin. Sie dürfe mir keine Auskün­fte erteilen, aber sie rät mir, die Num­mer vom Sach­wal­ter her­auszufind­en. Sie hil­ft mir in den Man­tel. Zusät­zlich zum Mund­schutz muss ich eine Haube auf­set­zen und Hand­schuhe anziehen. Wenn ich fer­tig bin, soll ich alles ausziehen und in die Müll­tonne stopfen, sagt sie mit einem Lächeln. Wenn ich fer­tig bin, denke ich und gehe hinein.
Der Vater ist noch klein­er und dün­ner und blass­er als gestern, noch weniger, noch schwieriger zu begreifen, wie kön­nte ich begin­nen, hal­lo, kön­nte ich sagen oder tschüss, oder ich bin’s, deine Tochter, kön­nte ich sagen und meine Hand auf seine leg­en. Zum zweit­en Mal. Zwis­chen uns Plas­tik. Wir star­ren uns an.

Wie geht es dir?, fragt er plöt­zlich, seine Stimme klingt abge­hakt, gepresst, als hätte er seine ganze Kraft in diesen Satz gesteckt. Ich nicke, schlucke.
Hast du eine gute Arbeit?, fragt er, seine Stimme klingt etwas san­fter, als gin­ge das mit dem Reden nun, wo er ein­mal damit ange­fan­gen hat.
Ich selb­st kann nichts mehr sagen, kann nur mehr nick­en und ver­suchen diese Trä­nen zurück­zuhal­ten. Es gelingt mir nicht.
Und einen guten Mann?, fragt er und ich nicke wieder, meine Nase ist zu, ich habe das Gefühl zu erstick­en, ich nicke noch ein­mal, obwohl ich mir nicht sich­er bin, wed­er was David noch was Chris bet­rifft, ich nicke, weil ich immer einen finde, der gut genug ist.
Und Kinder?, fragt er und ich schüt­tle den Kopf.
Und wie geht’s der Mut­ter?, fragt er und seine Stimme klingt wieder gepresst, klingt wie damals am Tele­fon, als ich abheben musste, weil die Mut­ter nicht wollte, nicht kon­nte, nicht durfte, wo ist sie?, will er wis­sen, damals hat sich die Mut­ter im Bad ver­steckt, das Bad war der einzige Raum ohne Fen­ster, damals musste ich lügen, wann kommt sie?, will er wis­sen, bald, sage ich, sage ich damals oder heute, wirk­lich?, fragt er und ich sehe hin­unter auf meine Schuhe.
Sie hat einen anderen, oder?
Ich ziehe den Rotz durch die Nase hoch, höre auf zu weinen und sehe auf die Wan­duhr. Sie hat einen anderen, sagt er.
Wie ist es möglich, dass sich der Sekun­den­zeiger so schnell und der Minuten­zeiger so langsam bewegt? Die Hand des Vaters zit­tert, als er sie hebt.
Sag es mir.
Ob die Kranken­schwest­er im Senioren­heim den Blu­men­stock neben seine Arm­ban­duhr gestellt hat?
Bitte, sagt der Vater und ich sehe ihn an und schüt­tle den Kopf.
Nein, sage ich und dass ich dann gehen werde, aus dem Zim­mer, aus dem Kranken­haus und zum Bahn­hof. In den Zug werde ich steigen und zurück nach Hause fahren. Der Vater sagt nichts. Ich sehe, wie der Minuten­zeiger einen Sprung macht und ich nehme mir vor, noch fünf Minuten zu bleiben. Der Vater sagt noch immer nichts und ich über­lege, ob es irgen­det­was gibt, das uns verbindet, irgen­deine gemein­same Erin­nerung außer die von damals. Der Minuten­zeiger springt weit­er. Ob er sich an die Schuhe erin­nern könne, frage ich ihn schließlich. Ob er sich erin­nern könne, dass ich ihn ein­mal besucht habe, dass er mir diese Led­er-Stieflet­ten mit hohen Absätzen gekauft hat. Wie viele Män­ner ich damit abgeschleppt habe, erzäh­le ich ihm nicht. Der Vater sieht mich mit leeren Augen an, auf ein­mal bezwei­fle ich, dass er weiß, wer ich bin. Diese Schuhe, sage ich, habe ich noch immer.
Ich sehe auf die Uhr. Drei Minuten noch.
Ich werde dann gehen, sage ich.
Wann kommt die Mut­ter?, fragt er, und auf ein­mal bin ich mir nicht sich­er, ob er nicht seine eigene Mut­ter meint.
Bald, sage ich.
Der Vater beobachtet mich. Wie ich auf­ste­he und zur Müll­tonne gehe. Wie ich zuerst die Hand­schuhe ausziehe. Dann aus dem Man­tel schlüpfe. Die Haube und den Mund­schutz abnehme. Wie ich alles in die Müll­tonne stopfe und den Deck­el wieder schließe. Eine Minute noch. Ein Count­down, würde Chris sagen. Jede Sekunde ist eine zu viel, würde David meinen. Der Vater schweigt.
Ich gehe jet­zt, sage ich.
Der Vater nickt.
Tschüss, sagt er.
Er hebt die Hand ein wenig, holt Luft.
Sag dein­er Mut­ter, ich habe sie wirk­lich geliebt.
Ich nicke. Ich hebe die Hand und lasse sie wieder fall­en. Ich gehe. Durch die Tür, aus dem Zim­mer, durch die Sta­tion und aus dem Kranken­haus, ohne mich umzu­drehen, und erst, als ich wieder im Bus sitze, als ich mir wün­sche, dass es wieder zu reg­nen begin­nt, als ich mir gle­ichzeit­ig Chris und David her­bei­wün­sche, als ich für einen Moment lang über­lege, ob ich der Mut­ter das wirk­lich aus­richt­en soll, wird mir bewusst, dass es das jet­zt war.