Mir steckt die Gegenwart im Hals

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Ich bin ein Spuren­ver­wis­ch­er, ein Hochsta­pler, ein Schrift­steller kurzum. Lässt sich so die Frage beant­worten, die mir neulich ein Bekan­nter stellte: „Wie würdest du dich posi­tion­ieren?“ Das Wort Posi­tion erin­nert mich an Pose, an Posse – und vielle­icht kommt mir auch deshalb der Hochsta­pler in den Sinn. Sofort habe ich einen Satz auf der Zunge, der mich seit Jahren begleit­et, einen Satz aus Diderots Rameaus Neffe: „Ich sehe nur um mich her und set­ze mich in meine Posi­tion, oder ich erlustige mich an den Posi­tio­nen, die ich andre nehmen sehe.“ Auch an den Begriff Posten muss ich denken, vor allem in der Kind­heit bekam ich das Wort oft zu hören, die oder der haben einen tollen Posten, schade, rasch haben sie den Posten wieder ver­loren. In mein­er Jugend dann: Stell dich auf die Hin­ter­füße, mach was, du leb­st nur so in den Tag hinein, denk an die Zukun­ft, ein guter Posten ist wichtig, wie willst du son­st dein Leben bestre­it­en? Das Gegen­teil von einen guten Posten zu ergat­tern hieß, als Hil­f­sar­beit­er zu enden, irgend­wo „auf dem Bau“, in einem Span­plat­ten­werk, bei einem Zim­mer­er oder als Bier­fahrer.

Das alles blieb mir erspart, aber was heißt hier erspart? In welchen Häusern wür­den wir wohnen und mit welchem Mobil­iar und so ganz ohne Bier? Ich habe tat­säch­lich viele Jahre in einem Skiver­leih gear­beit­et, Skischuhe geschrubbt, sie desin­fiziert und auf einen Schuhtrock­n­er gehängt, sie wieder abgenom­men und in Regale gestellt, ich weiß nicht mehr, wie viele Schuhe es waren, aber­tausende bes­timmt. Und noch heute habe ich manch­mal einen Stinkstiefel­geruch in der Nase, Erin­nerung an ein früheres Leben. Ich habe keine Lehre abgeschlossen, die Uni­ver­sität einige Monate lang im wahrsten Wortsinn bloß besucht, war also Gast in einem Leben, das für mich keine Möglichkeit darstellte. Die Lit­er­atur jedoch begriff ich als ein Spiel mit Möglichkeit­en, ein Spiel mit Masken, sie lehrte mich Alter­na­tiv­en, lehrte mich Auf­brüche, Ankün­fte. Sie wurde mir Fluchthelferin, selb­st wenn ich die Gefahr noch nicht erah­nte, sie trieb mich an und ließ mich ins Leere laufen, düpierte meine Denkge­wohn­heit­en, feite mich vor vor­eili­gen Schubla­disierun­gen; immer wieder war sie mir Fal­l­en­stel­lerin, auf sicheren Wegen wäh­nte ich mich, als sich plöt­zlich mit weni­gen Worten ein Abgrund auf­tat. Ich dachte nicht an die Zukun­ft, mir steck­te die Gegen­wart im Hals, ich wollte sie erbrechen, ich set­zte alles auf eine Karte, ich wollte, was ich tat: schreiben.

Das hat nun so gar nichts mit Beru­fung zu tun, son­dern ver­dankt sich dem Umstand, dass ich mich in die Gegen­wart immer erst hinein­buch­sta­bieren muss, um sie mir greif­bar zu machen, hineinzweifeln muss ich mich, nach jedem Aufwachen, Wort für Wort set­zt sich ein Hier und Heute zusam­men. Das mag hochtra­bend klin­gen, pathetisch gar, ist aber bloß meinem Wun­sch nach Neuan­fän­gen geschuldet, lit­er­arischen Wahlver­wandten gewiss auch, nicht zulet­zt mein­er Kind­heit.

*

Vor mir ein Berg, hin­ter mir ein­er, links ein Berg, rechts ein ander­er, dieses Bild stellt sich mir ein, wenn ich an meine Kind­heit denke. Aufgewach­sen im Tirol­er Unter­land, im Brix­en­tal, im Schat­ten des Hah­nenkamms wurde mir dieses Bild zur Sprungfed­er für Träume, Fan­tasien, nicht zulet­zt für meine Neugi­er. Es muss noch etwas anderes geben als diese Berge, dachte ich, etwas anderes als Wachs­geruch in der Nase, etwas anderes als rote Tore, blaue, und jeden Tag Ski­club­train­ing und jedes Woch­enende ein Skiren­nen, fünf vier drei zwo eins ab, fünf vier drei zwo eins ab, und runter den Hang, Zweit­er ist Let­zter, Zweit­er ist Let­zter, das war die Parole, mit der uns der Train­er in den Ohren lag.
Ja, es muss etwas anderes geben als die Sorge um aus­ge­lastete Hotel­bet­ten, als Nach­barn, die saison­lang mit ihren Kindern in die Keller ziehen, um ihre Schlaf- und Kinderz­im­mer an Gäste zu ver­mi­eten. Etwas anderes als post­saisonalen Baulärm und die herb­stliche Zurüs­tung auf die näch­ste Win­ter­sai­son, schlicht etwas anderes als das Wort Sai­son, das wie ein Sesamöffnedich ver­wen­det wird.

Etwas anderes als arg­wöh­nis­che Blicke, die all jene trafen, die sich dem Ganzen ent­zo­gen, und die gab es freilich auch, solche, die sich abseits ein­er Melange aus Blas­musik und Hardrock­klän­gen für andere musikalis­che For­men inter­essierten, für Büch­er gar, oder soge­nan­nte Zua­groaste. Let­ztere fie­len auf, das hat sich bis heute nicht geän­dert. War ich ein­er von ihnen? Gewis­ser­maßen ja. Auf­grund der Herkun­ft meines Vaters sprach ich zuhause Hochdeutsch, kaum hat­te ich die elter­liche Woh­nung jedoch ver­lassen, redete ich im Dialekt, früh lernte ich, die Sprachebe­nen zu wech­seln, eine Fähigkeit, wenn es denn eine ist, die ich noch heute beherrsche. Mein Vater zog Beethoven Mozart vor, meine Mut­ter kon­nte da nur protestieren, und bei­de lasen, Tol­stoi, Dos­to­jew­s­ki, aber auch Dante Alighieri, erin­nere ich mich und sofort fällt mir ein, wie alleine die Namen der Schrift­steller meine Fan­tasie anregten.

Mein Lieblings­buch im elter­lichen Bücher­re­gal war Mey­ers Uni­ver­sallexikon, in dem ich mich stun­den­lang ver­tiefen kon­nte – und dadurch so manch­es Ski­club­train­ing ver­säumte. Als Grund für mein Fehlen wagte ich, das Lexikon allerd­ings nicht zu nen­nen, ich erfand Geschicht­en, die zumin­d­est für mich plau­si­bel klan­gen, ich schwadronierte, ich war ein ander­er. Ich ver­wan­delte mich und spürte, dass Worte dies ermöglicht­en. Ob der Train­er mir die Geschicht­en abnahm, weiß ich nicht, sehr wohl aber, dass er mich ohne­hin nicht als kün­fti­gen Ski­welt­meis­ter ein­stufte, was ihn mir plöt­zlich sehr sym­pa­thisch macht.

In der Tat ein sym­pa­this­ch­er Mann, denke ich heute, ein Train­er, der seine Posi­tion sehr ern­st­nahm und damit auch wusste, worauf es ankommt im Leben – auf Anerken­nung. Und so nahm er jeden aus der Train­ings­gruppe, auch den Schlecht­esten, zumin­d­est zweimal im Win­ter mit zu einem Bezirkscupren­nen, um ihm zu danken für seinen Ein­satz im Train­ing. Vielle­icht hätte er sog­ar am wahren Grund für meine Abwe­sen­heit Gefall­en gefun­den, ja, ich hätte ihm erzählen sollen, was mich umtrieb: Worte, in deren Klang ich rote Tore und blaue Tore hin­ter mir ließ, ich war sozusagen über alle Berge, wenn ich das Lexikon auf­schlug und Begriffe aneinan­der­rei­hte zu ein­er Zauber­formel, die ich laut vor mich hin sprach: Mada­gaskar, Maracu­ja, Mare inter­num.

All das kommt mir jedes Mal in den Sinn, wenn ich in einen Zug ein­steige, um ins Dorf mein­er Kind­heit zu fahren. Vieles hat sich dort verän­dert, die Hotels sind größer, die Sor­gen um die Aus­las­tung wohl auch, die alten Torstan­gen aus Bam­bus sind Kipp­stan­gen gewichen, unverän­dert die Parolen und das blanke Entset­zen, wenn die Touris­ten aus­bleiben – ein­er­lei, Mada­gaskar, Maracu­ja, Mare inter­num, Hah­nenkamm ich komme, rufe ich mir dann zu.

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Meine let­zte Begeg­nung mit ihr liegt einige Jahre zurück, müde vom Schul­terk­lopfen und Hän­de­schüt­teln, von belan­glosen Gesprächen und ver­meintlich wichti­gen Begeg­nun­gen, trat ich aus ein­er der Messe­hallen in Frank­furt auf die Ter­rasse hin­aus, um eine Zigarette zu rauchen. Es war ein grauer Tag, ich zog mir die Kapuze des Parkas über den Kopf, die Wolken hin­gen tief, und ein­mal mehr fragte ich mich, was ich auf ein­er Buchmesse zu suchen hat­te. Men­schen mit Mobil­tele­fo­nen huscht­en an mir vor­bei, mit Note­books, Büch­er­stapeln und Ver­lagskat­a­lo­gen, jede und jed­er augen­schein­lich in ein­er unab­d­ing­baren Mis­sion unter­wegs, ern­ste Mienen, ziel­stre­bige Blicke, kurzum, ich kam mir ver­loren vor, mehr noch, völ­lig fehl am Platz. Meine Lesung kam mir in den Sinn, die Mod­er­a­torin und ihre Fra­gen, die alles meinen kon­nten, nur nicht mein Buch, ich über­legte mir ern­sthaft, abzureisen, da sah ich sie plöt­zlich, über­lebens­groß tauchte sie hin­ter ein­er über­dacht­en Lese­bühne auf, in unge­lenken Bewe­gun­gen steuerte sie die Mitte des Platzes an, drehte sich dort langsam im Kreis und wink­te mir zu. Sofort hat­te ich die Titelmelodie im Ohr, dachte an Lachgeschicht­en, Sachgeschicht­en, sah mich im elter­lichen Wohnz­im­mer auf der Couch sitzen, vor einem Schwarzweißfernse­her, der damals Farbe in mein Leben brachte. Farbe und Trost, wobei ich nicht mehr weiß, wovon ich in der Kind­heit getröstet wer­den wollte, es vielle­icht nicht mehr wis­sen will, weil das nur Fra­gen aufwürfe, auf die es zweifel­hafte Antworten geben würde, aber tröstlich war es alle­mal, die Maus auf dem Messegelände zu erblick­en, meine Stim­mung änderte sich umge­hend.

Und just in dem Moment, als die Maus auf­tauchte, gesellte sich ein alter Fre­und und Wegge­fährte neben mich auf die Ter­rasse, ich las in seinem Gesicht, dass er ähn­lich emp­fand wie ich, ihm steck­te die Gegen­wart im Hals, als wollte er sich im näch­sten Moment hin­aus­brüllen, was reine Inter­pre­ta­tion ist, aber er wink­te entsch­ieden zurück. Du musst wach bleiben, sprach ich mir inner­lich zu, wach und uner­schrock­en, die eingeschla­gene Rich­tung, so sehr sie nur eine Möglichkeit war, sie ist beizube­hal­ten, und wenn dir das erneut einen Umweg über die Ver­gan­gen­heit abnötigt.

Blicke ich zurück, waren die frühen 1970er-Jahre wed­er bunt noch schwarzweiß, sie waren schlicht grau. Zumin­d­est empfinde ich das heute so und schaue ich mir Fotografien aus jen­er Zeit an, bestäti­gen die Bilder meinen Ein­druck. Grau war auch der dominierende Farbton in Fil­men, graue Män­tel, graue Hüte, graue Kostüme, graue Nachricht­en­sprech­er, die ich nicht voneinan­der unter­schei­den kon­nte, für mich sahen sie alle gle­ich aus. Meine Groß­mut­ter, ich erin­nere mich genau, wusste sich zu helfen, sie span­nte eine Farb­folie vor ihr Fernse­hgerät, der Effekt war faszinierend wie irri­tierend zugle­ich, ein Far­ben­brei, in dem jede Hand­lung absoff. Schön anzuse­hen war das nicht, und ich frage mich, in wie vie­len Haushal­ten es wohl solche Farb­folien gab – in dem mein­er Eltern nicht. Freilich dien­ten die Folien nur als Über­gangslö­sung, auf so manch­es wurde verzichtet, um sich irgend­wann einen Farbfernse­her leis­ten zu kön­nen, am besten einen mit Fernbe­di­enung, was sich mir nicht ganz erschließt, gab es doch nur zwei Kanäle, damit zappt es sich nicht lange.

Dieser Grau-in-Grau-Tristesse ent­floh ich nur allzu gerne, eine Möglichkeit dazu bot Die Sendung mit der Maus. Jede Folge sehnte ich her­bei, lehrte sie mich doch, über den Teller­rand zu schauen und Neu­land zu ent­deck­en, ein Blick zur Seite genügte, schon war die Wirk­lichkeit eine andere. Das war mir in der Kind­heit gewiss nicht bewusst, aber als ich in Frank­furt die mir zuwink­ende Maus sah, emp­fand ich das als eine Art Befreiungss­chlag, den ich vielle­icht auch als Kind emp­fun­den haben muss. Bester Laune ver­ließ ich die Ter­rasse, schlen­derte durch die Hallen, von Stand zu Stand, die Maus vor Augen, die Titelmelodie in Ohren, immer wieder zur Seite blick­end, Neu­land ent­deck­end.

Die Spuren, die ich ver­wis­cht und wieder freigelegt habe, sie führen zu Orten und Men­schen, weil Lit­er­atur für mich ein Spiel mit Möglichkeit­en ist. Ver­gan­gen­heit ist in Gegen­wart gelebte Zeit, las ich ein­mal, und ich buch­sta­biere mich wieder hinein in eine Gegen­wart, zwei­fle mich hinein, während ich am Schreibtisch sitze, eine Fotografie vor mir. Auf ihr zu sehen eine Nach­bil­dung der Maus aus Kind­heit­sta­gen, in einem Beet am Straßen­rand, wer hat sie dort platziert und in welch­er Inten­tion? Ein­er­lei, die Maus winkt mir zu, und ich kehre über Frank­furt noch ein­mal ins Grau mein­er Kind­heit zurück, ins elter­liche Wohnz­im­mer, es wirkt mit einem Mal viel größer und heller. Der Schwarzweißfernse­her hat aus­ge­di­ent, ein neuer Appa­rat mit Fernbe­di­enung liefert far­bige Bilder, die Maus greift zu einem Bleis­tift, spitzt ihn zwis­chen den Zäh­nen, ich ahne es bere­its, nun heißt es wieder, eine Woche zu warten. Ich schließe kurz die Augen, öffne sie erneut, lese das Wort Maus, das M zer­fällt und rieselt herab, nur noch drei Buch­staben jet­zt vor mir, aber ich weiß, auch das ist ein Neuan­fang – aus.