Die Entliterarisierung der Literatur

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Nach vierzig Jahren per­ma­nen­ter Kom­merzial­isierung muss sich auch der Lit­er­aturbe­trieb – was oder wer das auch immer ist – eingeste­hen, dass er nicht ewig dabei mitwirken kann, die Flutwelle, die ihn fortzus­pülen dro­ht, auch noch mit Wass­er zu nähren und zu ver­mehren. Man kann nicht sagen, dass Pan­demie und demokratiefeindliche Ten­den­zen in west­lichen Regierun­gen die Schwierigkeit­en der Bel­letris­tik, sich als ern­stzunehmende Kraft in der Offen­le­gung der Missstände der Gesellschaft zu behaupten, erle­ichtert haben. Das Gegen­teil ist natür­lich der Fall. Die neuen Prob­leme haben aber wenig­stens eines geschaf­fen: größere Klarheit.

Am Ende verbindlich­er Rich­tun­gen und Mod­en ste­ht eine Ori­en­tierungslosigkeit, die let­z­tendlich wieder Wass­er auf die Mühlen der kap­i­tal­is­tis­chen Tak­tik ist. Man lässt die Lit­er­at­en ruhig analysieren und sich über Details zer­stre­it­en. Im Hin­ter­grund wird monop­o­lisiert. Im Hin­ter­grund und inzwis­chen auch im Vorder­grund. Denn seit Alter­na­tiv­en zum Kap­i­tal­is­mus prak­tisch inex­is­tent sind, gibt es für ihn keinen Grund mehr, seine wahren Absicht­en zu ver­ber­gen.

Schon wenn man heute die Begriffe Bel­letris­tik oder ern­sthafte Lit­er­atur ver­wen­det, macht man sich lächer­lich. Zumin­d­est als Pro­duzent. Wer sich auf einen selb­st gebastel­ten Sock­el stellt, um dort zu predi­gen oder über andere zu richt­en, ist lächer­lich. Er gle­icht ein wenig den Avant­gardis­ten von früher, die mit schüt­terem Werk oder gar ohne Werk, jeden­falls aber mit einem hochtra­ben­den Man­i­fest an nichts anderem gear­beit­et haben als an der Abgren­zung von anderen Lit­er­at­en. Ein neg­a­tives Ver­fahren, das sich selb­st bloßstellt, sobald man es umkehrt.

Das heißt aber nicht, dass man sich nicht fra­gen muss, wo die pro­gres­sive Lit­er­atur heute geblieben ist. Oder Lit­er­atur, die sich der Darstel­lung gegen­wär­tiger Lebenswel­ten wid­met, ohne dabei Opfer immer stärk­er wer­den­der Zen­sur und als Mark­t­logik gehan­del­ter Zwänge zu wer­den. Wären es nur die bekan­nten kap­i­tal­is­tis­chen Zwänge der 80er- und 90er-Jahre, so hätte man es mit alten Bekan­nten zu tun. Nun aber scheinen wir in die Zange genom­men zu wer­den. Denn aus ein­er poli­tis­chen Ecke, aus der man solche Pres­sio­nen nicht erwartet hätte, kommt seit eini­gen Jahren ein stark­er Druck, der auf Zen­sur hin­aus­läuft. Er begin­nt mit dem Legit­imierungszwang.

Der Legit­imierungszwang besagt, dass nur ein homo­sex­ueller achtund­dreißigjähriger Kell­ner, der in Wien im acht­en Bezirk wohnt und den Mount Ever­est besteigen möchte, über homo­sex­uelle achtund­dreißigjährige Kell­ner, die in Wien im acht­en Bezirk wohnen und den Mount Ever­est besteigen möcht­en, schreiben darf. Die Ironie dieser For­mulierung wird lei­der – so ist es in diesen Zeit­en – von der Real­ität in den Schat­ten gestellt. Ein großer Stream­ingkanal hat bere­its angekündigt, dass in den Fil­men, die er pro­duziert, Men­schen bes­timmter Herkun­ft und bes­timmter sex­ueller Ori­en­tierung in seinen Fil­men nur von Schaus­piel­ern der­sel­ben Herkun­ft und sex­uellen Ori­en­tierung dargestellt wer­den. Wom­it das Ende der Schaus­piel­erei erre­icht wäre. Wom­it der jahrtausendealte Ver­trag zwis­chen Pub­likum und Autor, der Kon­sens, sich während des Lesens wissentlich ein­er Fik­tion hinzugeben, tot ist. Wom­it das The­ater tot ist. Und der Film.

Die Anze­ichen dafür, auch Lit­er­atur nach diesen Maßstäben zu bew­erten, mehren sich. Die Unter­schei­dung zwis­chen Autor, Erzäh­ler und lit­er­arisch­er Fig­ur wird vielerorts nicht mehr getrof­fen. Sagt eine Fig­ur etwas in einem Roman, so geht man davon aus, dass es die Mei­n­ung des Autors ist. Hat die Haupt­fig­ur einen Vater, so muss es der Vater der Autorin oder des Autors sein. Dass Thomas Mann einen Roman in Ich-Form schrieb, sich im Buch aber Felix Krull nen­nt, müsste – wäre es nicht ver­jährt – zur polizeilichen Anzeige gebracht wer­den. Kein Wun­der, dass Autoren wie Karl Ove Knaus­gård, die diese Eineb­nung der Voraus­set­zun­gen für fik­tionales Erzählen mit ihrem Werk befördern, dafür mit Applaus zugeschüt­tet wer­den. Die angestrebte Aufhe­bung der Fik­tion durch tausende Seit­en Ich, Ich, Ich übertüncht die – auch für biografis­che Lit­er­atur gel­tende – Rezep­tionsvo­raus­set­zung.

In manchen Bere­ichen der Lit­er­atur hat das bere­its zur Monop­o­lisierung geführt. Da ist etwa das Beispiel ein­er Frau aus Afri­ka mit ein­er grauen­haften Kind­heit, die Opfer von Gen­i­talver­stüm­melung wurde. Diese Frau hat ein Buch geschrieben. Wie sieht das nun aus? In Wahrheit hat diese Frau einen gut­bezahlten Ver­trag mit ein­er Agen­tur abgeschlossen. Sie spricht nun ihre Erin­nerun­gen in ein Auf­nah­megerät. Diese Auf­nah­men gehen zu ein­er Ghost­wri­terin, die wed­er das Land, aus dem diese Frau stammt, je besucht hat, noch etwas über die Gesellschaft dort weiß. Sie zim­mert aber nun für einen Hunger­lohn aus den Auf­nah­men einen span­nen­den Text mit lebendi­gen Szenen. Das so ent­standene Buch wird uns – ohne dass es die auf dem Buch als Autorin ange­führte Per­son jemals gele­sen hat – als der authen­tis­che Bericht ein­er Betrof­fe­nen verkauft. Wodurch mit einem Schlag alle Nicht-Betrof­fe­nen dele­git­imiert wer­den, über dieses The­ma zu schreiben. Hier wird nicht nur die Pro­duk­tion monop­o­lisiert, hier wird auch zen­siert. Und der Kon­sument solch­er Büch­er ist Opfer ein­er vorsät­zlichen Täuschung, wenn nicht des Betrugs.

Ich kann mich noch gut erin­nern, mit welch­er Aufre­gung mein Groß­vater Filme angeschaut hat, die schon im Vorspann anpriesen, Nach ein­er wahren Begeben­heit gemacht wor­den zu sein. Das ist wirk­lich passiert, ist dann der näch­ste Schritt zu ein­er Rezep­tion­shal­tung, in der das Erzählte sekundär ist; das Unver­ständ­nis für das Medi­um Film jedoch primär.

Mit der Kom­merzial­isierung des Fernse­hens erfasste die Entlit­er­arisierung auch das Fernse­hen. Mit den Kabelsendern kamen Real­i­ty-TV und Real­i­ty-Shows. Sie unter­boten nicht nur die niedrig­sten Anforderun­gen an das Erzeu­gen von Fik­tion im Fernse­hen, son­dern ermöglicht­en jene Pro­duk­tion­ssteigerung, die nötig war, um die vie­len neuen Fernsehkanäle, die damit began­nen, rund um die Uhr zu senden, mit genug Mate­r­i­al ver­sor­gen zu kön­nen. Freilich ist auch die dort gezeigte Real­i­ty nichts als Fik­tion. Als man nach dem Zweit­en Weltkrieg die Filme, die alli­ierte Sol­dat­en bei der Befreiung von Konzen­tra­tionslagern gemacht hat­ten, sam­melte und daraus einen Infor­ma­tions­film für die öster­re­ichis­che und deutsche Bevölkerung machen wollte, lud man unter anderem Alfred Hitch­cock ein. Man fragte ihn, wie es möglich sei, aus diesem Mate­r­i­al einen Film zu machen, der Öster­re­ich­ern und Deutschen die Gräuel in den KZ vor­führe und sie überzeuge, dass das Gezeigte wirk­lich geschehen ist. Hitch­cocks Antwort war, das sei gar nicht möglich.

Freilich ist also auch die Real­i­ty nichts als Fik­tion; allerd­ings unter völ­liger Auf­gabe der kri­tis­chen Möglichkeit­en des Erzäh­lens. Und hier komme ich zum Aus­gangspunkt zurück, dass Pan­demie und Demokratieab­bau die Lage klar­er gemacht haben. Kri­tis­che und zeit­gemäße Lit­er­atur wird sich der Ver­nutzung der kap­i­tal­is­tis­chen Logik wider­set­zen. Die immer noch in Ablenkung und Pro­pa­gan­da geteilte Tak­tik der recht­en Regierun­gen macht in einem ersten Schritt aus den Medi­en mit den größten Reich­weit­en Regierungsme­di­en. Mit diesem Schritt ist der kri­tis­che Jour­nal­is­mus weit­ge­hend mar­gin­al­isiert. Die Regierungsme­di­en bericht­en nicht mehr über Skan­dale in der Regierung (das ist auch eine Vari­ante von Zen­sur), son­dern ver­bre­it­en die erwün­scht­en Mel­dun­gen. Was an Kri­tis­chem überbleibt ist jene nun schon jahrezehn­te­lange Befun­dung, die wir aus Ökolo­giede­bat­ten ken­nen. Immer noch wird fest­gestellt, was schon Ende der 70er-Jahre fest­gestellt wurde, und hin­ter dem Applaus, den es für manche dieser Befun­dun­gen gibt, steckt das Kalt­stellen ein­er Autorin oder eines Autors. Sie oder er kann nun auf hun­derte Diskus­sio­nen zum The­ma geschickt wer­den, um ihre oder seine Erken­nt­nisse zu verkün­den. Erken­nt­nisse, die man schon vor vierzig Jahren gewon­nen hat­te, ohne dass sich daraus poli­tis­che Kon­se­quen­zen ergeben hät­ten.

Ähn­lich angenehm für Regierun­gen, die die Demokratie schle­ichend in eine Oli­garchie umwan­deln, ist die Lit­er­atur der Verniedlichung und des Pri­vat­en. Obwohl eine große Mode der Nuller­jahre, wird immer noch so geschrieben, als gäbe es die Welt, die uns umgibt, nicht. Ihre Autorin­nen und Autoren sind beliebt, je harm­los­er, desto beliebter. In ein­er Art Neo-Bie­der­meier erk­lären sie den Pri­va­traum und das selb­st Erlebte zur einzi­gen Real­ität. Ihre vage Kon­sumkri­tik entzieht sich struk­turellen Fra­gen. Hier wird die Abstrak­tion des Post-Kolo­nial­is­mus per­fekt abge­bildet: Was wis­sen wir schon über das kleine Kind, das in Bangladesh die Pullover strick­en muss, die wir anziehen? Nichts. Wir müssen doch mor­gen in der Kinder­gruppe den Abwasch machen und vor Monat­sende die Rabattmarken ein­lösen. Darüber­hin­aus wis­sen wir: Nichts.

Aus diesem Nichts wird eine dürftige Fik­tion gez­im­mert. Impliz­it oder in manchen Fällen sog­ar expliz­it, erk­lären die Autorin­nen und Autoren der Niedlichkeit­slit­er­atur, Poli­tik sei lächer­lich. Vielle­icht meinen sie Parteipoli­tik. Aber das sagen sie nicht genau. Sie gel­ten den meis­ten Kri­tik­ern mit dieser Aus­sage per se als kri­tisch oder gar sub­ver­siv. In Wahrheit schüt­ten sie damit das Kind mit dem Bade aus: Sie erk­lären nicht nur ihr eigenes Werk für lächer­lich, son­dern verkün­den pro­gram­ma­tisch die Unter­w­er­fung der Lit­er­atur unter die Medi­en­logik der Oli­garchen.

Der Show-Charak­ter des Unpoli­tis­chen und die Ernen­nung des Unpoli­tis­chen zur Sub­ver­sion, schlägt sich dann in den For­mat­en divers­er Ver­anstal­ter nieder, bei denen es nun (fün­fundzwanzig Jahre zu spät) zur Mode gewor­den ist, eben­falls Shows zu ver­anstal­ten. Im Stil ein­er TV-Talk­show wird dann über Lit­er­atur gere­det. Das heißt: Eigentlich wird dort nicht gere­det, son­dern gequatscht. Es geht darum, Pointen zu lan­den und beson­ders gelassen und ablehnend auf alles zu reagieren, was mit Lit­er­atur im Ent­fer­n­testen zu tun haben kön­nte.

Die Entlit­er­arisierung der Lit­er­atur in diesen For­mat­en ist auf­fäl­lig. Meist wird dort gelobt, dass ein Autor sein Werk vorstellt, ohne nur einen Satz daraus zu lesen. Das kommt den Kri­tik­ern ent­ge­gen, die dort über das Werk sprechen, ohne es gele­sen zu haben. Meist wird dann verkün­det, die Wasser­glasle­sung sei out. Nun gut, da bin ich gerne dabei. Man müsste sich aber ein wenig Mühe geben, um For­mate zu entwick­eln, die bess­er sind als die herkömm­liche Lesung. Doch der unendliche Quatsch der Shows gibt sich über­haupt keine Mühe. Er macht aus der Not eine Tugend und ent­bindet alle Anwe­senden ihrer Funk­tion, solange sie eben quatschen, um die Zeit zu vertreiben, um die gegen­wär­tige Zeit aus den Räu­men des Quatschs zu ver­scheuchen.

Schließlich, als bedrohliche Zukun­ft­saus­sicht, komme ich nochmals zu jenen Zen­surab­sicht­en zurück, die uns heute, wie bere­its gesagt, aus uner­warteter poli­tis­ch­er Rich­tung ent­ge­gen­schla­gen. Das ist die Welt der Trig­ger­war­nun­gen, der nachträglichen Änderung his­torisch­er Lit­er­atur und let­z­tendlich der Ver­bote. Es sind Zen­su­run­ter­fan­gen, die sich in das Klei­d­chen des Beschützers gehüllt haben. Nur zu unserem Besten wollen sie eine Zen­sur erricht­en, deren poli­tis­che Legit­i­ma­tion höchst frag­würdig ist – von wis­senschaftlich­er oder ästhetis­ch­er Legit­imierung spricht ohne­hin kein Men­sch.

Und so kommt es, dass die Äußerun­gen von Staatschefs, die Lügen, Ver­het­zung, Verunglimp­fung und Belei­di­gung ander­er Men­schen enthal­ten, zum Schutz der Leserin­nen und Leser in Büch­ern nicht mehr vorkom­men dür­fen und von der Wis­senschaft nicht mehr analysiert wer­den sollen, um die Wis­senschaftler davor zu schützen. Ein Sys­tem, dessen höch­ste Macht sich also moralisch dis­qual­i­fiziert, hält sich für moralisch qual­i­fiziert, die Analyse ihrer eige­nen Worte und Tat­en zu ver­bi­eten. Hier sind wir bei total­itär­er Poli­tik angekom­men.

Es tut mir weh zu sehen, wie Autorin­nen und Autoren bewusst oder unbe­wusst der Entlit­er­arisierung der Lit­er­atur das Wort reden. Andere schweigen über­haupt, teils aus ver­meintlich­er Tak­tik, teils aus Angst. Den Gegen­wind bekom­men jene zu spüren, die ihre Mei­n­ung öffentlich aus­drück­en. Alarmis­mus, Übertrei­bung und Kul­turpes­simis­mus wird ihnen vorge­wor­fen. Natür­lich, das ist ja auch eine geschichtlich bekan­nte Tak­tik der Ent­demokratisierung, dass sie die War­nen­den lächer­lich macht und schon die Tat­sache, dass sie ihre War­nung aussprechen dür­fen, als Beweis dafür angeben, dass sie über­trieben ist.

Ich freue mich den­noch auf die Lit­er­atur der kom­menden Jahrzehnte, weil ihr eine Auf­gabe zukommt, die nie­mand ander­er in unser­er Gesellschaft mehr erfüllt. Die Lit­er­atur allein hat heute die Möglichkeit, nein die Pflicht, unsere Gegen­wart wahrhaftig und in allen Graustufen abzu­bilden. Sie hat auch (noch) die Möglichkeit, gegen den Zeit­geist von Zen­sur und kap­i­tal­is­tis­ch­er Ver­nutzung anzukämpfen, wo der Jour­nal­is­mus bere­its aufgegeben und seine moralis­che Ver­ant­wor­tung für Geld hergegeben hat. Nicht alle wer­den die Entlit­er­arisierung der Lit­er­atur zulassen. Denn es gibt viele, die sich heute aus Ekel vor den gegen­wär­ti­gen Ver­hält­nis­sen zurückziehen. Das Lesen und Schreiben bleibt ihnen aber. Und wir haben in der Geschichte gese­hen, wie die Lit­er­atur trotz der poli­tis­chen Ver­hält­nisse, trotz Dik­tatur, trotz Krieg, über­lebt hat. Sie wird auch jet­zt über­leben, durch alle, die genug Mut haben, sich ihrer Auf­gabe zu stellen, und genug Wider­stands­geist, um die Schmähun­gen zu ertra­gen, die ihr die zur Mehrheit gewor­de­nen Vertreter der Ent­demokratisierung nicht ers­paren. Lassen wir uns die Lit­er­atur nicht nehmen!