Für das nächste Mal wünschen wir uns ein Märchen

Von

Wir schlep­pen for­t­an das Buch mit, wohin wir auch gehen. Mey­ers großes Kinder­lexikon. Wir sind auf den Alt­pa­pier­con­tain­er gek­let­tert und haben gele­sen: zur freien Ent­nahme. Wir inter­essieren uns für schwarze Löch­er und aus­ge­bran­nte Sterne und schla­gen noch im Gehen nach. Wir find­en Milch­straße und Sternze­ichen.
Wir lesen alles über Pilze und lieben Gift, Lamellen und Pilzge­flecht.
Wir stellen uns vor, wie Affen­brot schmeckt.
Wir benei­den Tim, der vor dem Bug eines Frachtschiffes ste­ht.

Wir leg­en uns nebeneinan­der auf den Wald­bo­den, unsere Arme und Beine sind nackt.
Wir hal­ten uns an den Hän­den.
Lassen los.
Wir machen eine Mut­probe, wer es länger aushält, nicht nach der Hand der anderen zu greifen, während wir uns vorstellen, wie unsere Hautschüp­pchen von Mikroben und Pilzen zer­set­zt wer­den.
Wie wir das unter uns pulsierende Myzel ernähren.

Obwohl man die Sonne am milch­weiß gefärbten Him­mel nicht sehen kann, ist die Hitze kaum auszuhal­ten. Ich trage das Hand­tuch, meine Schwest­er trägt einen Badeanzug. Wir begeg­nen kein­er Men­schenseele, doch wir riechen schon von Weit­em den trä­gen Fluss. Seine tief­grüne Duft­spur lockt uns unwider­stehlich an so wie die Kühe, die gierig das nahezu ste­hende Wass­er trinken oder die Kröten, deren Laich
schwarzen Per­len­ket­ten gle­ich
an der Wasser­ober­fläche treibt. Der Bauer ist heute im Holz und so durch­queren wir ungestört seine Wei­den. Wir lassen uns von kleinen blauen Schmetter­lin­gen ablenken und begin­nen zu ren­nen, als Pfer­de­brem­sen an unser Blut wollen. Wir teilen unser Blut mit nie­man­dem und has­sen die Pusteln, auf denen Eit­erblasen wach­sen. Wir has­sen Blut­sauger, auch die mit den schö­nen Namen, wir has­sen Schmetter­lingsmück­en, Sand­mück­en, Herb­st­gras­mil­ben und Gnitzen, wir has­sen Stech­fliegen, Flöhe, Wanzen und Läuse, wir has­sen Zeck­en, Blutegel und Eulen­fal­ter. Wir haben die voll­ständi­ge Liste in unser Buch ein­gelegt, wir haben sie auswendig gel­ernt, wir sagen sie uns vor.
Wir laufen unter­schiedlich schnell, obwohl wir gle­ich lange Beine haben. Ich sehe, wie meine Schwest­er sich ärg­ert, wie sie darum kämpft, nicht in das hek­tis­che Trip­peln der Mut­ter zu fall­en, wie sie ihre Schenkel nach oben reißt, als würde das etwas ändern. Ich ver­langsame mein Tem­po, um den schö­nen Tag nicht zu verder­ben.
An ein­er Stelle versinken unsere Füße bis zu den Knöcheln im morasti­gen Unter­grund, in kleinen Gruben ste­hen ölig schim­mernde Wasser­lachen. Wir hal­ten inne, um sie zu unter­suchen, riechen an der schwarzbraunen Erde, bohren unsere Fin­ger hinein und spülen die Hände mit dem regen­bo­gen­gle­ichen Wass­er. Bevor es zu spät für das Baden ist, besin­nen wir uns, suchen eine Stelle am Ufer, an der keine Kuh­fladen sind, hän­gen unsere Klei­der ins Schilf. Und auf ein­mal denke ich: Du siehst komisch aus in deinem getupften Badeanzug, der sich über deinem leicht gewölbten Kinder­bauch span­nt, und ich blicke an mir herunter und sehe die Rip­pen unter mein­er gebräun­ten Haut. Ich schäme mich nicht, nackt zu sein. Du schnauf­st, als du ver­suchst, an die andere Ufer­seite zu gelan­gen. Ich drehe mich auf den Rück­en und bewege Arme und Beine wie eine Qualle, ich habe das Gefühl, end­los lange so schwim­men zu kön­nen, schließe die Augen, hege den Ver­dacht, mich im Kreis zu bewe­gen und erwarte gle­ichzeit­ig jeden Moment, mit dem Kopf ans Schilf zu stoßen, an die ins Wass­er ragen­den Wurzeln der Wei­den oder an etwas, von dessen Exis­tenz ich nichts wis­sen will.
Das Schwim­men hat uns die Mut­ter schon früh beige­bracht, wir besaßen zusam­men ein Paar orange­far­bene Schwimm­flügel. Eine musste immer brav am Ufer des Bag­ger­lochs sitzen­bleiben und durfte sich nicht rühren, während die Mut­ter die Arme und Beine der anderen bewegte, geduldig, immer schön abwech­sel­nd, so lange, bis wir ihre zwei kleinen Fröschchen waren, die sie get­rost aus den Augen lassen kon­nte. Wir waren trau­rig, als es das Bag­ger­loch auf ein­mal nicht mehr gab, als das Wass­er ver­schwand
ein Park­platz ent­stand
und ein paar flache Hallen, in denen müde Men­schen ein und aus­ge­hen, so hat es uns die Mut­ter erzählt.

Ich bin kein klein­er Frosch, ich bin eine Wür­felqualle, ich verteile mein Gift im Umkreis von Kilo­me­tern, nicht ein­mal die Libellen dür­fen sich der Wasser­ober­fläche näh­ern, denn noch im auf­steigen­den Dun­st ist so viel Gift enthal­ten, dass es umge­hend ihren Flügelschlag lähmt. Meine Ten­takel streifen über den lehmi­gen Grund des Flusses, find­en Zuck­mück­en­larve, Schlamm­röhren­wurm und Posthorn­sch­necke. Blutegel, Wasseras­sel und ab und zu einen müden Fisch. Ich bin eins mit dem Wass­er und fürchte mich nicht.
Wer da schre­it, bist du. Ich richte mich auf, blicke in deine Rich­tung, du winkst aufgeregt, das Wass­er spritzt, ich erschrecke, doch es sind nur die fer­nen, dun­klen Wolken, die du meinst. Ich fürchte mich nicht, auch nicht, als das Grollen meine Ohren erre­icht, immer noch nicht, als ich es blitzen sehe. Jet­zt schreist du nicht mehr, du brüllst, und ich beende das The­ater, indem ich aus dem Wass­er steige, mich mit dir ver­bünde, es ist doch noch fern, sage ich, du zit­terst, hast wirk­lich Angst, ich reiche dir das Hand­tuch, steige, nass wie ich bin, in mein Kleid, helfe dir mit den Schuhen, weil du vor lauter Zit­tern die Schnürsenkel nicht binden kannst.
Wir hal­ten uns an den Hän­den und laufen nach Hause, so schnell wir kön­nen, während schw­er­er Regen auf uns fällt.

Manch­mal spricht die Mut­ter von einem Erleb­nis. Ihr Gesicht begin­nt zu leucht­en wie der Mond. Wir stellen uns den Pavil­lon für die Musik­er vor, der nach Hund stinkt und nur sel­ten benützt wird. Die Mut­ter stellt sich eine weite Wiese vor mit Grup­pen von Leuten, die zur Musik tanzen.
Die Kinder bekom­men Fäh­nchen und die Erwach­se­nen haben Feuerzeuge, erzählt die Mut­ter. Mein Fäh­nchen hat einen gebroch­enen Stab. Eure Groß­mut­ter hat Angst, ich kön­nte mich an den spitzen, lan­gen Holz­fasern ver­let­zen, und sie bit­tet meinen Vater um eine Pack­ung Taschen­tüch­er und löst den Klebe­streifen ab und umwick­elt damit mein Stäbchen und sagt mir, ich solle nun ganz vor­sichtig damit winken, denn es gebe keine Möglichkeit, ein neues Fäh­nchen zu bekom­men, die Aus­gabestelle sei am anderen Ende der Halle und ich würde doch sehen, dass es kein Durchkom­men gebe, also vor­sichtig damit, ja? Und ich nicke und halte mein Fäh­nchen in die Höhe und neige es nach rechts und nach links und die anderen Kinder zer­schnei­den mit ihren Fäh­nchen die Luft, sodass das Papi­er nur so knallt, und auf ein­mal gibt es ein Rumoren und vorne begin­nen die Leute zu schreien und die Beine vor mir rück­en nach vorn und hin­ter mir rück­en welche nach und sie alle rück­en enger zusam­men und auf ein­mal knack­en die Laut­sprech­er und es rauscht und es sir­rt und dann hört man Gedichte und die Leute sind irri­tiert, denn das haben sie nicht erwartet, einige lachen, einige sagen So ein Scheiß und ich sage es nach und meine Mut­ter packt mich am Genick und ich füh­le mich wie ein in die Falle gegan­ge­nes Tier und ver­s­tumme und halte mein Fäh­nchen noch ein biss­chen höher und neige es vor­sichtig nach links und nach rechts und trotz aller Vor­sicht berührt es jeman­den am Kopf und der wis­cht es mit ein­er Arm­be­we­gung weg wie ein lästiges Insekt und dreht sich nach mir um und blickt mir starr ins Gesicht mit zusam­menge­zo­ge­nen Augen­brauen und ich senke meinen Arm und sehe dass das Papi­er einen Riss hat und ich tupfe Spucke darauf aber es ist natür­lich nicht mehr zu repari­eren und es riecht schlecht zwis­chen all den Beinen und auf ein­mal hört man Musik und jemand brüllt in ein Mikrophon und ich lasse das Fäh­nchen fall­en und halte mir die Ohren zu und schließe die Augen und stelle mir vor ich sei woan­ders aber meine Haut spürt dass ich da bin und meine Nase riecht dass ich da bin und die Hand mein­er Mut­ter senkt sich auf meinen Kopf und stre­icht aufgeregt über mein kurzgeschorenes Haar und dann plöt­zlich zieht sie meine Hand vom Ohr und ruft Jet­zt!, jet­zt! jet­zt!, jet­zt endlich! und sie stellt sich auf die Zehen­spitzen und ich sehe ihr erhobenes Kinn und dass sie rote Fleck­en auf dem Hals hat und mein Vater packt mich und ver­sucht mich hochzuheben doch es ist unmöglich ich stecke zwis­chen den Beinen fest und dann legt er seine Hand auf meine Schul­ter wie zum Trost oder wie als Ver­sprechen dass er mir später alles ganz, ganz, ganz genau erzählen wird –

Wir hören mit großen Augen zu.
Wir wün­schen uns für das näch­ste Mal ein Märchen.

Entschuldigung!, Entschuldigung!, Entschuldigung! brüllen wir, als die Mut­ter in einem Anfall damit dro­ht, ihre und unsere Papiere zu ver­nicht­en.

Sie fuchtelt mit einem Feuerzeug vor unseren Gesichtern herum, all unsere Doku­mente hat sie samt den Klar­sichthüllen aus der Mappe geris­sen und auf den Tisch gewor­fen.
Wollt ihr, dass wir ver­schwinden?, kreis­cht sie und jede von uns bekommt eine Ohrfeige, die Wange und Ohrmuschel glühen lässt.
Jede von uns wird an den Haaren geris­sen und jed­er wird ein Tritt ver­set­zt, ehe sie uns unver­mit­telt, wie aus dem Hin­ter­halt, in die Arme schließt und gle­ich darauf weinend zusam­men­bricht.
Ein Häufchen.
Ein Häufchen Elend.
Wir weinen nicht, wir schluchzen, später, nachts, in unseren Bet­ten. Jet­zt müssen wir beweisen, dass wir stärk­er gewor­den sind, dass wir uns vor nichts und nie­man­dem fürcht­en, auch vor unser­er Mut­ter nicht.
Ich bin nicht schlecht, sagt sie, ich bin eure Mut­ter.
Ich weiß, sagt meine Schwest­er.
Ich weiß, sage ich.
Wir helfen der Mut­ter hoch, glät­ten ihr Haar und set­zen uns an den Tisch.
Die Mut­ter liest uns die Doku­mente vor.
Hält uns Geburt­surkunde, Stammkun­denkarte, Meldezettel und Treuepass dicht vor die Augen. Ein Zeug­nis. Eine alte Zug­fahrkarte. Eine Rech­nung, an deren Herkun­ft sie sich nicht mehr erin­nern kann.
Ohne all dies hier seid ihr nichts.
Wir nick­en betreten und sehen zu, wie sie Folie um Folie in eine Schachtel legt. Die Löch­er in den Klar­sichthüllen sehen aus, als hätte man Schmuck von Ohrläp­pchen geris­sen, die Mappe ist nicht länger zu gebrauchen.
Ihr kön­nt sie haben, sagt die Mut­ter, wollt ihr? Wir nick­en, ver­suchen, die ver­bo­ge­nen Ringe zu schließen, die Dellen an den Eck­en zu glät­ten, bedanken uns und warten, bis der Blick der Mut­ter glasig wird und wir in unser Zim­mer ver­schwinden kön­nen.

Wir lassen unsere Fin­gernägel wach­sen, sodass die tiefe Rille zwis­chen Nagel und Fin­gerkuppe zu ein­er Behausung wird
..... für duftiges Moos
......für luftige, dun­kle Walderde
......für fein­ste Rinden­split­ter
und vor allem:
für die blass­blauen Fasern unbes­timmter Herkun­ft

Zwis­chen Asien und Atlas hat kein Astro­naut Platz und wir stre­it­en darüber, ob wir stattdessen Architekt oder Arzt wer­den wollen. Frau Dr. Lange ver­schreibt Andrea ein Medika­ment. Das klingt nicht schlecht, schreiben kön­nen wir. Wenn jemand ein Haus bauen möchte, bespricht er mit einem Architek­ten, wie er sich sein Haus vorstellt. Dann zeich­net der Architekt, wie es außen und innen wer­den kön­nte. Zeich­nen kön­nen wir nicht so beson­ders, nur Blu­men, und wir bezweifeln, dass man damit als Architekt weit kommt.
Wir ver­suchen es weit­er hin­ten. Heldin würde uns gefall­en.
Heldin­nen gibt es hier nicht, auch keine Helden. Hexe, Handw­erk­er, Gas­tar­beit­er. Wir sehen uns die Geburt an. Sie ist keine blutige Angele­gen­heit. Fußgänger. Wir wis­sen natür­lich, dass das kein Beruf ist. Förster. Fleis­ch­er. Fam­i­lie. Ich finde so eine große Fam­i­lie schön, wenn man genug Platz hat und sich gut ver­ste­ht, meint Mut­ter. Wir sind nicht sich­er, ob wir eine große Fam­i­lie sind. Wir sind nicht sich­er, ob wir uns gut ver­ste­hen. Die Fam­i­lie ist nicht abge­bildet, wir sehen uns den Fallschirm, den Falken, das Fahrrad und die Fab­rik an. Wir find­en Frank blöd, weil er auf der Wiese herum­liegt und idi­o­tis­che Fra­gen stellt.
Ich schlage vor, mit rotem Stift eine Heldin einzu­tra­gen. Zwis­chen Heizung und Herd hat eine Zeile Platz. Ich kön­nte schreiben: Ich muss jeman­den ret­ten, sagt Heike, obwohl es gefährlich ist, und sie schafft das. Meine Schwest­er möchte nicht. Wir kön­nten Heike als Heldin an den Herd stellen, neben dem Herd sind zwei Fin­ger­bre­it Platz, wenn wir Heike nicht anmalen, bleibt sie beige wie der Hin­ter­grund und star­rt in den Topf, in dem irgen­det­was kocht. Meine Schwest­er möchte das nicht. Wir kön­nten ein Blatt ein­le­gen und in aller Ruhe Heikes Helden­tat­en beschreiben. Meine Schwest­er möchte das nicht. Meine Schwest­er möchte, dass das Buch bleibt, wie es ist. In mir kocht Wut hoch. Ich starre auf den Topf auf dem Herd und auf die Tol­lkirsche und auf den Fin­ger­hut, die unver­ständlicher­weise bei den Heilpflanzen abge­bildet sind, denn wer weiß schon, was eine winzige Menge ist – wer dieses Buch ernst nimmt und keine Blät­ter ein­legt und Ergänzun­gen vorn­immt, sich­er nicht, der liest Heilpflanze und ist zu faul zum Weit­er­lesen und sieht sich das Bild von der Tol­lkirsche an und geht in den Wald und stirbt unter elen­den Krämpfen. Meine Schwest­er heult, obwohl ich sie nicht ein­mal berührt habe. Ich schließe das Buch und werfe es ihr in den Schoß, jet­zt heult sie noch mehr. Ich krieche unter das Bett zu meinen Lis­ten und schreibe in Großbuch­staben Heldin und has­se den Namen Heike und schreibe, dass Hele­na große Tat­en voll­bringt.