Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg

Von

1

Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe ges­pan­nt ist, son­dern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bes­timmt stolpern zu machen als began­gen zu wer­den.

2

Alle men­schlichen Fehler sind Ungeduld, ein vorzeit­iges Abbrechen des Method­is­chen, ein schein­bares Einpfählen der schein­baren Sache.

3*

Es gibt zwei men­schliche Haupt­sün­den, aus welchen sich alle andern ableit­en: Ungeduld und Läs­sigkeit. Wegen der Ungeduld sind sie aus dem Paradiese ver­trieben wor­den, wegen der Läs­sigkeit kehren sie nicht zurück. Vielle­icht aber gibt es nur eine Haupt­sünde: die Ungeduld. Wegen der Ungeduld sind sie ver­trieben wor­den, wegen der Ungeduld kehren sie nicht zurück.

4

Viele Schat­ten der Abgeschiede­nen beschäfti­gen sich nur damit, die Fluten des Toten­flusses zu beleck­en, weil er von uns herkommt und noch den salzi­gen Geschmack unser­er Meere hat. Vor Ekel sträubt sich dann der Fluß, nimmt eine rück­läu­fige Strö­mung und schwemmt die Toten ins Leben zurück. Sie aber sind glück­lich, sin­gen Danklieder und stre­icheln den Empörten.

5

Von einem gewis­sen Punkt an gibt es keine Rück­kehr mehr. Dieser Punkt ist zu erre­ichen.

6

Der entschei­dende Augen­blick der men­schlichen Entwick­lung ist immer­während. Darum sind die rev­o­lu­tionären geisti­gen Bewe­gun­gen, welche alles Frühere für nichtig erk­lären im Recht, denn es ist noch nichts geschehn.

7. 8*

Eines der wirk­sam­sten Ver­führungsmit­tel des Bösen ist die Auf­forderung zum Kampf. Er ist wie der Kampf mit Frauen, der im Bett endet.

9. 10

A. ist sehr aufge­blasen, er glaubt im Guten weit vorgeschrit­ten zu sein, da er, offen­bar als ein immer ver­lock­ender­er Gegen­stand, immer mehr Ver­suchun­gen aus ihm bish­er ganz unbekan­nten Rich­tun­gen sich aus­ge­set­zt fühlt. Die richtige Erk­lärung ist aber die, daß ein großer Teufel in ihm Platz genom­men hat und die Unzahl der kleineren her­beikommt, um dem Großen zu dienen.

11. 12

Ver­schieden­heit der Anschau­un­gen, die man etwa von einem Apfel haben kann: die Anschau­ung des kleinen Jun­gen, der den Hals streck­en muß, um noch knapp den Apfel auf der Tis­ch­plat­te zu sehn, und die Anschau­ung des Haush­er­rn, der den Apfel nimmt und frei dem Tis­chgenossen reicht.

13

Ein erstes Zeichen begin­nen­der Erken­nt­nis ist der Wun­sch zu ster­ben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerr­e­ich­bar. Man schämt sich nicht mehr, ster­ben zu wollen; man bit­tet aus der alten Zelle, die man haßt, in eine neue gebracht zu wer­den, die man erst has­sen ler­nen wird. Ein Rest von Glauben wirkt dabei mit, während des Trans­portes werde zufäl­lig der Herr durch den Gang kom­men, den Gefan­genen ansehn und sagen: „Diesen sollt Ihr nicht wieder einsper­ren. Er kommt zu mir.“

14*

Gin­gest du über eine Ebene, hättest den guten Willen zu gehn und macht­est doch Rückschritte, [228] dann wäre es eine verzweifelte Sache; da du aber einen steilen Abhang hin­aufk­let­terst, so steil etwa, wie du selb­st von unten gesehn bist, kön­nen die Rückschritte auch nur durch die Bodenbeschaf­fen­heit verur­sacht sein, und du mußt nicht verzweifeln.

15

Wie ein Weg im Herb­st: Kaum ist er rein gekehrt, bedeckt er sich wieder mit den trock­e­nen Blät­tern.

16

Ein Käfig ging einen Vogel suchen.

17

An diesem Ort war ich noch niemals: Anders geht der Atem, blenden­der als die Sonne strahlt neben ihr ein Stern.

18

Wenn es möglich gewe­sen wäre, den Turm von Babel zu erbauen, ohne ihn zu erklet­tern, es wäre erlaubt wor­den.

19*

Laß dich vom Bösen nicht glauben machen, du kön­ntest vor ihm Geheimnisse haben.

20

Leop­ar­den brechen in den Tem­pel ein und saufen die Opfer­krüge leer; das wieder­holt sich immer wieder; schließlich kann man es voraus­berech­nen, und es wird ein Teil der Zer­e­monie.

21

So fest wie die Hand den Stein hält. Sie hält ihn aber fest, nur um ihn desto weit­er zu ver­w­er­fen. Aber auch in jene Weite führt der Weg.

22

Du bist die Auf­gabe. Kein Schüler weit und bre­it.

23

Vom wahren Geg­n­er fährt gren­zen­los­er Mut in dich.

24

Das Glück begreifen, daß der Boden, auf dem du stehst, nicht größer sein kann, als die zwei Füße ihn bedeck­en.

25

Wie kann man sich über die Welt freuen, außer wenn man zu ihr flüchtet?

26*

Ver­stecke sind unzäh­lige, Ret­tung nur eine, aber Möglichkeit­en der Ret­tung wieder so viele wie Ver­stecke.

*

Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nen­nen, ist Zögern.

27

Das Neg­a­tive zu tun, ist uns noch aufer­legt; das Pos­i­tive ist uns schon gegeben.

28

Wenn man ein­mal das Böse bei sich aufgenom­men hat, ver­langt es nicht mehr, daß man ihm glaube.

29

Die Hin­tergedanken, mit denen du das Böse in dir aufn­immst, sind nicht die deinen, son­dern die des Bösen.

*

Das Tier entwindet dem Her­rn die Peitsche und peitscht sich selb­st, um Herr zu wer­den, und weiß nicht, daß das nur eine Phan­tasie ist, erzeugt durch einen neuen Knoten im Peitschen­riemen des Her­rn.

30*

Das Gute ist in gewis­sem Sinne trost­los.

31

Nach Selb­st­be­herrschung strebe ich nicht. Selb­st­be­herrschung heißt: an ein­er zufäl­li­gen Stelle der unendlichen Ausstrahlun­gen mein­er geisti­gen Exis­tenz wirken wollen. Muß ich aber solche Kreise um mich ziehn, dann tue ich es bess­er untätig im bloßen Anstaunen des unge­heuer­lichen Kom­plex­es und nehme nur die Stärkung, die e con­trario dieser Anblick gibt, mit nach Hause.

32

Die Krähen behaupten, eine einzige Krähe kön­nte den Him­mel zer­stören. Das ist zweifel­los, beweist aber nichts gegen den Him­mel, denn Him­mel bedeutet eben: Unmöglichkeit von Krähen.

33*

Die Mär­tyr­er unter­schätzen den Leib nicht, sie lassen ihn auf dem Kreuz erhöhn. Darin sind sie mit ihren Geg­n­ern einig.

34

Sein Ermat­ten ist das des Glad­i­a­tors nach dem Kampf, seine Arbeit war das Weißtünchen eines Winkels in ein­er Beamten­stube.

35

Es gibt kein Haben, nur ein Sein, nur ein nach let­ztem Atem, nach Erstick­en ver­lan­gen­des Sein.

36

Früher begriff ich nicht, warum ich auf meine Frage keine Antwort bekam, heute begreife ich nicht, wie ich glauben kon­nte, fra­gen zu kön­nen. Aber ich glaubte ja gar nicht, ich fragte nur.

37

Seine Antwort auf die Behaup­tung, er besitze vielle­icht, sei aber nicht, war nur Zit­tern und Herzk­lopfen.

38

Ein­er staunte darüber, wie leicht er den Weg der Ewigkeit ging; er raste ihn näm­lich abwärts.

39

Dem Bösen kann man nicht in Rat­en zahlen – und ver­sucht es unaufhör­lich.

*

Es wäre denkbar, daß Alexan­der der Große trotz der kriegerischen Erfolge sein­er Jugend, trotz des aus­geze­ich­neten Heeres, das er aus­ge­bildet hat­te, trotz der auf Verän­derung der Welt gerichteten Kräfte, die er in sich fühlte, am Helle­spont ste­hen geblieben und ihn nie über­schrit­ten hätte, und zwar nicht aus Furcht, nicht aus Unentschlossen­heit, nicht aus Wil­lenss­chwäche, son­dern aus Erden­schwere.

39a*

Der Weg ist unendlich, da ist nichts abzuziehen, nichts zuzugeben und doch hält jed­er noch seine eigene kindliche Elle daran. „Gewiß, auch diese Elle Wegs mußt du noch gehen, es wird dir nicht vergessen wer­den.“

40*

Nur unser Zeit­be­griff läßt uns das Jüng­ste Gericht so nen­nen, eigentlich ist es ein Stan­drecht.

41*

Das Mißver­hält­nis der Welt scheint tröstlicher­weise nur ein zahlen­mäßiges zu sein.

42

Den ekel- und haßer­füll­ten Kopf auf die Brust senken.

43

Noch spie­len die Jagdhunde im Hof, aber das Wild ent­ge­ht ihnen nicht, so sehr es jet­zt schon durch die Wälder jagt.

44

Lächer­lich hast du dich aufgeschirrt für diese Welt.

45

Je mehr Pferde du anspannst, desto rasch­er gehts – näm­lich nicht das Aus­reißen des Blocks aus dem Fun­da­ment, was unmöglich ist, aber das Zer­reißen der Riemen und damit die leere fröh­liche Fahrt.

46

Das Wort „sein“ bedeutet im Deutschen bei­des: Dasein und Ihm-gehören.

47

Es wurde ihnen die Wahl gestellt, Könige oder der Könige Kuriere zu wer­den. Nach Art der Kinder woll­ten alle Kuriere sein. Deshalb gibt es lauter Kuriere, sie jagen durch die Welt und rufen, da es keine Könige gibt, einan­der selb­st die sinn­los gewor­de­nen Mel­dun­gen zu. Gerne wür­den sie ihrem elen­den Leben ein Ende machen, aber sie wagen es nicht wegen des Dien­stei­des.

48

An Fortschritt glauben heißt nicht glauben, daß ein Fortschritt schon geschehen ist. Das wäre kein Glauben.

49

A. ist ein Vir­tu­ose und der Him­mel ist sein Zeuge.

50*

Der Men­sch kann nicht leben ohne ein dauern­des Ver­trauen zu etwas Unz­er­stör­barem in sich, wobei sowohl das Unz­er­stör­bare als auch das Ver­trauen ihm dauernd ver­bor­gen bleiben kön­nen. Eine der Aus­drucksmöglichkeit­en dieses Ver­bor­gen­bleibens ist der Glaube an einen per­sön­lichen Gott.

51*

Es bedurfte der Ver­mit­tlung der Schlange: das Böse kann den Men­schen ver­fuhren, aber nicht Men­sch wer­den.

52*

Im Kampf zwis­chen dir und der Welt sekundiere der Welt.

53

Man darf nie­man­den betrü­gen, auch nicht die Welt um ihren Sieg.

54

Es gibt nichts anderes als eine geistige Welt; was wir sinnliche Welt nen­nen, ist das Böse in der geisti­gen, und was wir böse nen­nen, ist nur eine Notwendigkeit eines Augen­blicks unser­er ewigen Entwick­lung.

*

Mit stärk­stem Licht kann man die Welt auflösen. Vor schwachen Augen wird sie fest, vor noch schwächeren bekommt sie Fäuste, vor noch schwächeren wird sie schamhaft und zer­schmettert den, der sie anzuschauen wagt.

55

Alles ist Betrug: das Min­dest­maß der Täuschun­gen suchen, im üblichen bleiben, das Höch­st­maß suchen. Im ersten Fall betrügt man das Gute, indem man sich dessen Erwer­bung zu leicht machen will, das Böse, indem man ihm allzu ungün­stige Kampf­be­din­gun­gen set­zt. Im zweit­en Fall betrügt man das Gute, indem man also nicht ein­mal im Irdis­chen nach ihm strebt. Im drit­ten Fall betrügt man das Gute, indem man sich möglichst weit von ihm ent­fer­nt, das Böse, indem man hofft, durch seine Höch­st­steigerung es macht­los zu machen. Vorzuziehen wäre also hier­nach der zweite Fall, denn das Gute betrügt man immer, das Böse in diesem Fall, wenig­stens dem Anschein nach, nicht.

56

Es gibt Fra­gen, über die wir nicht hin­wegkom­men kön­nten, wenn wir nicht von Natur aus von ihnen befre­it wären.

57

Die Sprache kann für alles außer­halb der sinnlichen Welt nur andeu­tungsweise, aber niemals auch nur annäh­ernd ver­gle­ich­sweise gebraucht wer­den, da sie entsprechend der sinnlichen Welt nur vom Besitz und seinen Beziehun­gen han­delt.

58*

Man lügt möglichst wenig, nur wenn man möglichst wenig lügt, nicht wenn man möglichst wenig Gele­gen­heit dazu hat.

59*

Eine durch Schritte nicht tief aus­ge­höhlte Trep­pen­stufe ist, von sich sel­ber aus gese­hen, nur etwas öde zusam­menge­fügtes Hölz­ernes.

60

Wer der Welt entsagt, muß alle Men­schen lieben, denn er entsagt auch ihrer Welt. Er begin­nt daher, das wahre men­schliche Wesen zu ahnen, das nicht anders als geliebt wer­den kann, voraus­ge­set­zt, daß man ihm eben­bür­tig ist.

61*

Wer inner­halb der Welt seinen Näch­sten liebt, tut nicht mehr und nicht weniger Unrecht als wer inner­halb der Welt sich selb­st liebt. Es bliebe nur die Frage, ob das erstere möglich ist.

62

Die Tat­sache, daß es nichts anderes gibt als eine geistige Welt, nimmt uns die Hoff­nung und gibt uns die Gewißheit.

63

Unsere Kun­st ist ein von der Wahrheit Geblendet-Sein: Das Licht auf dem zurück­we­ichen­den Fratzen­gesicht ist wahr, son­st nichts.

64. 65

Die Vertrei­bung aus dem Paradies ist in ihrem Haupt­teil ewig: Es ist also zwar die Vertrei­bung aus dem Paradies endgültig, das Leben in der Welt unauswe­ich­lich, die Ewigkeit des Vor­ganges aber (oder zeitlich aus­ge­drückt: die ewige Wieder­hol­ung des Vor­gangs) macht es trotz­dem möglich, daß wir nicht nur dauernd im Paradiese bleiben kön­nten, son­dern tat­säch­lich dort dauernd sind, gle­ichgültig ob wir es hier wis­sen oder nicht.

66

Er ist ein freier und gesichert­er Bürg­er der Erde, denn er ist an eine Kette gelegt, die lang genug ist, um ihm alle irdis­chen Räume frei zu geben, und doch nur so lang, daß nichts ihn über die Gren­zen der Erde reißen kann. Gle­ichzeit­ig aber ist er auch ein freier und gesichert­er Bürg­er des Him­mels, denn er ist auch an eine ähn­lich berech­nete Him­mels­kette gelegt. Will er nun auf die Erde, drosselt ihn das Hals­band des Him­mels, will er in den Him­mel, jenes der Erde. Und trotz­dem hat er alle Möglichkeit­en und fühlt es, ja er weigert sich sog­ar, das Ganze auf einen Fehler bei der ersten Fes­selung zurück­zuführen.

67

Er läuft den Tat­sachen nach wie ein Anfänger im Schlittschuh­laufen, der überdies irgend­wo übt, wo es ver­boten ist.

68

Was ist fröh­lich­er als der Glaube an einen Haus­gott!

69

The­o­retisch gibt es eine vol­lkommene Glücksmöglichkeit: An das Unz­er­stör­bare in sich glauben und nicht zu ihm streben.

70. 71

Das Unz­er­stör­bare ist eines; jed­er einzelne Men­sch ist es und gle­ichzeit­ig ist es allen gemein­sam, daher die beispiel­los untrennbare Verbindung der Men­schen.

72*

Es gibt im gle­ichen Men­schen Erken­nt­nisse, die bei völ­liger Ver­schieden­heit doch das gle­iche Objekt haben, so daß wieder nur auf ver­schiedene Sub­jek­te im gle­ichen Men­schen rück­geschlossen wer­den muß.

73

Er frißt den Abfall vom eige­nen Tisch; dadurch wird er zwar ein Weilchen lang sat­ter als alle, ver­lernt aber oben vom Tisch zu essen; dadurch hört dann aber auch der Abfall auf.

74

Wenn das, was im Paradies zer­stört wor­den sein soll, zer­stör­bar war, dann war es nicht entschei­dend; war es aber unz­er­stör­bar, dann leben wir in einem falschen Glauben.

75*

Prüfe dich an der Men­schheit. Den Zweifel­nden macht sie zweifeln, den Glauben­den glauben.

76

Dieses Gefühl: „hier ankere ich nicht“ – und gle­ich die wogende tra­gende Flut um sich fühlen!

*
Ein Umschwung. Lauernd, ängstlich, hof­fend umschle­icht die Antwort die Frage, sucht verzweifelt in ihrem unzugänglichen Gesicht, fol­gt ihr auf den sinnlos­es­ten, d. h. von der Antwort möglichst wegstreben­den Wegen.
77

Verkehr mit Men­schen ver­führt zur Selb­st­beobach­tung.

78

Der Geist wird erst frei, wenn er aufhört, Halt zu sein.

79

Die sinnliche Liebe täuscht über die himm­lis­che hin­weg; allein kön­nte sie es nicht, aber da sie das Ele­ment der himm­lis­chen Liebe unbe­wußt in sich hat, kann sie es.

80*

Wahrheit ist unteil­bar, kann sich also selb­st nicht erken­nen; wer sie erken­nen will, muß Lüge sein.

81

Nie­mand kann ver­lan­gen, was ihm im let­zten Grunde schadet. Hat es beim einzel­nen Men­schen doch diesen Anschein – und den hat es vielle­icht immer – so erk­lärt sich dies dadurch, daß jemand im Men­schen etwas ver­langt, was diesem jemand zwar nützt, aber einem zweit­en jemand, der halb zur Beurteilung des Fall­es herange­zo­gen wird, schw­er schadet. Hätte sich der Men­sch gle­ich anfangs, nicht erst bei der Beurteilung auf Seite des zweit­en jemand gestellt, wäre der erste jemand erloschen und mit ihm das Ver­lan­gen.

82

Warum kla­gen wir wegen des Sün­den­fall­es? Nicht seinetwe­gen sind wir aus dem Paradiese ver­trieben wor­den, son­dern wegen des Baumes des Lebens, damit wir nicht von ihm essen.

83

Wir sind nicht nur deshalb sündig, weil wir vom Baum der Erken­nt­nis gegessen haben, son­dern auch deshalb, weil wir vom Baum des Lebens noch nicht gegessen haben. Sündig ist der Stand, in dem wir uns befind­en, unab­hängig von Schuld.

84

Wir wur­den geschaf­fen, um im Paradies zu leben, das Paradies war bes­timmt, uns zu dienen. Unsere Bes­tim­mung ist geän­dert wor­den; daß dies auch mit des Bes­tim­mung des Paradieses geschehen wäre, wird nicht gesagt.

85

Das Böse ist eine Ausstrahlung des men­schlichen Bewußt­seins in bes­timmten Über­gangsstel­lun­gen. Nicht eigentlich die sinnliche Welt ist Schein, son­dern ihr Bös­es, das allerd­ings für unsere Augen die sinnliche Welt bildet.

86

Seit dem Sün­den­fall sind wir in der Fähigkeit zur Erken­nt­nis des Guten und Bösen im Wesentlichen gle­ich; trotz­dem suchen wir ger­ade hier unsere beson­deren Vorzüge. Aber erst jen­seits dieser Erken­nt­nis begin­nen die wahren Ver­schieden­heit­en. Der gegen­teilige Schein wird durch fol­gen­des her­vorgerufen: Nie­mand kann sich mit der Erken­nt­nis allein beg­nü­gen, son­dern muß sich bestreben, ihr gemäß zu han­deln. Dazu aber ist ihm die Kraft nicht mit­gegeben, er muß daher sich zer­stören, selb­st auf die Gefahr hin, sog­ar dadurch die notwendi­ge Kraft nicht zu erhal­ten, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig als dieser let­zte Ver­such. (Das ist auch der Sinn der Todes­dro­hung beim Ver­bot des Essens vom Baume der Erken­nt­nis; vielle­icht ist das auch der ursprüngliche Sinn des natür­lichen Todes.) Vor diesem Ver­such nun fürchtet er sich; lieber will er die Erken­nt­nis des Guten und Bösen rück­gängig machen, (die Beze­ich­nung: „Sün­den­fall“ geht auf diese Angst zurück); aber das Geschehene kann nicht rück­gängig gemacht, son­dern nur getrübt wer­den. Zu diesem Zweck entste­hen die Moti­va­tio­nen. Die ganze Welt ist ihrer voll, ja die ganze sicht­bare Welt ist vielle­icht nichts anderes als eine Moti­va­tion des einen Augen­blick lang ruhen­wol­len­den Men­schen. Ein Ver­such, die Tat­sache der Erken­nt­nis zu fälschen, die Erken­nt­nis erst zum Ziel zu machen.

87

Ein Glaube wie ein Fall­beil, so schw­er, so leicht.

88

Der Tod ist vor uns, etwa wie im Schulz­im­mer an der Wand ein Bild der Alexan­der­schlacht. Es kommt darauf an, durch unsere Tat­en noch in diesem Leben das Bild zu ver­dunkeln oder gar auszulöschen.

89

Ein Men­sch hat freien Willen und zwar dreier­lei: Erstens war er frei, als er dieses Leben wollte; jet­zt kann er es allerd­ings nicht mehr rück­gängig machen, denn er ist nicht mehr jen­er, der es damals wollte, es wäre denn insoweit, als er seinen dama­li­gen Willen aus­führt, indem er lebt.

Zweit­ens ist er frei, indem er die Gan­gart und den Weg dieses Lebens wählen kann.

Drit­tens ist er frei, indem er als der­jenige, der er ein­mal wieder sein wird, den Willen hat, sich unter jed­er Bedin­gung durch das Leben gehen und auf diese Weise zu sich kom­men zu lassen und zwar auf einem zwar wählbaren, aber jeden­falls der­ar­tig labyrinthis­chen Weg, daß er kein Fleckchen dieses Lebens unberührt läßt.

Das ist das Dreier­lei des freien Wil­lens, es ist aber auch, da es gle­ichzeit­ig ist, ein Ein­er­lei und ist im Grunde so sehr Ein­er­lei, daß es keinen Platz hat für einen Willen, wed­er für einen freien noch unfreien.

90*

Zwei Möglichkeit­en: sich unendlich klein machen oder es sein. Das zweite ist Vol­len­dung, also Untätigkeit, das erste Beginn, also Tat.

91*

Zur Ver­mei­dung eines Wor­tir­rtums: Was tätig zer­stört wer­den soll, muß vorher ganz fest gehal­ten wor­den sein; was zer­bröck­elt, zer­bröck­elt, kann aber nicht zer­stört wer­den.

92

Die erste Götzenan­be­tung war gewiß Angst vor den Din­gen, aber damit zusam­men­hän­gend Angst vor der Notwendigkeit der Dinge und damit zusam­men­hän­gend Angst vor der Ver­ant­wor­tung für die Dinge. So unge­heuer erschien diese Ver­ant­wor­tung, daß man sie nicht ein­mal einem einzi­gen Außer­men­schlichen aufzuer­legen wagte, denn auch durch Ver­mit­tlung eines Wesens wäre die men­schliche Ver­ant­wor­tung noch nicht genug erle­ichtert wor­den, der Verkehr mit nur einem Wesen wäre noch allzu sehr von Ver­ant­wor­tung befleckt gewe­sen, deshalb gab man jedem Ding die Ver­ant­wor­tung für sich selb­st, mehr noch, man gab diesen Din­gen auch noch eine ver­hält­nis­mäßige Ver­ant­wor­tung für den Men­schen.

93*

Zum let­zten­mal Psy­cholo­gie!

94

Zwei Auf­gaben des Leben­san­fangs: Deinen Kreis immer mehr ein­schränken und immer wieder nach­prüfen, ob du dich nicht irgend­wo außer­halb deines Kreis­es ver­steckt hältst.

95*

Das Böse ist manch­mal in der Hand wie ein Werkzeug, erkan­nt oder unerkan­nt läßt es sich, wenn man den Willen hat, ohne Wider­spruch zur Seite leg­en.

96

Die Freuden dieses Lebens sind nicht die seinen, son­dern unsere Angst vor dem Auf­steigen in ein höheres Leben; die Qualen dieses Lebens sind nicht die seinen, son­dern unsere Selb­stqual wegen jen­er Angst.

97

Nur hier ist Lei­den Lei­den. Nicht so, als ob die, welche hier lei­den, ander­swo wegen dieses Lei­dens erhöht wer­den sollen, son­dern so, daß das, was in dieser Welt Lei­den heißt, in ein­er andern Welt, unverän­dert und nur befre­it von seinem Gegen­satz, Seligkeit ist.

98*

Die Vorstel­lung von der unendlichen Weite und Fülle des Kos­mos ist das Ergeb­nis der zum Äußer­sten getriebe­nen Mis­chung von mühevoller Schöp­fung und freier Selb­st­besin­nung.

99

Wieviel bedrück­ender als die uner­bit­tlich­ste Überzeu­gung von unserem gegen­wär­ti­gen sünd­haften Stand ist selb­st die schwäch­ste Überzeu­gung von der ein­sti­gen ewigen Recht­fer­ti­gung unser­er Zeitlichkeit. Nur die Kraft im Ertra­gen dieser zweit­en Überzeu­gung, welche in ihrer Rein­heit die erste voll umfaßt, ist das Maß des Glaubens.

*

Manche nehmen an, daß neben dem großen Urbe­trug noch in jedem Fall eigens für sie ein klein­er beson­der­er Betrug ver­anstal­tet wird, daß also, wenn ein Liebesspiel auf der Bühne aufge­führt wird, die Schaus­pielerin außer dem ver­lo­ge­nen Lächeln für ihren Geliebten auch noch ein beson­deres hin­ter­hältiges Lächeln für den ganz bes­timmten Zuschauer auf der let­zten Galerie hat. Das heißt zu weit gehen.

100

Es kann ein Wis­sen vom Teu­flis­chen geben, aber keinen Glauben daran, denn mehr Teu­flis­ches, als da ist, gibt es nicht.

101

Die Sünde kommt immer offen und ist mit den Sin­nen gle­ich zu fassen. Sie geht auf ihren Wurzeln und muß nicht aus­geris­sen wer­den.

102

Alle Lei­den um uns müssen auch wir lei­den. Wir alle haben nicht einen Leib, aber ein Wach­s­tum, und das fuhrt uns durch alle Schmerzen, ob in dieser oder jen­er Form. So wie das Kind durch alle Lebenssta­di­en bis zum Greis und zum Tod sich entwick­elt (und jedes Sta­di­um im Grunde dem früheren, im Ver­lan­gen oder in Furcht, unerr­e­ich­bar scheint) eben­so entwick­eln wir uns (nicht weniger tief mit der Men­schheit ver­bun­den als mit uns selb­st) durch alle Lei­den dieser Welt. Für Gerechtigkeit ist in diesem Zusam­men­hang kein Platz, aber auch nicht für Furcht vor den Lei­den oder für die Ausle­gung des Lei­dens als eines Ver­di­en­stes.

103

Du kannst dich zurück­hal­ten von den Lei­den der Welt, das ist dir freigestellt und entspricht dein­er Natur, aber vielle­icht ist ger­ade dieses Zurück­hal­ten das einzige Leid, das du ver­mei­den kön­ntest.

105

Das Ver­führungsmit­tel dieser Welt sowie das Zeichen der Bürgschaft dafür, daß diese Welt nur ein Über­gang ist, ist das gle­iche. Mit Recht, denn nur so kann uns diese Welt ver­führen und es entspricht der Wahrheit. Das Schlimme ist aber, daß wir nach geglück­ter Ver­führung die Bürgschaft vergessen und so eigentlich das Gute uns ins Böse, der Blick der Frau in ihr Bett gelockt hat.

106

Die Demut gibt jedem, auch dem ein­sam Verzweifel­nden, das stärk­ste Ver­hält­nis zum Mit­men­schen und zwar sofort, allerd­ings nur bei völ­liger und dauern­der Demut. Sie kann das deshalb, weil sie die wahre Gebet­sprache ist, gle­ichzeit­ig Anbe­tung und fes­teste Verbindung. Das Ver­hält­nis zum Mit­men­schen ist das Ver­hält­nis des Gebetes, das Ver­hält­nis zu sich das Ver­hält­nis des Strebens; aus dem Gebet wird die Kraft für das Streben geholt.

*

Kannst du denn etwas anderes ken­nen als Betrug? Wird ein­mal der Betrug ver­nichtet, darf­st du ja nicht hin­sehn oder wirst zur Salzsäule.

107

Alle sind zu A. sehr fre­undlich, so etwa wie man ein aus­geze­ich­netes Bil­lard selb­st vor guten Spiel­ern sorgfältig zu bewahren sucht, solange bis der große Spiel­er kommt, das Brett genau unter­sucht, keinen vorzeit­i­gen Fehler duldet, dann aber, wenn er selb­st zu spie­len anfängt, sich auf die rück­sicht­slos­es­te Weise auswütet.

108

„Dann aber kehrte er zu sein­er Arbeit zurück, so wie wenn nichts geschehen wäre.“ Das ist eine Bemerkung, die uns aus ein­er unklaren Fülle alter Erzäh­lun­gen geläu­fig ist, trotz­dem sie vielle­icht in kein­er vorkommt.

109

„Daß es uns an Glauben fehle, kann man nicht sagen. Allein die ein­fache Tat­sache unseres Lebens ist in ihrem Glaubenswert gar nicht auszuschöpfen.“ „Hier wäre ein Glaubenswert? Man kann doch nicht nicht-leben.“

„Eben in diesem ‚kann doch nicht’ steckt die wahnsin­nige Kraft des Glaubens; in dieser Vernei­n­ung bekommt sie Gestalt.“

*

Es ist nicht notwendig, daß du aus dem Haus gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht ein­mal, warte nur. Warte nicht ein­mal, sei völ­lig still und allein. Anbi­eten wird sich dir die Welt zur Ent­larvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden.