Flaschenzeit

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Ich arbeite an einem Roman, der in der Zukun­ft spielt und von der Ver­gan­gen­heit han­delt. Die Zukun­ft zu kon­stru­ieren ist ein­fach. Naht­los fügt sich alles aneinan­der. Mit der Ver­gan­gen­heit ist es schwieriger, die ver­gan­gene Wirk­lichkeit hat Risse und Löch­er bekom­men, die Sachver­halte passen nicht mehr zusam­men, in den Fugen liegt Staub.
Das Prob­lem der inkon­sis­ten­ten (oder inkon­ti­nen­ten) Zeit stellt sich mir nicht nur hier. Par­al­lel zu meinem Roman arbeite ich an ein­er Art von Chronik: Bevor ich mich am Abend (nach Broter­werb und Aben­dessenkochen und Aufräu­men und Schlafen­le­gen) an den Schreibtisch set­ze und an meinem Roman schreibe – wenn ich denn schreibe und nicht stattdessen Whisky trinke – schreibe ich auf, was meine Tochter wieder Neues gel­ernt, getan, erlebt hat. Ich schreibe zum Beispiel auf, dass sie beim Windel­wech­seln das Unka­put­tbar-Heft mit bei­den Hän­den wie eine Zeitung vor das Gesicht gehal­ten hat, dass die Spitze des ersten Zahns her­vor­lugt (es ist bei fast allen Babys fast immer ein­er der mit­tleren Schnei­dezähne im Unterkiefer), oder dass sie ihr erstes Stück Piz­za gegessen hat (ohne Zähne hin­un­tergewürgt).
Ich schreibe das auf, damit ich diese Erin­nerun­gen möglichst genau behalte. Denn das ist nicht ein­fach. Viele Eltern haben mir davon erzählt, aber ich habe es nicht für möglich gehal­ten: Die Gegen­wart eines Kindes, die Gegen­wart, die man mit einem Kind teilt, ist so mächtig, dass sie wie die Front ein­er Flutwelle, die auf Land trifft, alles mitreißt, was man ger­ade erlebt hat. Schon nach kurz­er Zeit kann man sich nicht mehr „richtig“ erin­nern, wie das Kind war, als es noch nicht robben kon­nte, wie es in den ersten Wochen aus­sah, wie wir (mit ihm noch im Bauch) die Zeit der Schwanger­schaft ver­bracht haben. Dank mein­er Aufze­ich­nun­gen, so dachte ich mir, kann ich alles nach­le­sen und mein­er Erin­nerung auf die Sprünge helfen.
Nach­dem ich nach mehr als dreißig Wochen der Aufze­ich­nun­gen damit begonnen habe, die älteren Ein­träge zu lesen, musste ich allerd­ings fest­stellen, dass sie die Wirk­lichkeit nicht annäh­ernd wiedergeben. Mit dem Nieder­schreiben der Ereignisse ist nichts getan, und nicht, weil die Zusam­men­hänge zwis­chen den Ein­trä­gen fehlen, son­dern weil das Ein­ma­lige immer unbe­deu­ten­der ist als das sich ständig Wieder­holende. Ich müsste jeden Tag die Bus­si-Attacke ver­merken, die von der Mama noch im Bett ges­tartet wird, das Abwis­chen des Hochstuhls nach jed­er Mahlzeit, zuerst die Ess­ablage­fläche, dann die Sitzfläche, dann die Fußstütze, dann den Boden darunter, ich müsste auf­schreiben, wie ich sie wieder und wieder auf die Wick­e­lablage lege, wie sie sich wieder und wieder vom Rück­en auf den Bauch dreht, aber nur sel­ten vom Bauch auf den Rück­en. Aber vieles davon nehme ich selb­st nicht richtig wahr, ich tue die Dinge automa­tisch, oder sie geschehen vor meinen Augen, ohne dass ich sie noch sehe, geschweige denn auf­schreibe. Meine Wahrnehmung kapit­uliert vor der Fülle der sich wieder­holen­den Ein­drücke, reg­istri­ert sie bloß noch als schon bekan­nt und gibt nicht weit­er darauf acht. Ich muss mich anstren­gen, mein Kind bewusst anzuse­hen, ihre Züge bewusst wahrzunehmen, ihr Ver­hal­ten. Manch­mal gelingt es, aber diese Momente lassen sich nur mit einem Kraftaufwand her­stellen, es sind Momente großer Anspan­nung (Ihr Gesicht­saus­druck bei der Geburt, als sie zwis­chen den Beinen her­vorge­presst wurde), oder Momente des Erlah­mens aller Kräfte, wenn die Wahrnehmung ganz aus­lässt. Dann sehe ich das Kind unver­stellt, ich sehe, wie sie an mein­er Brust ein­schläft und spüre wie ihre Glieder sich lösen, ich spüre ihre Fin­ger, die mein Gesicht betas­ten, um sich noch im Schlaf mein­er Gegen­wart zu ver­sich­ern. Es sind Momente der Inten­sität, kurz bleibt alles ste­hen und es ist Gegen­wart.
Wollte man das alles auf­schreiben, müsste man eine kolos­sale Erzäh­lung ver­fassen, die alle Ereignisse bis ins kle­in­ste Detail schildert und mit Reflex­io­nen ausklei­det. Aber dazu fehlt mir die Zeit, schließlich will ich an meinem Roman arbeit­en.
Im schlimm­sten Fall haben meine Aufze­ich­nun­gen sog­ar einen nachteili­gen Effekt und ver­fälschen das Bild, das meine Tochter von ihrem Aufwach­sen hat, lassen sie später, wenn sie die Aufze­ich­nun­gen vielle­icht ein­mal liest, Erin­nerun­gen von etwas kon­stru­ieren, das so nicht passiert ist. Deshalb habe ich am Anfang des Hefts, in dem ich das Aufwach­sen mein­er Tochter fes­thalte, ein Vor­wort ergänzt. Dort ste­ht nun, dass die Aufze­ich­nun­gen erstens meine sub­jek­tive Sicht wiedergeben und zweit­ens unvoll­ständig sind – eine Kapit­u­la­tion­serk­lärung, wenn man so will.

Nach­dem ich die neuen Erstemale mein­er Tochter in Stich­worten notiert habe (nach Broter­werb und Aben­dessenkochen und Aufräu­men und Schlafen­le­gen), set­ze ich mich an den Com­put­er, um an meinem Zukun­fts-Ver­gan­gen­heits-Roman weit­erzuschreiben. Das Rit­u­al ist meis­tens das­selbe: Ich lese meine Mails, dann lese ich Nachricht­en, dann schaue ich mir Videos an, lese inter­na­tionale Nachricht­en auf einem englis­chen Por­tal, sehe mir die aktuellen Fußbal­lergeb­nisse an, öffne zwis­chen­durch den Ord­ner mit dem Manuskript und sehe noch ein Video an oder suche neue Nachricht­en. Ich tue das, weil ich zu müde bin, um gle­ich mit dem Schreiben zu begin­nen, zu müde, um mich zu konzen­tri­eren. Deshalb surfe ich, ich schalte mein Hirn aus und rufe fremde Erin­nerun­gen und Bilder ab, borge mir fremde Zeit, die in irgendwelchen Daten­cen­tern irgend­wo auf der Erde auf Fest­plat­ten gespe­ichert ist, die jed­erzeit abruf­bar ist und vielle­icht für alle Zeit abruf­bar bleiben wird. Ich rufe sie ab in der Hoff­nung, dass ich mich dabei etwas erhole und von der Erhol­ung ins Schreiben finde. Meis­tens geschieht das nicht. Ich kapit­uliere vor der Müdigkeit, die es mir verun­möglicht, auch nur zwei zusam­men­hän­gende Sätze zu schreiben. Meis­tens finde ich stattdessen in noch eine Nachricht­en­seite und noch ein Video, und in den Whisky.

Mit Whisky kann man viel Zeit ver­brin­gen – nicht nur trink­end (so viel Whisky kann man bei 46% Alko­hol­ge­halt gar nicht trinken). Als Ent­las­tung für meine Leber schaue ich oft Videos von Whisky-Verkos­tun­gen, anstatt zu trinken. Es müssen schon hun­derte Whisky-Abfül­lun­gen gewe­sen sein, bei deren Verkos­tung ich zuge­se­hen habe. In jedem Fall mehr, als ich je werde trinken kön­nen.
Whisky ist faszinierend. Ein aus Bier des­til­liert­er Schnaps, der Jahre und Jahrzehnte in Fässern reift. Am Ende schmeckt man nicht mehr (nur) den Schnaps, son­dern das Fass und das, was vor dem Whisky im Fass gelagert wurde. Man befüllt Whisky-Fäss­er zuerst mit Sher­ry, Bour­bon, Süßwein, um dem Whisky einen beson­deren Geschmack zu ver­lei­hen. Ein Whisky, wie ich ihn vor kurzem getrunk­en habe (er ließ eine aus­geprägte Sher­ry-Note erken­nen), hat zwanzig Jahre in einem solcher­art prä­pari­erten Fass gele­gen. Auf dem Weg von der Zun­gen­spitze in den Rachen erschließt sich, wie die Zeit auf den Whisky eingewirkt hat. Was ich schmecke, ist die Summe eines zwanzigjähri­gen Prozess­es. Whisky ist in Flaschen abge­füllte Zeit, wenn man so will.
Nicht nur das, schmeckt der­selbe Whisky jedes Mal, wenn man sich einen Schluck eingießt (es sind nur kleine Schlucke ... höch­stens ein Dop­pel­ter ... aller­höch­stens nach dem Dop­pel­ten noch ein klein­er Schluck zum Nach­spüren), anders. Je nach­dem, was man davor gegessen hat, in welch­er Stim­mungslage und in welchem Grad von Wach­heit man sich ger­ade befind­et, nimmt man unter­schiedliche Geschmack­snoten wahr. Darüber hin­aus schmeckt der­selbe Whisky für jede Per­son unter­schiedlich, denn das eigene Geschmack­sempfind­en hängt davon ab, welchen Geschmack­sein­drück­en man im Laufe seines Lebens aus­ge­set­zt war. In gewiss­er Weise schmeckt man einen Whisky nicht in der Gegen­wart, son­dern man erin­nert ver­gan­gene Geschmäck­er. Das ist nicht nur beim Whisky so. Das Beson­dere am Whisky ist, dass er auf­grund der Vielfalt der Möglichkeit­en beim Des­til­lieren und Nachreifen so viele Geschmack­snoten her­vor­brin­gen kann, dass sich einem beim Trinken ein Kos­mos aus Sin­ne­sein­drück­en (und Erin­nerun­gen) eröffnet. Um diesen Kos­mos zu erschließen, bedarf es aber der ständi­gen Wieder­hol­ung. Man muss einen Whisky wieder und wieder trinken, um die ver­schiede­nen Nuan­cen wahrzunehmen. Dem Whisky, den ich ger­ade trinke, wird etwa auf dem Etikett eine Hasel­nuss­note nachge­sagt, die mir zu find­en bei jedem neuen Glas (auch bei einem Dop­pel­ten) miss­lang, bis diese Hasel­nuss­note eines Abends, an dem ich wieder nicht schrieb, plöt­zlich da war. Der Whisky schmeck­te nur nach Hasel­nuss und nichts anderem. Als ich ein paar Abende später wieder davon gekostet hat­te, war das Hasel­nus­saro­ma wieder ver­schwun­den.

Während ich trinke, schlafen meine Lebens­ge­fährtin und meine Tochter. Tre­f­fen mit Fre­un­den ver­schiebe ich auf­grund der Umstände ständig auf später. Stattdessen quartiere ich mich in den Server­far­men der Welt ein, trans­feriere mein Dasein in den virtuellen Raum, lasse die Zeit leer­laufen.
Whisky trink­end und Whisky-Verkos­tun­gen schauend ver­ab­schiede ich mich aus der Gegen­wart. Im Hier und Jet­zt halte ich mich nur mehr spo­radisch auf, ich bin alt genug, dass mir die Ver­gan­gen­heit und eine wenig ereignis­re­iche Zukun­ft reichen.
Das ist das Trau­rige (Ernüchternde) am Abfüllen der Zeit (in Fässern, auf Servern ... wo auch immer). Die abge­füllte Zeit ist keine lebendi­ge. Je mehr Abfül­lun­gen ich samm­le, umso beliebiger wer­den sie – irgend­wann ste­hen hun­dert ver­schiedene Whiskys mit Sher­ry-Note in meinem Regal, hun­dert, die nach Tor­frauch schmeck­en. Am Ende machen nur mehr die bun­ten Etiket­ten den Unter­schied aus, und die von Mar­ket­ing­fach­leuten pro­duzierten Sprüche darauf – Klap­pen­texte, die die ver­meintliche Einzi­gar­tigkeit jed­er Abfül­lung beschwören.
Am Ende eines Glases bin ich manch­mal ein wenig deprim­iert. Dann gehe ich schlafen, anstatt an meinem Roman weit­erzuar­beit­en, denn in einem solchen Zus­tand (deprim­iert, müde), finde ich nicht mehr ins Schreiben.

Das Schreiben ist natür­lich auch eine Ver­ab­schiedung aus der Gegen­wart, die Schrift war der Anfang vom Ende der Gegen­wart. Nichts­destotrotz erfordert Schreiben Wach­heit – man muss wach und fokussiert sein, um schreiben zu kön­nen (auch im Rausch soll es ange­blich gut gehen, das kann ich aber nicht bestäti­gen). Ich bin zu müde, um wach und fokussiert zu sein. Deshalb ver­folge ich eine andere Strate­gie – die Strate­gie der Wieder­hol­ung. Ich mache es wie beim Whisky-Trinken – ich kehre zum Text zurück, Tag für Tag, tue immer das­selbe, bis etwas Neues auf­taucht. Ich behan­dle meinen Text wie meine Tochter ihre Bilder­büch­er – ich springe vor und zurück, sehe mir diesel­ben Seit­en wieder und wieder an, als wären sie jedes Mal neu. Jeden Abend set­ze ich mich wieder hin, spiele mein Rit­u­al durch und zwinge mich – langsam nur, aber nach und nach – Zeile um Zeile aneinan­derzurei­hen. So entste­ht keine zusam­men­hän­gende Erzäh­lung, aber eine brüchige, die Zeit­en fügen sich nicht naht­los aneinan­der, es bleiben Risse. Das kommt mir nicht falsch vor. Früher oder später werde ich so den Roman über die Ver­gan­gen­heit in der Zukun­ft zu Ende brin­gen. Das Ende – so viel weiß ich schon – ist offen.