Maturatreffen

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Manch­mal fühlt man sich wie dreißig und dann geht man plöt­zlich an einem Spiegel vor­bei und sieht jeman­den, der um einiges älter ist. Es dauert einen Moment, bis man das innere Bild mit dem äußeren in Ein­klang bringt, bis man sich selb­st erken­nt. Man beglück­wün­scht sich für seine offenkundi­ge Gesund­heit und Vital­ität, die dazu geführt hat, dass man sich wie dreißig fühlt, und ist ja doch erschrock­en, und ver­sucht, den Schreck auf die schlechte Beleuch­tung zurück­zuführen. Dabei hat man ja auch gedacht, dass die Katze niemals ster­ben würde, zumin­d­est nicht vor einem selb­st, und dann lag sie eines Tages tot in ihrem Bettchen und sah auch tot aus und gar nicht mehr wie sie selb­st. Die Katze hat­te man fün­fzehn Jahre zuvor angeschafft für die Kinder, dann waren die Kinder aus­ge­zo­gen und man hat­te natür­lich die Katze an der Backe gehabt. Für alle Ewigkeit, hat­te man geklagt, werde man jet­zt für die Katze der Kinder sor­gen müssen, und dann war die Ewigkeit auch schon vor­bei und es tat einem leid, dass man nicht die Wahrheit gesagt hat­te, dass man näm­lich eigentlich ganz froh gewe­sen war, dass die Kinder die Katze nicht mitgenom­men hat­ten. Die Natur kann man nicht betrü­gen und nicht die Biolo­gie oder son­stige Wis­senschaften, wahrschein­lich nicht ein­mal die Philoso­phie, nur die Reli­gion kann man betrü­gen, denn die betrügt ja selb­st, der Glaube kann Berge ver­set­zen, Blinde sehend machen und Lahme gehend, er kann Mate­rien ver­wan­deln, Fis­che zu Wass­er und Wein zu Brot, es wer­den Leiber vergeistigt und Geis­ter ein­ver­leibt. Das ewige Leben gibt es im Glauben, im richti­gen Leben gibt es weiße Haare und Katzen, die plöt­zlich steif wie Bret­ter sind.

Zwanzig Jahre lang steckt man in der Mut­ter­haut, manche kürz­er, manche länger, je nach­dem, ob es Nest­flüchtige oder Nachzü­gler gibt. Während man außen die Mut­ter erhält, die das Kind erhält, geschehen im Inneren Trans­for­ma­tio­nen, für die man im Augen­blick keine Zeit hat und um die man sich später küm­mern wird. Im Inneren entwick­elt sich etwas wie in ein­er Puppe, und eines Tages kommt es her­aus und ist wun­der­bar oder son­der­bar oder furcht­bar. Verklebte Flügel und zusam­menge­quetschte Beine und alles gefal­tet wie ein altes Blatt, die Pup­pen­hülle reißt und es kon­nte so viel schiefge­hen in den Jahren, in denen man vol­lkom­men umge­baut wor­den ist, oder sich selb­st umge­baut hat in gewiss­er Weise, unwissentlich, halb bewusst, vielle­icht ist man schon im Lar­ven­sta­di­um völ­lig ver­dor­rt oder eine Chimäre, nicht Fisch und nicht Fleisch, nicht Mut­ter und nicht Groß­mut­ter, nicht weise und nicht naiv. Während man sein neues Gewand aus dem alten drängt, ren­nen über­all kleine Kinder herum. Sie gehören gle­ichal­tri­gen Män­nern.

Die eigene Mut­ter war natür­lich viel zu jung gewe­sen, als sie einen gekriegt und kurz darauf auch schon zurecht­gewiesen hat, als sie vortäuschte zu wis­sen, wie die Welt funk­tion­iert, was man zu tun habe und was zu unter­lassen jew­eils nach dem neuesten Trend, oder viel zu alt, hat­te nicht mehr die Kraft gehabt, einem eine ordentliche Kind­heit zu bieten mit Auf­sicht, Auseinan­der­set­zung und Aus­flugspro­gramm. Die eigene Mut­ter ist immer schon alt gewe­sen und völ­lig absurd in ihrer Mäd­chen­haftigkeit, aber sie war da, wenn man kotzen musste oder wenn ein Hausti­er im Garten zu bestat­ten war. Man ist natür­lich nicht wie die eigene Mut­ter gewor­den oder manch­mal doch, was beson­ders nervtö­tend ist, wenn die Kinder sagen: Du redest genau wie die Oma. Die eigene Mut­ter hätte natür­lich in wesentlich größer­er Würde altern sollen und ohne Gejam­mer und Lese­bril­lenbe­darf und Gelenksarthrosen. Man sel­ber würde nie etwas anderes als sex pos­i­tive und body pos­i­tive sein und mit sech­sund­ne­un­zig noch über die Boul­der­wand flitzen, dass jed­er den Atem anhält.

Natür­lich hat­te man selb­st auch gedacht, niemals älter zu wer­den, und man war es ja auch nicht gewor­den. Natür­lich hat­te man es lächer­lich gefun­den, sein Geburts­da­tum zu ver­heim­lichen, bis der Tag kam, an dem man es blöd fand, es zu erwäh­nen.

Manch­mal fühlt man sich wie achtzehn. Man kichert herum und spürt den Som­mer­wind an den nack­ten Beinen, der einen auf eine Süd­seein­sel trans­portiert oder zumin­d­est in die Ägäis. Beim Mat­u­ra­tr­e­f­fen sind auf ein­mal keine Lehrer mehr dabei, weil sie alle tot sind. Erneut hält man fest, wie förder­lich es war, in eine reine Mäd­chen­schule zu gehen, da Stu­di­en gezeigt haben, dass diese für Frauen zu besseren Kar­ri­eren führen als gemis­chte Schulen, und in der Tat haben alle Kar­riere gemacht, außer die Himm­linger Ruth, die ist Ver­sicherungs­ber­a­terin, aber da war irgen­deine tragis­che Krankheit mit schuld, Bipo­lar­ität oder Nieren­ver­sagen oder Alko­holis­mus. Die Petra Kapfen­taler, die immer so gut Klavier spielte, erzählt, dass sie die dritte Frau ihres vierten Mannes ist und jet­zt Niss-Kapfen­thaler heißt. Klavier spielt sie nicht mehr, seit einem Fahrradun­fall ist ihr rechter Mit­telfin­ger ganz steif. Die Ver­e­na Leit­ner hat schon sechs Enkelkinder, die ihre bei­den Söhne auf fünf Frauen gerecht aufgeteilt haben. Die Tan­ja Mir­col­ic ist zur ober­sten Ober­rich­terin aufgestiegen, und als jemand sagt: „Ui, da wer­den wir uns nichts zuschulden kom­men lassen in dein­er Gegen­wart!“, erwidert sie: „In meinen Fällen geht es um so viel Geld, da müsstest du erst mal her­ankom­men kön­nen.“ Man beurteilt das Äußere der Anwe­senden automa­tisch, es ist ein Reflex. Man weiß, dass man sel­ber beurteilt wird und fürchtet, dass es mit ein­er Mis­chung aus Mitleid und Genug­tu­ung geschieht. Die hat arge Schlupflid­er gekriegt. Die ist aber in die Bre­ite gegan­gen. Die ist richtig alt gewor­den, schlurft dahin und kann kaum ihr Handy bedi­enen. Wenn eine nicht weiß, was eine App ist, dann ist es vor­bei, dann kann man sich gle­ich in den Sarg leg­en. Die Brille abnehmen, auf­set­zen oder wech­seln beim Lesen müssen fast alle. Und dann gibt es die, die erstaunlich gut in Schuss sind. Die sich gut gehal­ten haben. Glück in der Liebe gehabt? Große Erb­schaft gemacht? Botox, Hal­slift­ing, Fal­te­nun­ter­spritzung? Die Stern­thanner Roswitha zum Beispiel schaut jet­zt viel bess­er aus als damals mit achtzehn, die hat sich gemausert, ist aufge­blüht, vom Entlein zum Schwan meta­mor­phisiert. The­ater­in­ten­dan­tin gewor­den. Na kein Wun­der: Die Meeres­bi­ologinnene­he­frau zu Hause (oder, wie jet­zt ger­ade, auf einem Schiff), täglich junge Ado­ran­tinnen bei der Arbeit, Macht, Fit­ness, Friseur. Außer­dem: Dadurch, dass sie les­bisch ist, wird sie ja auch nicht von Män­nern zer­rüt­tet.

Man spricht darüber, wie die Leute, die man beru­flich ken­nt, nach und nach ver­schwinden, entwed­er durch Pen­sion­ierung oder Tod. Auch einige ehe­ma­lige Mitschü­lerin­nen fehlen. Darmkrebs, Gehirn­tu­mor, Mul­ti­ple Sklerose. Die mit­ge­bracht­en Män­ner ent­ge­hen der Beurteilung keineswegs, üppiges Nasen­haar, fehlen­der Schnei­dezahn, Bier­bauch. Natür­lich gibt es auch Trophäen­män­ner, fesch und gescheit und Wir-gehen-im-Früh­jahr-Trekking-auf-den-Kil­i­mand­scharo. Man weiß, dass solche Män­ner zwangsläu­fig fremdge­hen. Man ist froh, dass man nicht auf diesen Regret­ting-Moth­er­hood-Unfug hereinge­fall­en ist, der ihrerzeit noch Ein-Kind-wird-deine-Kar­riere-zer­stören oder Simone-de-Beau­voir-hat-sich-auch-gegen-Kinder-entsch­ieden-um-sich-stattdessen-für-einen-Mann-aufzuopfern hieß, son­st würde man jet­zt dasitzen wie die Scherkal Andrea, deren einzige engere Bezugsper­son die Schwiegermut­ter ist, die ihr vom ver­stor­be­nen Gat­ten verblieb.

„Das Leben ein­er Frau zer­fällt in zwei Phasen: sex­uelles Belästigtwer­den und sex­uelles Ignori­er­twer­den. Erst wird man jahrzehn­te­lang mit Blick­en pen­etri­ert, dann ist man jahrzehn­te­lang unsicht­bar. Char­mantes Umwer­ben ist etwas, das die Frau dem Mann gegenüber übernehmen muss“, doziert die Kier­linger Ange­li­ka nach ein paar Aper­ol Spritz. Der neue Lebens­ge­fährte der Scheck Anna bag­gert daraufhin die Kier­linger hinge­bungsvoll an, er hat das offen­sichtlich als Auf­trag ver­standen.

Kaum treiben einen die Müt­ter nicht mehr auf die Palme, treiben einen die Töchter auf die Palme. Ständig hockt man auf dieser Palme und ver­sucht, die Kokos­nüsse vor dem Hin­abpras­seln zu bewahren, damit sie nie­man­den ver­let­zen kön­nen. Aber die Kokos­nüsse müssen her­abpras­seln, denn so funk­tion­iert nun mal die Evo­lu­tion.

Im REM-Schlaf ist man immer achtzehn, auf Strand­par­tys, Gebirgspar­tys, Garten­par­tys, auf der Jagd nach dem besten Gefährten. „Auf Aufriss gehen“, sagte man damals.

„Junge Frauen schreiben anders über Lust als alte Män­ner“, ste­ht in der Zeitung. Bei­de Auskun­ft­squellen sind für Frauen über vierzig ziem­lich irrel­e­vant.

Manch­mal fühlt man sich wie achtund­ne­un­zig. Der Him­mel ist him­mel­blau und alle Anrufe sind egal. Man will an den Strand gehen, sofort, im Duft von Geißblatt- und Tamarinden­blüten. Man will aber auch durch den glitzern­den Schnee marschieren, sofort, das Knirschen unter seinen Füßen hören, den Kristall­staub in der Sonne aufwe­hen sehen. Man liest noch ein­mal Robert Frost mit vol­lkom­men neuen Augen. But I have promis­es to keep/ And miles to go before I sleep. Nichts da mit Ver­sprechen hal­ten und weit­erge­hen, man will jet­zt schlafen, sofort. Und dann wieder aufwachen, erfrischt.