Analog

Von

Die Kinder­stim­men nebe­nan am Spielplatz sind ana­log. Sie brüllen. Sie schreien sich an oder einan­der etwas zu. Der Fußball, den ich auf­schla­gen höre, ist nach wie vor ein Fußball. Die Füße, die ihn treten, sind Kinder­füße und eben­falls ana­log. Das beruhigt.

Sie spie­len trotz der Hitze. Dieser Hitze schon im frühen Juni. Das gehört zu den Verän­derun­gen. Mich schlaucht sie. Ermat­tet mich. Der Wind, der durch die Bäume vor meinem Fen­ster fährt, ist eben­falls heiß. Diese Bäume, über die ich ständig und immer wieder schreibe. Die ich anbete. Ja, sie sind mir Gewähr von Leben und Schön­heit, so lange man sie gewähren lässt. Sie schenken mir Analo­gie. Analo­gie zu meinem eige­nen Sein. So lange dieses währt.

Es wurde bere­its zu lange gelebt.
Ich beschränke mich auf den Augen­blick.
Meine Augen blick­en in Bäume und Laub, das ist schon etwas.
Davor, am Fen­sterkreuz, lehnt ein Bild, das meine Mut­ter gemalt hat.
Es sind Blu­men. Kühne und wilde Blu­men.
Sie malte gern Bäume, und sie malte gern Blu­men. Auf ihre Art.
Das seitliche Fen­ster ist geöffnet, man kann Vogel­stim­men hören.
Auch das ferne Brum­men eines Flugzeugs, hoch oben.
Und jet­zt Kirchen­glock­en.
Warum eigentlich Kirchen­glock­en, erst mor­gen ist Son­ntag.
Ich bin allein in meinem großen Haus.
Für einige Tage allein in meinem großen Haus.
Ich habe den hellen Bild­schirm vor mir, und darunter meine alten Hände, die sich über die Tas­ten des Com­put­ers bewe­gen.
Der April ging zur Neige.
Ich habe das Her­vor­brechen des Früh­lings erlebt. Noch ein­mal erfahren, wie Erlosch­enes, ja Totes, plöt­zlich wieder Leben gebar.
Meine Para­bel, ich weiß.
Nur bin ich nicht Teil der Natur, bin ein Men­schen­we­sen. Das heißt: gnaden­los vergänglich. Eines Tages bin ich Ver­gan­gen­heit und nichts son­st. Und auch das wird verge­hen.
Aber so lange es geht, werde ich mit meinen Worten umge­hen, das weiß ich.
Mit Worten, die ich liebe.
Wind. Vogel. Laub natür­lich, immer wieder Laub.
Ferne. Weite. Gewölk.
Meer-Worte, wie: Ufer. Strand. Welle. Woge, auch Gis­cht.
Gras. Ein­fach: Gras.
Die Worte meine Zuflucht, seit ich Kind war.
Hor­i­zont. Abend­him­mel. Mond. Was für ein Wort: Mond.

Diese Zeilen in meinen alten Lap­top hinein zu klopfen, bedeutet nicht, daß ich einen Com­put­er begreife. Daß ich diese Welt noch begreife. Diese für mich aus den Fugen ger­atene Welt. Ich werde wohl mein Leben ana­log zu Ende leben, darauf beste­he ich. Obwohl die Umwelt nach einem greift, ob man will oder nicht, sie herrscht.

Es rührt mich, einen Film zu sehen, wo Men­schen noch nach einem Tele­fon­hör­er greifen. Einan­der einen Brief schreiben. Hand­schriftlich natür­lich. Wie sie ohne Mühe bei ein­er net­ten Boden-Stew­ardess ihre Bor­d­karte erhal­ten, über das Flugfeld schlen­dern und dort das Flugzeug besteigen. Auf schmalen Straßen mit offe­nen Kabrios direkt am Meer dahin­fahren, und ihnen kaum Autos ent­ge­genkom­men. All das.

Die Men­schen waren zu allen Zeit­en und auch damals eine ungute Spezies, geben wir’s zu. Aber sie lebten schön­er. Ohne das jedoch zu wis­sen und hochzuacht­en. Sie hofierten bere­itwillig dem Fortschritt. Der Tech­nik.

Also ich beharre. Beharre auf meinen schlecht schließen­den, alten Fen­ster­flügeln, davor den bere­its etwas brüchi­gen Hol­zlä­den. Dadurch wird bei mir niemals schlechte, ver­brauchte Luft die Räume erfüllen, ich benötige keine Air-Con­di­tion, die sur­rt und bläst und meinen Nack­en steif macht. Zum Beispiel.

Es gibt viele solch­er Beispiele, mit denen ich gegen Forderun­gen neuzeitlichen Kom­forts trotzig meine Leben­squal­ität bewahre. Das hat nichts mit früher war alles bess­er, mit unbelehrbar­er Rückschau zu tun, son­dern mit Lebenss­chön­heit. Wie ich sie ver­ste­he und zu Recht ein­fordere.

Ich liebe diese Stille. Was für ein so sel­ten gewor­denes Geschenk, so zu wohnen, ein Haus zu bewohnen, ohne das nahe oder fernere, jedoch unver­mei­d­bare Rauschen ein­er Auto­bahn ständig hören zu müssen.

Bei Autor­eisen jet­zt. Du siehst ein hüb­sches Gehöft auf einem Hügel, siehst es unter­wegs, aber du weißt, daß dort oben unabläs­sig Getöse herrscht, denn der Wagen, aus dem du hin­auf­schaust, befind­et sich, selb­st dröh­nend, auf ein­er Auto­bahn.

Die Gasse, in der ich lebe und bis zum Ende mein­er gezählten Tage leben möchte, kann nachts oft­mals immer noch so still sein, daß die Stille zu sin­gen begin­nt. Daß ich es höre, wenn sich im Herb­st ein Blatt vom Baum löst und leise knis­ternd zu Boden fällt.

Ich wan­dere möglichst jeden Tag, gehe wieder und wieder die sel­ben Pfade. Jedoch genau dies lässt mich erfahren und bestaunen, wie Ver­trautes sich unen­twegt verän­dert. Die Natur zeigt es mir.

Man hat­te ein üppig wach­sendes Wald­stück gerodet, an dem ich regelmäßig vor­beizuge­hen pflegte. Eines Tages plöt­zlich, ich unvor­bere­it­et dahin­wan­dernd, der Anblick von Baum­stümpfen und aufgewühltem, ver­let­ztem Erdre­ich. Fast brach es mir das Herz. Statt des Laub­daches der gnaden­lose Him­mel. Gebrüllt habe ich. Unflätig geschimpft. Und das immer wieder, wenn mein Weg mich daran vor­bei führte.

Die all­ge­meine Nack­theit des Win­ters dann, der fol­gte, ließ mich blick­los­er dahinge­hen, ich schaute weniger um mich, war in mein Nach­denken ver­tieft, und kon­nte das geschän­dete Brach­land nahezu überse­hen.

Der Früh­ling geri­et übereilt warm und som­mer­lich, san­fte Regen­fälle ließen jeglich­es üppig grü­nen und auf­blühen. Ich war länger nicht auf dem Pfad ent­lang der Rodung unter­wegs gewe­sen. Gestern aber doch. Und da traute ich meinen Augen nicht. Was für eine Verän­derung, welch­es Wun­der bot sich mir. Ein Hochwuch­ern von Hol­un­der­büschen, kleine Bäu­men, hüftho­hem Gras, wilden Blu­men und Heck­en. Ein Biotop schön­ster Eige­nart war an Stelle des früheren Wald­stücks zu erblick­en.

Da staunte ich. So uner­schüt­ter­lich wirkt Natur fort, wenn man sie in Ruhe lässt, so geht sie auf Katas­tro­phen ein und über­lebt sie. Und ich habe weit­er gedacht. Habe an mich selb­st gedacht. Genau­so ist es wohl, wenn etwas den Men­schen seine Katas­tro­phen über­leben lässt. Da ist die Natur Para­bel. Nicht dein Ver­stand schenkt dir ein Über­leben, ein Weit­er­leben. Es ist das naturhafte Leben selb­st.

Die weißen Nächte des Post­boten. So hieß der Film, den ich gese­hen habe. Nur bruch­stück­weise, ich musste ihn immer wieder ver­lassen, musste weg davon und ein anderes Fernseh­pro­gramm wählen. Die Melan­cholie dieser Land­schaft, dieses ster­ben­den Dor­fes im nördlichen Ruß­land, die ver­hal­tene Trost­losigkeit allen Lebens dort griff mich an. Ja, im wahrsten Sinn. Es war wie ein Angriff, so als schösse man mich nieder. Es waren keine Schaus­piel­er, die sich in diesem Film dar­boten. Men­schen, die dort leben, wur­den belauscht. Da saßen zwei Män­ner am Tisch in ein­er Hütte und tranken Tee. Bunte hohe Tassen auf dem Plas­tik­tis­chtuch, das eine idyl­lis­che Szener­ie aus Blu­men und südlichem Blau bot. Und der eine sagte – sie sprachen rus­sisch mit deutschen Unter­titeln – daß ihm die Seele stürbe. Daß nie dieses Leben kam, von dem er erwartet hätte, es würde doch eines Tages auf ihn zukom­men. Und dann das Wort: Schw­er­mut. Sie würde ihn langsam umbrin­gen.

Dann: auf dem nack­ten Bauch des Post­boten, der zu Bett lag, saß eine sil­ber­graue Katze. Der Mann schien ger­ade zu erwachen und sah sie an. Wie die zwei sich ansa­hen. Der unver­wandte Blick des Tieres, in dem alles Wis­sen lag. Und diese ewige Trau­rigkeit in seinen Augen. Das waren Szenen, die meine eigene Schw­er­mut und Trau­rigkeit frei­legten und auf mich losließen. Wie Schüsse aus dem Hin­ter­halt.

So fühlt sich mein Mor­gen an.
Jed­er Mor­gen nach dem Erwachen.
Tag für Tag muß ich mich daraus erheben.
Bis zum let­zten Tag.

Warum trotz­dem immer wieder dieses Da-sein-wollen?
Wo mir doch die Welt als so ver­stört erscheint?
Ich der Mei­n­ung bin, die Men­schheit, also der Men­sch, stünde an einem Schei­deweg? Neue Tech­nolo­gien, neue Kriege, die totale dig­i­tale Ent­frem­dung, ökol­o­gis­che und ökonomis­che Ver­wüs­tun­gen, Völk­er­wan­derun­gen – trotz­dem das Dasein auf Erden wieder men­schen-möglich und men­schen­würdig wer­den zu lassen – würde es dem Men­schen gelin­gen?
Oder eben nicht?
Trotz dieses oder eben nicht‘ möchte ich diese Welt noch nicht hin­ter mir lassen. Möchte ich mir der Spezies Men­sch bewußt bleiben, weit­er­hin Men­schen-Beobach­terin sein dür­fen.
Da mein Alter mich weit­ge­hend aus der Umk­lam­merung von Liebeshunger und Ehrgeiz frei machen kon­nte, kann ich das Leben jet­zt vielle­icht bess­er lieben.
Ist es vielle­icht das?
Ja, mein Seufzen am Mor­gen, diese Leere, die zur Hölle wer­den kann, mein Mich-Erheben, um die Tage noch zu meis­tern, das Auf­stöh­nen, wenn die alten Knochen schmerzen, ja, gut und schön, alles beschw­er­lich, alles ohne Glanz und Zauber, aber auch ohne Lüge und Vor­wand. Klar alles, die Endlichkeit vor Augen, das Schöne im Gegen­wär­ti­gen sicht­bar, nichts mehr ist behangen von falschen Sehn­sücht­en und unlauteren Wün­schen.
Vielle­icht deshalb möchte ich die Erde noch nicht ver­lassen, das Zeitliche noch nicht seg­nen.