Meine erste Falafel

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An meinem achtzehn­ten Geburt­stag erwachte ich in Jerusalem. Als ich die Treppe eines Hotels hin­un­terkam, standen junge Men­schen aus allen Län­dern der dama­li­gen Europäis­chen Union da und grat­ulierten mir. Sie san­gen ein Ständ­chen, ich bekam ein weißes T-Shirt, auf dem Hard Rock Peace in the Mid­dle East stand. Darauf waren drei Kamele zu sehen, auf denen drei Män­ner in unter­schiedlichen Tra­cht­en saßen, an ihren Hälsen hin­gen Ket­ten, ein David­stern, ein Kreuz, ein Halb­mond. Ich war spät dran, der Bus wartete bere­its, das Früh­stück hat­te ich ver­schlafen, aber das machte nichts. Ich war Veg­an­er, für mich gab es meis­tens nicht viel, was schon beim ersten Aben­dessen in Straßburg aufge­fall­en war, ich war ein sel­tener und selt­samer Fall, das gefiel mir.

In einem Bus fuhren wir ans Tote Meer. Wie im Schul­bus saß ich ganz hin­ten und ahmte bisweilen unseren Reise­be­gleit­er nach, der John­ny hieß und seine Betra­ch­tun­gen mit In my hum­ble opin­ion, and I’m not hum­ble at all … einzuleit­en pflegte. Der 20. Mai 1997 war warm und son­nig, das Meer lag spiegel­glatt vor uns. Es war, wie ich es aus Erzäh­lun­gen kan­nte, und doch unglaublich: Man kon­nte nicht unterge­hen, selb­st wenn ich nach unten tauchen wollte, war da eine Kraft, die mich wieder nach oben zog. Man kon­nte tat­säch­lich ein­fach auf dem Wass­er treiben, Zeitung hat­te ich keine dabei, jede kleine offene Wunde bran­nte, und man kon­nte, beson­ders wenn man zum Tagträu­men neigte, tat­säch­lich im Wass­er ein­schlafen.

Als ich erwachte, war nie­mand von mein­er Gruppe zu sehen, dafür sah ich israelis­che Sol­datin­nen über eine Böschung kom­men, die Uni­for­men ausziehen und in Biki­nis lachend ins Wass­er laufen. Sie gefie­len mir außeror­dentlich gut, obwohl für mich natür­lich fest­stand, niemals zum Mil­itär zu gehen, auch wenn ich vor kurzem als fliegertauglich eingestuft wor­den war. Bei der Musterung in Graz hat­te mir der Berater für den Zivil­dienst diesen in etwa mit densel­ben Argu­menten auszure­den ver­sucht, die meine Fre­unde bei unseren immer häu­figer wer­den­den Stre­it­ge­sprächen gegen mich ins Tre­f­fen führten, Argu­mente, die sie von ihren Vätern und Großvätern hat­ten — ob ich auch dann keine Waffe zur Hand nehmen würde, wenn unser Land ange­grif­f­en, meine Mut­ter oder Schwest­er oder Fre­undin von einem frem­den Sol­dat­en drangsaliert würde, der­gle­ichen. Ich war als Erster ins Bett gegan­gen, während die anderen jun­gen Män­ner aus mein­er Kle­in­stadt auf eine Sauf­tour und ins Bor­dell gin­gen. Am näch­sten Mor­gen war ich absichtlich länger unter der Dusche geblieben, und zwar so lange, bis ein Offizier kam, um mich anzuherrschen, es sei längst Früh­stück, ich lächelte nur und trödelte demon­stra­tiv weit­er, ich war ja kein Gefan­gener. Den Zivil­dienst würde ich nie antreten, aber das wusste ich an meinem achtzehn­ten Geburt­stag noch nicht. Die Sol­datin­nen sahen sehr sportlich aus, ath­letisch, gebräunte Kör­p­er, älter und bes­timmt erfahren­er als ich, sie waren laut und aus­ge­lassen, ich ließ mich noch etwas treiben und die jun­gen Frauen, die mir trotz­dem unerr­e­ich­bar ent­fer­nt schienen, nicht aus dem Auge.

Ein paar Tage zuvor war ich in den See Genezareth gesprun­gen und hat­te beim Ein­tauchen und dann bei den ersten Zügen unter Wass­er ein Gefühl von Frei­heit und Ein­ver­ständ­nis mit mir selb­st gespürt, das ich mir für immer merken wollte. Das Wass­er war türkis, ich weit weg, bald würde ein neues Leben begin­nen, aufre­gend und funkel­nd und weit weg von dem Ort, an dem man mich zu ken­nen meinte. Etwas in mir hat­te jubiliert.

Ich stieg aus dem Wass­er des Toten Meeres, zog mich um und ent­deck­te einen Imbiss­stand. Dass die anderen aus mein­er Gruppe nicht zu sehen waren, störte mich nicht. In der kleinen Küche der Bude standen eine dicke schwarze Frau, die Mitte Vierzig sein mochte, jeden­falls war sie um einiges älter als ich, und eine atem­ber­aubend schöne junge Frau, auch schwarz, die ein paar Jahre älter als ich sein mochte. Ich fragte, ob es etwas ohne Fleisch und tierische Pro­duk­te gebe. Falafel, sagte die Ältere, die offen­sichtlich das Sagen hat­te, viel und laut lachte. Ich fragte noch ein­mal nach, und nach­dem man mich beruhigt hat­te, bestellte ich Pita Falafel, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass heute mein Geburt­stag sei. Tat­säch­lich? Die Frau wollte einen Beweis sehen, ich zeigte ihr einen Ausweis, der über der Liste der nicht veg­a­nen E-Num­mern steck­te. Sie schenk­te mir die ersten Falafeln meines Lebens und fragte die jün­gere Frau grin­send, ob sie mir nicht einen Geburt­stagskuss geben wolle. Die beugte sich aus dem Inneren der Bude und küsste mich. Als ich den Bus mit den anderen fand, die lange auf mich gewartet hat­ten, war mein weißes Gesicht wahrschein­lich leicht gerötet.

 

Ich war kein guter Schüler, jeden­falls kein streb­samer, ich lernte nur, wenn es wirk­lich sein musste, hat­te aber niemals andere Prob­leme als diszi­plinär­er Natur. Ich war groß und Fußballer, trainierte vier Mal die Woche, musste jeden zweit­en Fre­itag oder Sam­stag nicht in die Schule, weil wir ein Auswärtsspiel hat­ten, ein­mal im Monat bekam ich in einem Hin­terz­im­mer ein Kuvert mit fünfhun­dert bis tausend Schilling über den Tisch geschoben. Ich war Veg­an­er gewor­den, trank seit zwei Jahren keinen Alko­hol mehr, hat­te mit sechzehn mit dem Rauchen aufge­hört, auf einen Train­er hörend, der dem Fün­fzehn­jähri­gen gesagt hat­te, wolle er Fußballer wer­den, müsse er die Zigaret­ten weg­w­er­fen.

Eines Tages erzählte meine Deutschlehrerin im Unter­richt von ein­er Auss­chrei­bung für einen Essay­wet­tbe­werb, Europa gegen Ras­sis­mus, Anti­semitismus und Xeno­pho­bie, das seien doch The­men, die mich inter­essierten, und ich schriebe gut, ob ich nicht daran teil­nehmen wolle. Ich schrieb gern und viel, bei Schu­lar­beit­en wählte ich immer die freien The­men, las nie die Büch­er, die wir lesen soll­ten, son­dern die, die ich lesen wollte, und als der Kapitän der Kampf­mannschaft eines Tages mit einem Play­boy in den Bus stieg, saß ich weit­er hin­ten und las Hand­kes Wun­schlos­es Unglück. Und was war der Play­boy gegen das soge­nan­nte Sex­heft, das ich zu einem Geburt­stag bekom­men und gut unter meinen Com­put­erzeitschriften ver­steckt hat­te.

Ich set­zte mich an meinen Com­put­er, der seit kurzem wun­der­bar­erweise mit dem Inter­net ver­bun­den wer­den kon­nte, und es war tat­säch­lich ein Wun­der, dass die Nachricht, die ich einem Fre­und in Michi­gan schick­te, diesem im sel­ben Moment zugestellt wurde. Auf der Tas­tatur des Com­put­ers schrieb ich auf Englisch ein soge­nan­ntes Zine, in dem es um Hard­core ging, um Veg­an­is­mus und gegen den Kap­i­tal­is­mus, dazu ver­fasste ich Texte über Camus und die Revolte und den Mythos von Sisyphos, all­ge­meine Betra­ch­tun­gen und melan­cholis­che Gedichte, die auf Englisch ehrlich­er klan­gen als auf Deutsch, es ging um alles. Finanziert wurde die Zeitschrift, die ich selb­st set­zte und druck­en ließ und mit der Post in die ganze Welt ver­schick­te, von Anzeigen divers­er Labels, denen ich eine vielfach höhere Auflage angab, als meine Pub­lika­tion tat­säch­lich hat­te. Dazu bekam ich beina­he täglich CDs und Plat­ten zur Besprechung, die ich auch verkaufen kon­nte, Briefe von Leserin­nen und Lesern, auf meine Briefe und Post­sendun­gen klebte ich Marken, die ich mit Wass­er von an unseren Haushalt adressierten Briefen löste, nach­dem ich die Stem­pel von ihnen radiert hat­te. Den klas­sis­chen Ladendieb­stahl hat­te ich mit meinem sechzehn­ten Geburt­stag aufgegeben, ich war jet­zt straf­fähig, und beina­he alle meine Fre­unde waren, im Gegen­satz zu mir, zumin­d­est ein­mal erwis­cht wor­den.

Das beige Tele­fon mit ein­er Wählscheibe hing an der Wand neben dem Klavier in unserem Wohnz­im­mer; wenn meine Großel­tern nebe­nan tele­fonierten, beka­men wir kein Freize­ichen, kon­nten also nicht tele­fonieren, und umgekehrt. An diesem Tag läutete das Tele­fon, meine Mut­ter rief nach mir, ein Anruf aus Wien. Ich nahm den Hör­er und hörte, ich hätte bei dem von der Europäis­chen Union aus­geschriebe­nen Wet­tbe­werb Europa gegen Ras­sis­mus, Anti­semitismus und Xeno­pho­bie den ersten und den zweit­en Preis gewon­nen.

Am 12. Mai 1997 veröf­fentlichte, wie ich im noch viel wun­der­bar­er gewor­de­nen Inter­net gefun­den habe, die Öster­re­ichis­che Presseagen­tur unter dem Titel „Bur­gen­ländis­ch­er Schüler gewin­nt EU-Auf­satzwet­tbe­werb“ eine Pressemit­teilung:

 

Wien (OTS) - Der Sieg im Auf­satzwet­tbe­werb des Europäis­chen Par­la­ments „Europa gegen Ras­sis­mus“ ging an einen bur­gen­ländis­chen Schüler, den 18-jähri­gen Clemens Berg­er. Der Auf­satz des Mat­u­ran­ten am BG Ober­schützen wurde als Bester aus nahezu 120 einge­sandten Beiträ­gen aus­gewählt. Dieser Wet­tbe­werb fand unter Ehren­schutz des Präsi­den­ten des Europäis­chen Par­la­ments, Her­rn Jose-Maria Gil-Rob­les, statt.

Schüler zwis­chen 16 und 18 Jahren aus allen EU-Staat­en waren aufgerufen, in kurzen Auf­sätzen ihre per­sön­liche Sicht der Phänomene Ras­sis­mus, Frem­den­feindlichkeit und Anti­semitismus darzule­gen und mögliche Gegen­strate­gien aufzuzeigen. Der öster­re­ichis­che Gewin­ner Clemens Berg­er überzeugte neben sein­er pro­fun­den Analyse vor allem durch seinen sehr per­sön­lichen und engagierten Zugang zu diesem The­ma.

Als Siege­spreis wurde von den Ver­anstal­tern eine 2-wöchige Reise zur Ver­fü­gung gestellt, die neben einem Besuch der EU-Insti­tu­tio­nen in Brüs­sel und Straßburg einen ein­wöchi­gen Stu­di­en­aufen­thalt in Israel umfaßt. Clemens Berg­er tritt heute seine Reise nach Straßburg an, wo er mor­gen, Dien­stag den 13. Mai gemein­sam mit den 14 anderen Gewin­nern vom Präsi­den­ten des Europäis­chen Par­la­ments zur Preisver­lei­hung emp­fan­gen wird. […]

 

Eine Woche vor meinem achtzehn­ten Geburt­stag wurde uns also in Straßburg der Preis ver­liehen, in Form ein­er Urkunde, wie ich mich zu erin­nern meine. Auf den bei­den Fotos, die ich gefun­den habe, ste­ht der Par­la­mentspräsi­dent in der Mitte, groß, graubär­tig, mit ovalem Kopf, der oben kahl ist, und leicht abste­hen­den Ohren, sein blaues Sakko ist zugeknöpft und span­nt etwas. Er ist von Schü­lerin­nen und Schülern umgeben, hin­ter denen in einem dun­klen Saal, in dem ein Mon­i­tor mit Abstim­mungsergeb­nis­sen zu sehen ist, die Fah­nen der Staat­en der Europäis­chen Union ste­hen. Aus jedem der Län­der waren zwei junge Men­schen gekom­men, aus Öster­re­ich war nur ich angereist, Erster und Zweit­er in einem. Und so ste­he ich da in einem schwarzen Pullover, der Kra­gen eines orangen Polos ist zu sehen, eine schmale, dop­pelte, eng am Hals anliegende Kette aus Holzperlen, der Blick ernst und leicht abwe­send, im kurzen, leicht gewell­ten, zur Seite frisierten Haar keine Spange, wie ich sie damals gern trug, vor allem weil sie Wider­willen und Spott erregte, unmännlich, hieß es. Nach sein­er Rede hat­te der Par­la­mentspräsi­dent gefragt, ob es Fra­gen gebe, ich hat­te aufgezeigt und wis­sen wollen, ob die Europäis­che Union nicht in erster Lin­ie für die Wirtschaft und die großen Konz­erne da sei.

Der wahre Preis war für mich die Reise nach Israel, so weit weg war ich nie gewe­sen, die Stät­ten der Europäis­chen Union hat­ten wir schon mit der Schule besucht. Ich erin­nere mich an den Strand von Tel Aviv und die jun­gen Män­ner in ein­er Disko, die Pis­tolen im Hosen­bund steck­en hat­ten, Stahl über dem Steißbein; an das Tre­f­fen mit Über­leben­den der Shoah; an die Fes­tung von Masa­da und die Wan­derung durch die Wüste Negev, auf der ich als Einziger kein Wass­er dabei hat­te, was selb­st die Nettesten unter den jun­gen Men­schen in einen moralis­chen Kon­flikt brachte, der sie abwä­gen ließ, ob sie mir einen Schluck von ihrem kost­baren Gut geben soll­ten; an Jerusalem und Beth­le­hem und die Zäune des West­jor­dan­lan­des, das wir nicht besucht­en. Mein achtzehn­ter Geburt­stag, die Falafeln am Toten Meer, das Küss­chen der schö­nen Unbekan­nten und vor allem das Ein­tauchen in den See Genezareth haben sich in mein Gedächt­nis einge­bran­nt. Das alles hat­te ich nur erlebt, weil ich etwas geschrieben hat­te.

 

Nach mein­er Reise stand die mündliche Matu­ra an, für die ich nicht hat­te ler­nen kön­nen, weil ich unter­wegs gewe­sen war und nach mein­er Rück­kehr Besuch von einem Fre­und aus Michi­gan hat­te. Trotz­dem saß ich zuver­sichtlich in der Bib­lio­thek des Gym­na­si­ums, mir gegenüber mein Englis­chlehrer, die let­zte Prü­fung. Die Büch­er auf der Leseliste hat­te ich alle­samt nicht gele­sen, an die erste Stelle hat­te ich „Schindler’s List“ geset­zt, den Film hat­te ich gese­hen, sollte dieses Buch kom­men, kön­nte ich es wählen. Anson­sten würde ich über eines der vie­len The­men sprechen, die auf der anderen Liste standen; ich hat­te die Artikel aus englis­chen Zeitschriften kurz durchge­se­hen, nur Rus­s­land unter Boris Jelzin hat­te ich aus­ge­lassen, das würde bes­timmt nicht kom­men.

Rus­s­land unter Boris Jelzin war nun aber das freie The­ma, wom­it ich in einem Dilem­ma steck­te, weil das Buch nicht „Schindler’s List“ war, son­dern „Father­land“ von Robert Har­ris. Ohne mit der Wim­per zu zuck­en, wählte ich das Buch, das ich nicht gele­sen hat­te. Ich wusste, dass es um die Fik­tion ging, das Dritte Reich wäre nicht besiegt wor­den und existierte noch. Darüber kon­nte ich sprechen, und ich tat es, voller Empörung über die Nazis und ihr Ter­ror­regime und alles, was damit zusam­men­hängt. Auf ein­mal sah ich meinen Lehrer lächeln und mich mit­ten im Satz unter­brechen. Gut, sagte er, was aber sei mit dem Vater und dem Sohn? Vater und Sohn, wieder­holte ich, um Zeit zu gewin­nen. Ja, Vater und Sohn, sagte er und lächelte. Der Sohn, sagte ich, habe den Vater denun­ziert. Danke, sagte der Lehrer, er lächelte nicht mehr, die Prü­fung war vor­bei. Ich hat­te richtig kom­biniert. „Father­land“ habe ich bis heute nicht gele­sen.

Nach der Mat­u­rareise tren­nte ich mich von mein­er Fre­undin, die meis­ten mein­er Fre­unde gin­gen zum Bun­desheer, und eines Tages stieg ich zu meinem Nach­barn ins Auto, der mich nach Wien mit­nahm. Mit einem Kof­fer stieg ich vor dem Haus in der Josef­s­tadt aus, in der unsere kleine Woh­nung war, und schleppte ihn in den let­zten Stock. Als ich die Tür hin­ter mir schloss, bemerk­te ich, wie still es war. Ich stellte den Kof­fer ab und set­zte mich auf die grüne Couch, die früher in unserem Haus ges­tanden war. Ich würde ein neues Leben begin­nen. Ich würde schreiben.