Martin Prinz: Albert Camus sagt in seiner Rede in Uppsala am 14. Dezember 1957, die Schönheit könne heute nicht im Dienst einer Partei stehen; sie habe über kurz oder lang „nur dem Schmerz oder der Freiheit der Menschen“ zu dienen. Und er setzt fort: „Vielleicht rühren wir hier endlich an die Größe der Kunst, die in dieser ständigen Spannung zwischen Schönheit und Schmerz besteht. Schönheit und Schmerz, Schreiben und Leben – vielleicht liegt schon in der Setzung dieser Wörter eine Antwort, warum wir es tun? Oder zumindest eine Frage.
Stefan Gmünder: Ganz so, wie das etwa anhand jener „Hauptfigurentherapie“ deutlich wird, die der Therapeut in Birgit Birnbacher jüngstem Roman Ich an meiner Seite am Titelhelden anwendet. Letzterer ist ein junger Mann, der im Gefängnis war und dann im Rahmen eines Resozialisierungsprogramms zu besagtem Therapeuten kommt, der an ihm seine Methode des „Starring-Prinzips“ durchführt. Diese „Hauptfigurentherapie“, wie der Therapeut sie nennt, besteht darin, dass man sich nicht mehr weiter auf das Bild des ehemaligen Häftlings oder des gescheiterten Jugendlichen festlegen lässt, sondern sich eine alternative Person, eine Figur und eine andere, erfolgreiche Geschichte dazu ausdenkt, der man möglichst gerecht zu werden versucht. Um in einem Bild unserer Zeit zu bleiben: Der Therapeut möchte der Hauptfigur eine Impfung gegen das Scheitern verpassen, es funktioniert aber nicht.
Birgit Birnbacher: Dass ich überhaupt angefangen habe mit dieser Methode der Hauptfigurentherapie, war eine Reaktion darauf, dass in den Gesprächen mit der Person, deren Leben ich da aufgeschrieben habe, oder das ich, wenn man so will, literarisiert habe, immer wieder die Frage aufgetaucht ist: Wem gehört die Geschichte? Ich war eigentlich immer jemand, der das Wort Geschichte im Erzählen hasst, ich kann damit überhaupt nichts anfangen, ich konnte auch mit dem Erzählen nie was anfangen und habe mich sehr daran gerieben, nun eine sogenannte Geschichte aufzuschreiben. Das führte direkt in diesen wechselseitigen Prozess der Aushandlung: Wie geht die Geschichte und wem gehört sie? Die Hauptfigurentherapie selbst fasst eigentlich nur unter einem Begriff zusammen, was mir von Leuten, die in der Sozialarbeit tätig sind, erzählt wurde. Das ist keine Erfindung von mir, auch wenn es das Wort dafür noch nie gegeben hat. Doch es fasst Überlegungen darüber zusammen, diese Resozialisierungsprogramme einmal anders anzugehen. Schließlich spielt jeder seine Rolle in der Gesellschaft und so versucht man, diesen Jugendlichen beizubringen, wie sie spielen sollen. Dazu kommt, dass viele dieser jungen Menschen – Männer sind es ja meistens – ihre Geschichte kaum erzählen können. Das wollte ich anhand dieser Therapie verdeutlichen.
Gmünder: Was in dem Zusammenhang wichtig ist. Es gibt im Roman immer wieder Passagen mit Tonbandaufnahmen, die als „Schwarzsprechen“ bezeichnet werden, in denen die Hauptfigur für den Therapeuten die Erlebnisse ihres Lebens aufzeichnet. Das ist für mich etwas, das Erzählen immer schon grundiert hat: Erzählen im Sinne von Wieder-Holen. Und man hat dann doch das Gefühl, dass diese Selbstvergewisserung, das Erzählen der wirklichen Geschichte, sehr viel mehr bringt als alle „Starringtherapien“ dieser Welt.
Birnbacher: Ich glaube, dass das bei uns allen so ist. Sobald wir uns erinnern und sprachlich konstruieren, gibt es oft erst dieses Bestreben nach der Geschichte: Wir wollen uns ja etwas erzählen über das Leben oder über die Idee, wie unser Leben verlaufen ist und warum es so gelaufen ist. Ich glaube schon, dass es dieses Grundbedürfnis gibt, dass wir uns erklären, warum unser Leben so verläuft, wie es verläuft. Aber ich nenne das lieber Konstruktion. Aber Geschichte: mit diesem Wort werde ich im Hinblick auf das Schreiben nicht mehr warm. Prinz Ich würde da gern als Frage an Sie beide einwerfen oder nachfragen. Wenn man davon ausgeht, dass das, was für die Hauptfigur des Romans Ich an meiner Seite als Bestreben nach einer Erzählbarkeit des Lebens gilt, für uns alle gilt. Inwiefern ist dann für Sie beide das Wort Verbundenheit als Möglichkeit, Verbindung herzustellen, wichtig?
Hans Raimund: Verbundenheit … also für mich ist Verbundenheit nicht die erste Motivation für das Schreiben, für mich steht die Tätigkeit des Schreibens, die Sprache im Vordergrund. Das Mitteilen an die anderen kommt irgendwann einmal oder ist auch irgendwann einmal da, aber es ist nicht die erste Motivation.
Prinz: Wie würden Sie, Birgit Birnbacher, das in Ihrer Arbeit gewichten?
Birnbacher: Ich denke, das kann auch Verhältnis zum Leben heißen, das einem als Quelle für das Schreiben dient. Denn, ich weiß nicht, bei mir – wenn Sie sagen Verbundenheit, dann regt sich etwas in mir, das stört mich sofort dieses Wort, weil es eigentlich ein Wort ist, das zu mir nicht gut passt. Ich bin zur Welt gekommen, und zwar im wirklich tiefsten Innergebirg, in Goldegg. Dieser Berg – der touristische Blick findet eigentlich, das sei ein schöner Berg, eine Art Idylle. Doch ich sage immer: „der Todesmantel“ – weil er sich so breit ausbreitet. Ich habe für mich dort, wo ich hergekommen bin, nichts gefunden, um anzuknüpfen. Bei Bernhard etwa spielt ja, wenn er über diese Ortschaften schreibt, das Wort Rücksichtslosigkeit eine starke Rolle. Das ist ein Wort, mit dem ich etwas anfangen kann. Ich glaube, ich war auch immer ein wenig erschüttert über diese Rücksichtslosigkeit. Und ich war umso begeisterter, wenn ich Menschen kennengelernt habe – oder auch gemerkt habe, dass es solche gibt –, die sich auch hinwenden. Und darum würde ich „Verbundenheit“ ablehnen und vielleicht „Resonanz“ dazu sagen. Weil ich darüber immer noch wütend und unzufrieden bin, aber ich muss in Resonanz treten, um den Umgang damit zu finden. Und Resonanz, glaube ich, ist wahnsinnig wichtig. Sonst legt man sich hin und stirbt. Das geht auch.
Raimund: Gerhard Amanshauser hat das einmal wunderschön gesagt: Das einzige für ihn relevante Kriterium von guter Literatur sei, dass sie bezaubert. – Wir reden eigentlich jetzt ununterbrochen davon, was Literatur irgendwie therapeutisch bewirken kann. Was machen wir mit dem Aspekt, dass Literatur einfach schön sein kann? Dass ein Gedicht zauberhaft sein kann, dass eine Erzählung zauberhaft sein kann, das wird momentan in unserer Diskussion völlig vergessen.
Gmünder: Ludwig Hohl hat einmal gesagt, wer jetzt nicht zaubern könne, sei verloren.
Raimund: Also doch der Zauber. Wieder.
Prinz: Ob wir wollen oder nicht, hat Schreiben, hat Erzählen, hat das Gedicht immer mit der Wirklichkeit zu tun. Die Frage ist immer, mit welcher? In dem Text, der uns als Grundton für dieses Gespräch dient, zitiert Albert Camus schließlich Oscar Wilde, bei dem es heißt: „Kein einziger, der mit mir an diesem grässlichen Ort Eingeschlossenen, der nicht eine symbolische Beziehung zum Geheimnis des Lebens unterhielte.“ – Der grässliche Ort ist angesichts seiner Erfahrungen einerseits das konkrete Gefängnis, doch kann das auch austauschbar sein mit der Welt schlechthin. Gleichzeitig setzt er damit noch voraus, dass es so etwas wie gemeinsames Leben, gemeinsame Wirklichkeit, Geteiltes und gemeinsam Definiertes gibt. Was aber würde es bedeuten für das Schreiben, wenn die Welt, auf die wir uns beziehen, keine geteilte mehr ist?
Raimund: Derartige Diagnosen klingen gut, stimmen aber nicht. Also, wir können Verbundenheit erfahren, jederzeit, und ich bewundere meine Nachkommen, die mit den digitalen Medien so umgehen können, wie ich nie umgehen werde können. Ich weiß genau, sie werden mit dieser Welt fertig werden, sie werden zurande kommen mit dieser Welt. Irgendwas fällt weg, geht kaputt und wird durch irgendetwas ersetzt, durch irgendein Werkzeug, das in den Menschen wieder nachwächst. Solche Diagnosen klingen journalistisch wunderbar, heißen aber eigentlich nicht viel.
Birnbacher: Ich glaube schon auch, dass dieses Ringen um die Wirklichkeit ein ganz zentraler Konflikt unserer Zeit ist, und es würde mich wundern, wenn das keine Auswirkungen auf die Texte hätte, die entstehen: Es geht ja immer auch um die Fragen, was ist legitim und was nicht, was wird anerkannt als Quelle und was nicht, wo wird redaktionell eingeschritten und wo nicht? Ich finde, das sind eigentlich ganz spannende Fragen in der Konstruktion von Wirklichkeit.
Raimund: Wirklichkeit ist leider nicht konstruiert.
Birnbacher: Da würde ich heftig widersprechen. Als Soziologin vertrete ich schon die Meinung, dass Wirklichkeit konstruiert wird. Im Gegensatz zur Wahrheit ist Wirklichkeit etwas, das sehr stark auf diesen individuellen Anteil hinweist, den wir ihr auch unterstellen.
Raimund: Ich verstehe den Begriff „Ringen um Wirklichkeit“ nicht. Die Wirklichkeit ist da, und darüber kann ich schreiben oder nicht. Was muss ich da ringen, um was muss ich da kämpfen?
Prinz: Ich würde Ihnen da widersprechen.
Raimund: Ja, tun Sie nur! Deswegen sind wir ja da.
Prinz: Dort, wo es um grundlegende oder innerste Antriebskräfte wie Glück, Unglück, Wut, Enttäuschung, Schmerz, Liebe, Hoffnung oder die Tatsache geht, dass wir von der Welt verschwinden, so wie wir gekommen sind, da ist immer Wirklichkeit. Aber ich weiß auch, dass es oft keine gemeinsame Faktenbasis gibt, wenn gegenwärtig über manches diskutiert wird. Da gibt es solche Sprünge, wie etwa rund um den Begriff der alternativen Wirklichkeit. Es stellt sich dann die Frage: Wessen Wirklichkeit? Und genau darin ist die Erzählbarkeit der Welt dann immer etwas so Politisches wie Literarisches.
Birnbacher: Was Sie sagen, finde ich sehr wichtig, es wird eben nicht mehr diskutiert anhand dieser gemeinsamen Argumentationsbasis. Die Faktenbasis fällt weg, weil einfach ein bestimmter Anteil der Gesellschaft sagt: Das glaube ich aber nicht. Für das literarische Schreiben gilt sicherlich, dass man früher aus einem gewissen Kanon herausgeschrieben hat. Heute, habe ich den Eindruck, wird vieles einfach hineingestellt in die Gegenwart, nimmt nicht mehr Bezug auf eine Vorwelt oder eine Mitwelt.
Raimund: Es gibt keine gesellschaftliche Geborgenheit mehr. Nur ist mir das beim Schreiben eigentlich wurscht! Damit können die Soziologen herumspielen, es ist okay. Die müssen ja auch was machen, aber was hat das mit dem Schreiben zu tun? Ich frage jetzt polemisch, ganz böse.
Gmünder: Herr Raimund, in Ihrem Buch Neigungen schreiben Sie, dass es etwa ab der Pubertät die Romane Dostojewskis, Hamsuns, Gorkis gewesen seien, in denen Sie Lebensmodelle, besser: ÜBERlebensmodelle suchten. In dem Fall also geht es ja im Lesen wie im Schreiben doch immer um alles.
Raimund: Oder um die Modelle, die man in diesen Büchern formuliert findet und die man in sich hat, aber nicht formulieren kann. Aber – und das ist ein Unterschied – bin ich ein Suchender als Leser oder bin ich ein Suchender als Schreiber? Denn das ist etwas anderes.
Birnbacher Ich kann ja auch die Sprache befragen, das ist ein Vorgehen, das mir eigentlich sehr nahe ist. Ich würde mich niemals hinsetzen und mir denken, ich erzähl jetzt diese oder jene Geschichte! Es ist vielmehr so, dass sich ein Wort, ein Satz aufdrängt, und ich frage mich zuerst nicht, was soll das, was ist das, warum tust du das? Ich befrage die Sprache, ich lasse die Sprache laufen und befrage sie im Schreiben, wofür sie steht.
Gmünder Herr Raimund, Sie sagen, Schreiben sei eine schöne Tätigkeit, und doch geht es in der Literatur um etwas – oder sehr oft um etwas –, das nicht da ist: Nicht mehr oder noch nicht. Es ist ein Medium, das ein utopisches Potenzial nach hinten und nach vorne hat. Da geht es dann nicht um Verarbeitung, sondern sehr oft um gelebtes Leben.
Raimund: Durch Schreiben kann ich das, was mir zugestoßen ist, besser verstehen. Ein Leben lang hat mich der Tod meiner ersten Frau beschäftigt, ich habe Jahre gebraucht, bis ich mich getraut habe, darüber zu schreiben. Aber dieses Schreiben hat mir geholfen, damit zu leben. Das schon.
Gmünder: Sie waren damals beide noch ganz jung.
Raimund: Vierundzwanzig war sie, auf der Währingerstraße beim E2 – da hat’s noch eine E2-Tramway gegeben – ist es geschehen. Damals. Ja, da gibt es schon den Begriff der Verbundenheit; dann, ja.
Gmünder: Sie beide hatten damals schon ein Kind.
Raimund: Das Kind war damals drei, ja. Und ich bin sozusagen übrig geblieben. Das Gedicht, es heißt „Warten“, es ist vor Kurzem am Tag der Lyrik von Schauspielern in Triest für den Hörfunk produziert worden. Es wurde wunderschön gelesen ... Ich sitze in dem Gedicht da und warte auf meine Frau, weil sie zurückkommen soll, weil sie einkaufen war, sie kommt stundenlang nicht zurück und ich erfahre dann von der Polizei, dass ein Unfall war und so weiter. Dieser Text ist aus einer Betroffenheit entstanden, er ist gut.
Gmünder: Weil er wahr ist.
Raimund: Ja – na gut, das ist natürlich ein kompliziertes Wort, die Wahrheit. Authentisch ist ein bisschen distanzierter.
Prinz: Wenn es hier, gegen Ende des Gedichts „Warten“ heißt: „Warten, das Wort vergessen, / den vergessen, der nicht mehr kommt, / die Erinnerung an den vergessen, der nicht mehr kommt.“, ist mir im Lesen dieser Zeilen diese Doppelung des Vergessens durch den Kopf gegangen. Und doch stehen hier Worte. Also diese tiefe Kluft zwischen dem Wunsch oder die Selbstaufforderung des Vergessens, das ja fast ein Auslöschen ist, und doch geschieht in diesen Worten das Gegenteil. Das ist etwas, was mich unglaublich berührt hat und wo ich im ersten Lesen sehr bald bei dem Wort der Verbundenheit angelangt bin. Dass hier in der Kluft dessen, was hier steht, und der Tatsache, dass es hier steht, womöglich etwas berührt ist, was Kunst genau dort leisten kann, wo sie existenziell ist.
Raimund: Könnten wir ohne Literatur überhaupt existieren? Brauchen wir das, dass es Gedichte gibt, dass erzählt wird?
Gmünder: Ich schon, was das Lesen betrifft. Plötzlich liest du Texte – das kann ein Trivialroman sein oder ein Epos – und plötzlich merkst du: Das bin ja auch ich, das hat mit meinem Leben, mit meiner Verzweiflung, mit meiner Liebe oder der enttäuschten Liebe, mit meiner Verlusterfahrung zu tun, mit meinen Verlustanzeigen im Ganzen.
Prinz: Mir geistert die ganze Zeit ein Roman durch den Kopf, der für mich einer derer ist, die mir am eindringlichsten davon erzählten, was Literatur sein kann. Die größere Hoffnung von Ilse Aichinger im Wien der letzten Kriegsjahre. Ein Buch, das vor allem eines ist: Unerträglich schön sogar in Momenten, in denen es um unerträgliche Schrecknisse geht. Wo Sprünge über Bombentrichter vom Fliegen wie von der Bombe darunter erzählen. Wo in keinem Satz zu trennen ist, ob es schmerzt oder eben auch schön ist, und ich würde sagen, das lässt sich gar nicht trennen. Und wenn wir vorhin über die Wirklichkeit und all ihre Konstruktionen als das scheinbare Gegenteil von purer Schönheit gesprochen haben, dann haben wir vielleicht im besten Fall die andere Seite der Münze berührt, haben uns dorthin bewegt, sozusagen auf die andere Seite, vielleicht auf die dunklen Seiten, die es immer gibt in den Dingen. Aber die sind ja nicht zu trennen von den hellen.
Birnbacher: Und da, glaube ich, sind wir genau am Punkt, dass Schönheit sich für mich nicht im Bemühen um eine schöne Formulierung abbildet, oder in einer besonderen Masche, die man vielleicht einer Textstelle noch aufsetzt, sondern eigentlich war es immer die Schlichtheit, die mich besonders ergriffen hat, und das, glaube ich, teile ich mit vielen anderen Menschen, weil sobald ein Satz sich verstellt, merkt der Lesende, dass er sich verstellt, dass er sich verrenkt.
Raimund: Na gut, aber der Autor setzt sich ja nicht hin und sagt: Bitte, ich möchte einen schönen Satz schreiben. Er macht es einfach.
Birnbacher: Genau. Mit Absicht entsteht sowieso kein schöner Satz.