Eine Aussprache in Fischamend oder Vom Untergang der Linken

Von

Herr Groll hat­te seinen Fre­und, den Dozen­ten, zu ein­er Aussprache an die Donau bei Fis­chamend, einem ehe­ma­li­gen Fis­cher­dorf im Dreieck zwis­chen dem Strom, der größten Raf­finer­ie des Lan­des und dem Wiener Flughafen, gebeten. Es kam nur sehr sel­ten vor, daß Herr Groll eine Aussprache begehrte, meis­tens war es der Dozent, der seinen Fre­und zu einem Aus­tausch in ein Innen­stadt-Café bat. In Grolls Augen kon­nte es ein Aus­tausch an Bedeu­tung aber mit ein­er Aussprache nicht aufnehmen. Einem Aus­tausch haftete ihm zufolge etwas min­der Ern­sthaftes an, das bis zum Unverbindlichen reichen kon­nte, eine Aussprache hinge­gen sei, noch dazu an der Donau, eine ern­ste Sache. Im Rah­men ein­er Aussprache wer­den gesellschaftliche Strate­gien erwogen und ver­wor­fen und weitre­ichende Per­spek­tiv­en entwick­elt, die bis hin zur Neu­po­si­tion­ierung des Welt­geistes und der von ihm kom­mandierten Dämo­nen reichen kön­nen. Sie park­ten beim Fis­chrestau­rant „Ros­tiger Anker“ neben der Mün­dung der Fis­cha in die Donau. Groll machte den Dozen­ten auf die vom Besitzer eigen­händig errichtete Rampe für gehbe­hin­derte Men­schen aufmerk­sam.

„Was für ein trau­riger Anblick“, sagte Groll. „Die einzig funk­tionelle Rampe im Umkreis von zwanzig Kilo­me­tern – an der Donau gibt es sog­ar über siebzig Kilo­me­ter nichts Ver­gle­ich­bares – doch das Restau­rant ist geschlossen und dem Ver­fall preis­gegeben.“

Sie nah­men den kurvi­gen Weg durch die Wiesen­land­schaft an der Donau. Ursprünglich geschot­tert, war die Straße längst in eine unbe­fes­tigte Piste überge­gan­gen, die von Pfützen und schlam­mi­gen Stellen durch­set­zt war.

„Sel­ten aber doch kann es geschehen, daß auch in per­sön­lichen Fra­gen die Notwendigkeit ein­er Aussprache erwächst“, eröffnete Herr Groll das Gespräch. „Diese aber muß von größter, wenn nicht von lebensentschei­den­der Bedeu­tung sein. Dazu zählen Fra­gen von Leben und Tod, wie sie durch den nun­mehr in Öster­re­ich möglichen assistierten Suizid ver­stärkt gegeben sind, eben­so wie Fra­gen von ver­stoßen­er Liebe und unstill­bar­er Eifer­sucht wie neulich im ver­schneit­en Vil­lach, als eine aus­ge­bootete Ehe­frau sich an ihrer Rivalin und deren Sohn rächte, indem sie die bei­den mit dem Auto auf ein­er engen Straße, die bei­d­seits durch meter­ho­he Schneewächt­en gesäumt war, nieder­stieß und tötete. Die Opfer hat­ten keine Chance, der Rache der Ver­stoße­nen zu ent­ge­hen. Eine Aussprache hätte den Opfern wahrschein­lich das Leben bewahrt, aber zum Wesen ein­er Aussprache gehört, daß sie von ein­er Seite begehrt wird und die andere sich diesem Begehren nicht ver­schließt. Die Krim­i­nal­itäts- und Mor­darchive sind voll mit ver­passten Aussprachen.“

„Die Zeit für eine Aussprache war in diesem tragis­chen Fall längst ver­strichen“, sagte der Dozent. „Vielle­icht hätte ein Gespräch­saus­tausch, der ja weniger erden­schw­er daherkommt als eine Aussprache, noch etwas geholfen.“

„Sie soll­ten sich doch längst im Klaren darüber sein, daß ein Aus­tausch mit ein­er Aussprache nicht mithal­ten kann“, nahm Herr Groll die Vorrede wieder auf. „Ihre Vor­liebe für das min­der scharfe Instru­ment des unverbindlichen Aus­tauschs wurzelt unzweifel­haft in Ihrer großbürg­er­lichen Herkun­ft. Aufgewach­sen in ein­er Indus­triel­lenvil­la in Wien-Hiet­z­ing und verse­hen mit den Seg­nun­gen ein­er Schulka­r­riere im There­sianum, sowie einem Studi­um der Sozi­olo­gie in Oxford, sind sie den Umgang mit Mil­lionärssprößlin­gen gewöh­nt, die über geschlif­f­ene Manieren, ein selb­st­be­wußtes Auftreten und genü­gend Taschen­geld für einen Aston Mar­tin ver­fü­gen. Unverbindlich­er Small Talk ist unter diesen Leuten eine beliebte Diszi­plin.“

„Die Devianz­forschung weist nach, daß der Sozial­neid zu den beson­ders häßlichen Seit­en der mod­er­nen gesellschaftlichen Ver­w­er­fun­gen zählt“, erwiderte der Dozent. Er bemühte sich erst gar nicht, seinen Ärg­er zu unter­drück­en.

Man könne den Sozial­neid auch kul­tivieren, lenk­te Herr Groll ein. Solcher­art vere­delt ließen sich ihm dur­chaus pro­duk­tive Seit­en abgewin­nen. Zu deren wichtig­sten zäh­le ein real­is­tis­ch­er Blick auf die Ver­hält­nisse. Daß den Absol­ven­ten der Eliteschulen und Uni­ver­sitäten aber nicht ohne Grund eine aus­geprägte Wankelmütigkeit in den Fra­gen des Lebens nachge­sagt werde, sei kein Zufall, son­dern eine wis­senschaftlich fundierte Erken­nt­nis.
In schar­fem Kon­trast zur großbürg­er­lichen Herkun­ft des Dozen­ten rech­nete Herr Groll sich selb­st zum vorstädtis­chen Sub­pro­le­tari­at, das weltan­schaulich auf einem schmalen Grat zwis­chen einem kru­den Mate­ri­al­is­mus, rhap­sodis­chen Gemüt­sla­gen und ein­er aus­geprägten Nei­gung zu Has­sat­tack­en und Gewalt­tätigkeit bal­anciert.

„Lück­en­hafte schulis­che Ken­nt­nisse und prekäre Aus­bil­dungs- und Arbeitsver­läufe ergänzen sich bei den Jugendlichen der Vorstädte zu einem tox­is­chen Gemenge. Nur die aller­wenig­sten sind in der Lage, sich zu ein­er gediege­nen Halb­bil­dung aufzuschwin­gen“, fuhr Groll fort. „Vertreter dieser Gruppe, Poli­tik­wis­senschaftler schätzen sie auf fün­fzig bis sechzig Prozent der Bevölkerung, neigen nicht ohne Grund zu Extremen.“

„Das Aufwach­sen unter extremen Bedin­gun­gen begün­stigt die Her­aus­bil­dung extrem­istis­ch­er Weltan­schau­un­gen“, assistierte der Dozent.
„Ihre Rede klingt mir zu fatal­is­tisch“, sagte Groll. „Es gibt in dieser Frage keinen Automa­tismus, wohl aber eine starke Ten­denz. Aus lei­d­voller Erfahrung mit Jugendlichen aus der Nach­barschaft kann ich Ihnen sagen, daß die zivil­isatorische Tünche bei vie­len dünn ist, sehr dünn. Ander­er­seits wür­den, eine offene Bil­dungs­land­schaft voraus­ge­set­zt, nicht wenige der Labilen und Gefährde­ten als Träger und Moti­va­toren von Emanzi­pa­tions­be­we­gun­gen eine gute Fig­ur machen. So aber find­en sich unter den gegebe­nen Bedin­gun­gen, in denen gesellschaftlich­er Auf­stieg von man­nig­fachen Bar­ri­eren behin­dert wird und Wohl­stand, Bil­dung und beru­flich­er Erfolg über­wiegend auf dem Erb­wege weit­ergegeben wer­den, unter den männlichen Vorstadt­pro­le­tari­ern viele Sozial­hil­febezieher und arbeit­slose Jugendliche, deren exis­ten­zielle Pole durch die Kürzel AMS und BMW beschrieben wer­den müssen. Beson­ders schw­er haben es in diesen Kreisen Mäd­chen, die zu allen struk­turellen gesellschaftlichen Übeln auch noch unter dem Zwang zur famil­iären Repro­duk­tion­sar­beit und ein­er damit ein­herge­hen­den Unter­drück­ung durch Fam­i­lie, Clan-Väter und -Brüder lei­den. Nicht zufäl­lig ist die Impfquote unter den migrantis­chen Jugendlichen und jun­gen Män­nern beson­ders ger­ing. Impfen gilt vie­len als unmännlich.“

„Alle Men­schen sind Intellek­tuelle, aber nicht alle Men­schen haben in der Gesellschaft die Funk­tion von Intellek­tuellen“, erwiderte der Dozent.

„Wer sagt das?“

„Der Chef des Tirol­er Law­inen­warn­di­en­stes, Rudi Mair, angesichts der Law­ine­nun­fälle von Anfang Feb­ru­ar. Es schmerze ihn und mache ihn trau­rig, wenn er tage­lang warne, warne und wieder warne: Und dann gebe es inner­halb von zwei Tagen über 50 reg­istri­erte Law­ine­nun­fälle mit neun Toten.“

„Ich dachte eher, der Satz sei von Anto­nio Gram­sci“, sagte Groll zweifel­nd.

„Oder war es die Grande Dame des Lib­er­al­is­mus, Irm­gard Griss“, räumte der Dozent ein. „Sie wurde mit den Worten zitiert: ´Die Pan­demie hat so gewaltige Schä­den und so viel men­schlich­es Leid verur­sacht und wenn es die Möglichkeit gibt durch die Imp­fung die Pan­demie einzudäm­men, ist es nicht einzuse­hen, dass das nicht gemacht wird. Es ist ja auch die Ver­ant­wor­tung jedes einzel­nen das zu tun, was für die Gesellschaft notwendig ist.“
„Klare Worte. So ein­fach kön­nte es sein“, sagte Groll. „Frau Griss hat noch ihre fünf Sinne beisam­men. Und sie schmeißt die Ner­ven nicht weg. Sie biedert sich auch nicht auf eine wider­liche Art bei den ´Frei­heit­skämpfern‚ an, wie es unser Bun­de­spräsi­dent in sein­er Neu­jahrsrede tat. Man müsse mit allen reden kön­nen, man müsse die Leute dort abholen, wo sie sind – ja wo denn son­st? – man dürfe die Spal­tung der fried­lieben­den Gesellschaft nicht zulassen und weit­eren ver­harm­losenden Unsinn.“

Der Dozent zog die Stirn in Fal­ten. „Was haben Sie gegen diese Punk­te?“

„Alle sind falsch: Es gibt Sit­u­a­tio­nen, da kann man nicht mit allen reden, es gibt Leute, die sind für immer für die Zivil­i­sa­tion ver­loren und bewe­gen sich in obskuren Echokam­mern. Zweit­ens: die Gesellschaft ist längst ges­pal­ten, ich würde sog­ar sagen, sie ist von einem tiefen Riß zwis­chen jenen, die sich mit den Mit­teln der Wis­senschaft und der staats­bürg­er­lichen Ver­nun­ft gegen das Virus wehren und jenen, die sich wie Troglodyten auf­führen, durch­zo­gen. Wo eine klare Aus­sage Not täte, ver­harm­lost er und spielt die gesellschaftsspren­gende Ver­ant­wor­tungslosigkeit dieser Leute hin­unter. Selb­stre­dend, daß sich die Kickls, Rut­ters und die Kohort­en von Obsku­ran­tis­ten, die Herr Mateschitz durch seinen Fernsehsender treiben läßt, von der Feigheit und Hil­flosigkeit der Regieren­den ange­s­pornt fühlen.“

„Das ist ja das Elend“, seufzte der Dozent. „Mit der Ide­olo­gie ist es wie beim Mundgeruch, man merkt sie immer nur beim anderen.“

„Mit Ver­laub, dieser Satz ist Unsinn!“

„Warum?“

„Weil es so etwas wie einen ide­olo­giefreien Raum nicht gibt. Ide­olo­gie ist so etwas wie die Hin­ter­grund­strahlung des Uni­ver­sums, sie ist immer da. Und wie die Hin­ter­grund­strahlen des Uni­ver­sums vari­ieren auch die Ide­olo­gien. Ich rede jet­zt nicht vom Sun­ja­jew-Sel­dow­itsch-Effekt oder anderen Inho­mogen­itäten der Strahlung.“

„Ange­ber!“ rief der Dozent. „Pla­gia­tor! Das ste­ht doch sich­er alles im Netz!“

„Aber nicht jed­er ver­mag einen kom­plex­en Sachver­halt in ein­er Aussprache an passender Stelle zu zitieren“, erwiderte Groll. „Und das fehler­los! Darin erweist sich der wahre Meis­ter, daß er das Wis­sen der Men­schheit auf­spüren und zweck­di­en­lich ver­wen­den kann.“

„Gle­ich wer­den Sie mit Mac­chi­avel­li kom­men, der das sicher­lich auch kon­nte!“

„Mac­chi­avel­li war sozusagen ein Vor­läufer von mir. Sie sind auf dem richti­gen Weg“, ver­set­zte Groll.

„Aber wir sind hier auf dem falschen“, gab der Dozent zurück. „Er geht allmäh­lich in eine Schlammwüste über. Lassen Sie uns ins Gras auswe­ichen.“

„Das ist zu hoch für den Roll­stuhl. Außer­dem ist es von Dis­teln durch­set­zt. Ich brauche meine Hände noch!“

„Was sollen wir also tun?“

„Wir kön­nten uns bei der Fis­cher­hütte dort vorn ans Ufer set­zen und nach Schif­f­en Auss­chau hal­ten.“

Der Dozent musterte seinen Fre­und mit einem skep­tis­chen Blick. „Und unsere Aussprache?“

„Das eine schließt das andere nicht aus.“

Und so kam es, daß die bei­den sich ein kurzes Stück durch das hohe Gras zum Donau­ufer kämpften. Vor der Fis­cher­hütte – sie war ver­waist – nutzten sie ein akku­rat gemäht­es Rasen­stück vor den Ein­gangsstufen und bezo­gen dort Stel­lung. Zuvor hat­te der Dozent sein Rad an einen Geräteschup­pen gelehnt. Die Daubel war hochge­zo­gen, auf der Donau war kein Frachtschiff zu sehen.

„Gehe ich recht in der Annahme, daß Sie mich nicht wegen der Hin­ter­grund­strahlung des Kos­mos an die Donau gebeten haben?“ fragte der Dozent.
„So ist es“, antwortete Herr Groll ernst. „Ich möchte mit Ihnen über das Ver­sagen der Linken in der Bekämp­fung der Pan­demie sprechen.“

Der Dozent set­zte ein iro­nis­ches Lächeln auf. „Da laufen sie bei mir eine offene Tür ein. Ich frage mich auch schon die läng­ste Zeit, warum die Linke, die ja son­st mit Vorschlä­gen und The­o­rien nicht zurück­hal­tend ist, im Falle des Coro­na-Virus so schweigsam ist. Als hätte es ihr die Rede ver­schla­gen. Bitte tra­gen Sie Ihre Argu­mente vor.“

Der Dozent holte Notizbuch und Füllfed­er aus seinem Sport­jack­ett her­vor. Herr Groll set­zte sich im Roll­stuhl zurecht.

„Ihre Beobach­tung, verehrter Fre­und, ist richtig“, leit­ete er ein. „In der größten Gesund­heit­skrise seit den bei­den Weltkriegen glänzt die Linke durch Abwe­sen­heit und Ver­wirrung. Sie ignori­ert wis­senschaftliche Erken­nt­nisse, weil sie von der Phar­main­dus­trie stam­men, dabei hätte sie das begrif­fliche Rüstzeug zur Hand, das aus ein­er Naturkatas­tro­phe ein let­ztlich doch beherrschbares Phänomen macht. Natür­lich erwirtschaften Pfiz­er und Co mit der Pan­demie Extraprof­ite. Mono­pole wach­sen in der Krise, das wußten nicht erst die marx­is­tis­chen Ökonomen der siebziger Jahre. Die Konz­erne gehorchen dem Ver­w­er­tungszwang, schließlich gibt es ja auch unter den Monopolen Konkur­renz. Aber, und dieses aber wiegt schw­er­er als jed­er Aktiengewinn, auch das sollte für die Linke nichts Neues sein. Schon Marx äußert sich angesichts der Wand­lungs­fähigkeit und Inno­va­tion­skraft des Kap­i­tal­is­mus nicht nur in seinen „Mehrw­ert­the­o­rien“ tief beein­druckt.

Mit der Pan­demie ver­hält es sich eben­so. Würde man den Begriff Dialek­tik nicht wie eine Mon­stranz vor sich her­tra­gen, son­dern im konkreten Denken und Han­deln ange­wandt haben, hätte man unschw­er diag­nos­tizieren kön­nen, daß die Ret­tung der meis­ten Men­schen vor mörderischen Todeswellen neben der seit der Antike bewährten Kon­tak­tre­duk­tion die in weni­gen Monat­en zur Pro­duk­tion­sreife gebracht­en Vakzine der Phar­makonz­erne sind. Die damit Extraprof­ite machen – und weit­er­hin machen wer­den. So ist der Lauf der Dinge im Kap­i­tal­is­mus, und er wird von der Pan­demie nicht aufge­hoben, son­dern ver­stärkt. Nie­man­dem stünde es bess­er an, diese Dialek­tik der Pan­demie bess­er zu ver­ste­hen als der Linken. Großar­tige wis­senschaftliche und tech­nol­o­gis­che Leis­tun­gen der Phar­makonz­erne, die Mil­lio­nen Tote ver­hin­dern, und gle­ichzeit­ig pri­vate Aneig­nung des dadurch geschöpften Mehrw­erts als Prof­it – wobei ein erkleck­lich­er Teil der Forschungsmit­tel aus öffentlichen Quellen stammt, die Konz­erne sind für Know How, Pro­duk­tion und Ver­trieb ver­ant­wortlich. So und nicht anders funk­tion­iert der Staatsmo­nop­o­lis­tis­che Kap­i­tal­is­mus.“

Der Dozent beobachtete einen Pad­dler, der in der Schif­fahrt­srinne tal­wärts fuhr. Er wink­te ihm zu.

„Erwarten Sie nicht, daß er zurück grüßt“, bemerk­te Groll. „Er braucht seine Hände für die Sta­bil­ität des Boots. Aber lassen Sie uns fort­set­zen:
Wenn das einge­set­zte Kap­i­tal sich für eine gewisse Zeit im Gesund­heits­bere­ich eben­so gut oder sog­ar bess­er ver­w­ertet als im Rüs­tungs- oder IT-Sek­tor, dann wird eben dieser Zweig forciert. Daß dies zum Nutzen der Men­schheit geschieht, ist vom Stand­punkt der Kap­i­talver­w­er­tung aus gese­hen, nichts anderes als ein Kol­lat­er­alschaden. Man nimmt ihn in Kauf wie einen war­men Som­mer­re­gen.“

„Man täte sich jet­zt leichter, wenn man das eigene sil­berne Wis­sens­besteck nicht in ein­er Kom­mode ver­stauben hätte lassen“, ergänzte der Dozent, der Ein­tra­gun­gen in sein Notizbuch vor­nahm.

„So rächt sich der fahrläs­sige Umgang mit den müh­sam erar­beit­eten eige­nen Denkw­erkzeu­gen“, fuhr Groll fort. „Anstatt mit sach­lich richti­gen, auf­muntern­den, ja empathis­chen Parolen voranzuge­hen, duckt die Linke sich weg. Anstatt den Unsicheren und Schwank­enden Rat und Ans­porn zu geben, ver­weigert sie jeden Anschein ein­er intellek­tuellen Führung. Statt den weniger Gebilde­ten Ori­en­tierung und Infor­ma­tion zu reichen, schaut sie sel­ber betreten zur Seite, wenn ein Drit­tel der Coro­na-Todes­opfer in Pflege­heimen verze­ich­net wer­den. Statt für eine Impf­pflicht – nicht nur im Gesund­heits- und Pflege­bere­ich – zu kämpfen, ver­sagt sie auch hier. Sie fürchtet sich vor ihrer Klien­tel, deren Gehirne von social media und dem Boule­vard ver­heert sind. Einem Boule­vard, der maßge­blich von der sozialdemokratis­chen Linken geschaf­fen wurde. Denken Sie an die Geschichte der Kro­nen Zeitung, die Anfang der 60er Jahre mit Gew­erkschafts­geldern gegrün­det wurde und mit ihren Staberls und Reimanns den Boule­vard ins Recht­sex­treme aus­dehnte und den Auf­stieg eines Jörg Haider maßge­blich unter­stützte. Und denken Sie an die hor­ren­den Presse­förderun­gen für das Fell­ner-Medi­en­haus und die Inser­aten­flut durch die Wiener Stadtregierung. Ich erin­nere mich an eine Episode aus der Fay­mann-Ära der 90er und frühen 2000er Jahre. Sie wis­sen, daß der SPÖ-Kan­zler bei Dichands wohl gelit­ten war und wie ein Fam­i­lien­mit­glied behan­delt wurde. Wenn man die SPÖ-Zen­trale neben dem Café Landt­mann betrat, befand sich rechter­hand ein langes Pult, auf dem eine beein­druck­ende Vielfalt an Weltzeitun­gen aus­gelegt war. Eines Tages aber war die Welt in der Löwel­straße ver­schwun­den, wie in den Hotels von Ceauşes­cu-Rumänien lagen Dutzende Exem­plare ein­er einzi­gen Zeitung aus. Sie ahnen, um welche es sich han­delte. Der Kan­zler will es so, hieß es, als ich den Porti­er nach dem Grund des Zeitungsster­bens in der SPÖ-Parteizen­trale fragte.“

Er wisse sehr gut, daß der sozialdemokratis­che Ein­satz gegen Pop­ulis­mus und Recht­sex­trem­is­mus im Medi­en­bere­ich eben­so hohl war wie die sein­erzeit­i­gen Ver­sicherun­gen des KPÖ-Vor­sitzen­den Muhri, Atom­kraftwerke im West­en seien – da von prof­it­getriebe­nen Konz­er­nen betrieben – abzulehnen. Anders ver­halte es sich mit den Kernkraftwerken im Realen Sozial­is­mus, diese seien – da unter ständi­ger demokratis­ch­er Kon­trolle des Volkes – sich­er.

„Was in Tsch­er­nobyl zu beweisen war“, stimmte Groll zu. „Gew­erkschaften, Arbeit­erkam­mern, linke Einzelkämpfer der SPÖ und die Organ­i­sa­tion­sreste der KPÖ wirken, als seien sie von einem poli­tis­chen Long Covid Syn­drom erfaßt, es herrschen Ver­wirrung und Antrieb­slosigkeit. Auch bei den tapfer­en Genossen und Genossin­nen der steirischen und Graz­er KPÖ regieren Mut­losigkeit und Defätismus. Nicht ein­mal die Tat­sache, daß sie, die seit siebzig Jahren den Antifaschis­mus eben­so hoch gehal­ten haben wie die Volks­ge­sund­heit, jet­zt nichts dage­gen haben, am Höhep­unkt der Pan­demie mit Nazis, Anti­semiten, Ver­schwörungs­the­o­retik­ern und poli­tisch hochgr­a­dig ver­wirrten Per­so­n­en in ein­er Rei­he zu ste­hen. Daß Beschäftigte des Gesund­heitssek­tors immer öfter und immer aggres­siv­er von durchge­dreht­en und krim­inellen ´Frei­heit­skämpfern‚ und ´Kämpferin­nen‚ beschimpft, bedro­ht und bespuckt wer­den, ficht sie nicht an. Kaum, daß sie halb­herzige und müde Worte des Bedauerns find­en. Daß Bürg­er­meis­ter, die sich für die Impf­pflicht aussprechen, und ihre Fam­i­lien mit Mord­dro­hun­gen über­zo­gen wer­den, ist den öster­re­ichis­chen Linken kaum ein Wort des Protests oder der Verurteilung wert. Man schweigt.“

„Und wenn der erste ´ver­wirrte Einzeltäter‚ eine Ärztin oder einen Krankenpfleger ermordet, find­et man sich zu ein­er Pflicht­demon­stra­tion ein und schweigt weit­er. Es hat fast den Anschein, als wolle die Linke die Pan­demie aus­sitzen wie die Sozialdemokratie das NS-Regime“, schluß­fol­gerte der Dozent.

„Gut gesagt, verehrter Dozent“, sagte Groll. „Nur daß sie sich dieses Mal auch der Unter­stützung der kom­mu­nis­tis­chen Rest­grup­pen sich­er sein kann. Bekan­ntlich gibt es in der Poli­tik kein Vaku­um. Also wer­den die Ultra­recht­en auf den Coro­n­awellen in Stadt und Land in die Regierun­gen gespült. Und wieder wird ein Entset­zenss­chrei durch die Lande gehen: Wie kon­nte das nur geschehen!? Wie war das möglich!?“

„Hören Sie auf! Mit ihren dystopis­chen Visio­nen brin­gen Sie mich noch dazu, in die Donau zu sprin­gen!“ Der Dozent klappte sein Notizbuch zu und sagte unsich­er. „Wer weiß … vielle­icht ist es doch bess­er, mit den Men­schen zu irren, als gegen sie Recht zu behal­ten?“

„An Sätzen wie diesem und der Prax­is, die er anleit­ete, ist der Reale Sozial­is­mus zugrunde gegan­gen“, erwiderte Groll. „Anfangs trug er die Welt unter dem Arm und eröffnete den Armen und Getrete­nen neue Per­spek­tiv­en, am Schluß war er nur mehr ein hohles Gebäude aus blech­er­nen Phrasen und hohlen Rit­ualen.“

„Es gab keinen Aus­tausch, schon gar keine Aussprachen mehr“, murmelte der Dozent.

„Coro­na beschert uns ein bek­lem­mendes Schaus­piel. Wir sind Zeu­gen eines welth­is­torischen Abtritts, verehrter Fre­und! Die Restlinke löst sich auf wie Eis­brock­en im Schmelzwass­er. Die Linke als geschichts­gestal­tende Kraft dankt endgültig ab. Sie ver­spielt die Möglichkeit­en, die die Gegen­wart in reich­er Zahl bietet, und wer die Gegen­wart ver­spielt, braucht sich über die Zukun­ft keine Sor­gen mehr zu machen. Die Linke hat den Zugriff auf die Wirk­lichkeit ver­loren, sie ist ins Reich der Geschichte abge­wan­dert. Ein Fall für His­torik­erIn­nen der Arbeit­er­be­we­gung. Die Linke ist Geschichte.“

„In der Geschichte der Men­schheit sind viele Reiche unterge­gan­gen und den­noch ging es irgend­wie weit­er“ wandte der Dozent ein. „Meis­tens wur­den die Dinge schlim­mer. Ich weiß nur, daß die totale Herrschaft des Kap­i­tal­is­mus schon vor ger­aumer Zeit begonnen hat. An sich sel­ber wird er nicht zugrunde gehen, wie Otto Bauer und andere vor hun­dert Jahren hofften. Er hat seine größte Zeit noch vor sich, und Sie kön­nen das auch als Dro­hung ver­ste­hen. Und keine organ­isierte Kraft wird ihn stören.“

„Das sagen Sie als alter Link­er!?“

„Ich bin zu alt, um meine Prä­gun­gen vergessen zu kön­nen und ver­leug­nen will ich sie schon gar nicht! Und die drama­tis­che Ader in mir spricht dafür, daß ich bis zum Ende ein Link­er bleiben werde. Im Gegen­satz zu den vie­len Fah­nen­flüchti­gen der Linken von Gior­gio Agam­ben über Sahra Wagenknecht bis zum Jugend­forsch­er Bern­hard Hein­zl­maier werde ich das Lager nicht wech­seln.“

„Sie meinen, wenn ein Gebäude ein­stürzt und eine Wolke aus Staub und Schutt den Him­mel ver­dunkelt, kön­nte sich irgend­wann etwas Neues bilden …“

„Unsinn. Das Denken eines Marx­is­ten kann doch vor dem eige­nen Haufen nicht halt­machen!“

„Aber irgen­det­was wird bleiben, so leicht lasse ich Sie nicht davonkom­men!“

„Nichts wird bleiben. Nicht ein­mal die Erin­nerung wird sich hal­ten.“

Der Dozent schwieg. Dann sagte er leise: “Das muß sehr schmer­zlich für Sie sein …“

„Sparen Sie sich Ihr bour­geois­es Mitleid, erwiderte Groll schroff. „Schauen Sie lieber, daß eine ordentliche Ver­mö­gens- und Erb­schaftss­teuer zur Finanzierung des Gesund­heits- und Pflegewe­sens einge­führt wird.“

Mit ein­er weit aus­holen­den Bewe­gung warf er einen Ast in die Donau. Er wurde von einem Strudel erfaßt und drehte sich län­gere Zeit im Kreis, bevor er unterg­ing.

„Verehrter Dozent, ich danke für die Aussprache“, sagte Herr Groll dann. „Sie hat einige Dinge in meinem Kopf wieder ger­ade gerückt.“

„Ich weiß zwar nicht wie und wodurch …“ stam­melte der Sozi­ologe. „Aber wenn es geholfen hat, dann freue ich mich.“

„Es hat geholfen, glauben Sie mir. Ich sehe die Dinge jet­zt klar­er.“

Nun warf auch der Dozent ein Stück Holz ins Wass­er. Nach einigem Kreisen wurde es vom Strudel in die Tiefe gezo­gen. Auf Höhe der Schwal­benin­sel hat­te Groll einen langsam berg­wärts fahren­den Schub­ver­band aus­gemacht. Er holte sein Fer­n­glas aus dem Roll­stuhlnetz.