Ein Hungerkünstler

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In den let­zten Jahrzehn­ten ist das Inter­esse an Hungerkün­stlern sehr zurück­ge­gan­gen. Während es sich früher gut lohnte, große der­ar­tige Vor­führun­gen in eigen­er Regie zu ver­anstal­ten, ist dies heute völ­lig unmöglich. Es waren andere Zeit­en. Damals beschäftigte sich die ganze Stadt mit dem Hungerkün­stler; von Hungertag zu Hungertag stieg die Teil­nahme; jed­er wollte den Hungerkün­stler zumin­d­est ein­mal täglich sehn; an den spätern Tagen gab es Abon­nen­ten, welche tage­lang vor dem kleinen Git­terkä­fig saßen; auch in der Nacht fan­den Besich­ti­gun­gen statt, zur Erhöhung der Wirkung bei Fack­elschein; an schö­nen Tagen wurde der Käfig ins Freie getra­gen, und nun waren es beson­ders die Kinder, denen der Hungerkün­stler gezeigt wurde; während er für die Erwach­se­nen oft nur ein Spaß war, an dem sie der Mode hal­ber teil­nah­men, sahen die Kinder staunend, mit offen­em Mund, der Sicher­heit hal­ber einan­der bei der Hand hal­tend, zu, wie er ble­ich, im schwarzen Trikot, mit mächtig vortre­tenden Rip­pen, sog­ar einen Ses­sel ver­schmähend, auf hingestreutem Stroh saß, ein­mal höflich nick­end, angestrengt lächel­nd Fra­gen beant­wortete, auch durch das Git­ter den Arm streck­te, um seine Magerkeit befühlen zu lassen, dann aber wieder ganz in sich selb­st ver­sank, um nie­man­den sich küm­merte, nicht ein­mal um den für ihn so wichti­gen Schlag der Uhr, die das einzige Möbel­stück des Käfigs war, son­dern nur vor sich hin­sah mit fast geschlosse­nen Augen und hie und da aus einem winzi­gen Gläschen Wass­er nippte, um sich die Lip­pen zu feucht­en.

Außer den wech­sel­nden Zuschauern waren auch ständi­ge, vom Pub­likum gewählte Wächter da, merk­würdi­ger­weise gewöhn­lich Fleis­chhauer, welche, immer drei gle­ichzeit­ig, die Auf­gabe hat­ten, Tag und Nacht den Hungerkün­stler zu beobacht­en, damit er nicht etwa auf irgen­deine heim­liche Weise doch Nahrung zu sich nehme. Es war das aber lediglich eine For­mal­ität, einge­führt zur Beruhi­gung der Massen, denn die Eingewei­ht­en wußten wohl, daß der Hungerkün­stler während der Hungerzeit niemals, unter keinen Umstän­den, selb­st unter Zwang nicht, auch das Ger­ing­ste nur gegessen hätte; die Ehre sein­er Kun­st ver­bot dies. Freilich, nicht jed­er Wächter kon­nte das begreifen, es fan­den sich manch­mal nächtliche Wach­grup­pen, welche die Bewachung sehr lax durch­führten, absichtlich in eine ferne Ecke sich zusam­menset­zten und dort sich ins Karten­spiel ver­tieften, in der offen­baren Absicht, dem Hungerkün­stler eine kleine Erfrischung zu gön­nen, die er ihrer Mei­n­ung nach aus irgendwelchen geheimen Vor­räten her­vor­holen kon­nte. Nichts war dem Hungerkün­stler quälen­der als solche Wächter; sie macht­en ihn trüb­selig; sie macht­en ihm das Hungern entset­zlich schw­er; manch­mal über­wand er seine Schwäche und sang während dieser Wachzeit, solange er es nur aushielt, um den Leuten zu zeigen, wie ungerecht sie ihn verdächtigten. Doch half das wenig; sie wun­derten sich dann nur über seine Geschick­lichkeit, selb­st während des Sin­gens zu essen. Viel lieber waren ihm die Wächter, welche sich eng zum Git­ter set­zten, mit der trüben Nacht­beleuch­tung des Saales sich nicht beg­nügten, son­dern ihn mit den elek­trischen Taschen­lam­p­en bestrahlten, die ihnen der Impre­sario zur Ver­fü­gung stellte. Das grelle Licht störte ihn gar nicht, schlafen kon­nte er ja über­haupt nicht und ein wenig hindäm­mern kon­nte er immer, bei jed­er Beleuch­tung und zu jed­er Stunde, auch im über­vollen, lär­menden Saal. Er war sehr gerne bere­it, mit solchen Wächtern die Nacht gän­zlich ohne Schlaf zu ver­brin­gen; er war bere­it, mit ihnen zu scherzen, ihnen Geschicht­en aus seinem Wan­der­leben zu erzählen, dann wieder ihre Erzäh­lun­gen anzuhören, alles nur um sie wachzuhal­ten, um ihnen immer wieder zeigen zu kön­nen, daß er nichts Eßbares im Käfig hat­te und daß er hungerte, wie kein­er von ihnen es kön­nte. Am glück­lich­sten aber war er, wenn dann der Mor­gen kam, und ihnen auf seine Rech­nung ein über­re­ich­es Früh­stück gebracht wurde, auf das sie sich war­fen mit dem Appetit gesun­der Män­ner nach ein­er mühevoll durchwacht­en Nacht. Es gab zwar sog­ar Leute, die in diesem Früh­stück eine unge­bührliche Bee­in­flus­sung der Wächter sehen woll­ten, aber das ging doch zu weit, und wenn man sie fragte, ob etwa sie nur um der Sache willen ohne Früh­stück die Nachtwache übernehmen woll­ten, ver­zo­gen sie sich, aber bei ihren Verdäch­ti­gun­gen blieben sie den­noch.

Dieses allerd­ings gehörte schon zu den vom Hungern über­haupt nicht zu tren­nen­den Verdäch­ti­gun­gen. Nie­mand war ja imstande, alle die Tage und Nächte beim Hungerkün­stler unun­ter­brochen als Wächter zu ver­brin­gen, nie­mand also kon­nte aus eigen­er Anschau­ung wis­sen, ob wirk­lich unun­ter­brochen, fehler­los gehungert wor­den war; nur der Hungerkün­stler selb­st kon­nte das wis­sen, nur er also gle­ichzeit­ig der von seinem Hungern vol­lkom­men befriedigte Zuschauer sein. Er aber war wieder aus einem andern Grunde niemals befriedigt; vielle­icht war er gar nicht vom Hungern so sehr abgemagert, daß manche zu ihrem Bedauern den Vor­führun­gen fern bleiben mußten, weil sie seinen Anblick nicht ertru­gen, son­dern er war nur so abgemagert aus Unzufrieden­heit mit sich selb­st. Er allein näm­lich wußte, auch kein Eingewei­hter son­st wußte das, wie leicht das Hungern war. Es war die leicht­este Sache von der Welt. Er ver­schwieg es auch nicht, aber man glaubte ihm nicht, hielt ihn gün­stig­sten­falls für beschei­den, meist aber für reklamesüchtig oder gar für einen Schwindler, dem das Hungern allerd­ings leicht war, weil er es sich leicht zu machen ver­stand, und der auch noch die Stirn hat­te, es halb zu gestehn. Das alles mußte er hin­nehmen, hat­te sich auch im Laufe der Jahre daran gewöh­nt, aber inner­lich nagte diese Unbe­friedigth­eit immer an ihm, und noch niemals, nach kein­er Hunger­pe­ri­ode – dieses Zeug­nis mußte man ihm ausstellen – hat­te er frei­willig den Käfig ver­lassen. Als Höch­stzeit für das Hungern hat­te der Impre­sario vierzig Tage fest­ge­set­zt, darüber hin­aus ließ er niemals hungern, auch in den Welt­städten nicht, und zwar aus gutem Grund. Vierzig Tage etwa kon­nte man erfahrungs­gemäß durch allmäh­lich sich steigernde Reklame das Inter­esse ein­er Stadt immer mehr auf­s­tacheln, dann aber ver­sagte das Pub­likum, eine wesentliche Abnahme des Zus­pruch­es war festzustellen; es bestanden natür­lich in dieser Hin­sicht kleine Unter­schiede zwis­chen den Städten und Län­dern, als Regel aber galt, daß vierzig Tage die Höch­stzeit war. Dann also am vierzig­sten Tage wurde die Tür des mit Blu­men umkränzten Käfigs geöffnet, eine begeis­terte Zuschauer­schaft erfüllte das Amphithe­ater, eine Mil­itärkapelle spielte, zwei Ärzte betrat­en den Käfig, um die nöti­gen Mes­sun­gen am Hungerkün­stler vorzunehmen, durch ein Megaphon wur­den die Resul­tate dem Saale verkün­det, und schließlich kamen zwei junge Damen, glück­lich darüber, daß ger­ade sie aus­gelost wor­den waren, und woll­ten den Hungerkün­stler aus dem Käfig ein paar Stufen hin­abführen, wo auf einem kleinen Tis­chchen eine sorgfältig aus­gewählte Kranken­mahlzeit serviert war. Und in diesem Augen­blick wehrte sich der Hungerkün­stler immer. Zwar legte er noch frei­willig seine Knochen­arme in die hil­fs­bere­it aus­gestreck­ten Hände der zu ihm hin­abge­beugten Damen, aber auf­ste­hen wollte er nicht. Warum jet­zt ger­ade nach vierzig Tagen aufhören? Er hätte es noch lange, unbeschränkt lange aus­ge­hal­ten; warum ger­ade jet­zt aufhören, wo er im besten, ja noch nicht ein­mal im besten Hungern war? Warum wollte man ihn des Ruhmes berauben, weit­er zu hungern, nicht nur der größte Hungerkün­stler aller Zeit­en zu wer­den, der er ja wahrschein­lich schon war, aber auch noch sich selb­st zu übertr­e­f­fen bis ins Unbe­grei­fliche, denn für seine Fähigkeit zu hungern fühlte er keine Gren­zen. Warum hat­te diese Menge, die ihn so sehr zu bewun­dern vor­gab, so wenig Geduld mit ihm; wenn er es aushielt, noch weit­er zu hungern, warum wollte sie es nicht aushal­ten? Auch war er müde, saß gut im Stroh und sollte sich nun hoch und lang aufricht­en und zu dem Essen gehn, das ihm schon allein in der Vorstel­lung Übelkeit­en verur­sachte, deren Äußerung er nur mit Rück­sicht auf die Damen müh­selig unter­drück­te. Und er blick­te empor in die Augen der schein­bar so fre­undlichen, in Wirk­lichkeit so grausamen Damen und schüt­telte den auf dem schwachen Halse über­schw­eren Kopf. Aber dann geschah, was immer geschah. Der Impre­sario kam, hob stumm – die Musik machte das Reden unmöglich – die Arme über dem Hungerkün­stler, so, als lade er den Him­mel ein, sich sein Werk hier auf dem Stroh ein­mal anzusehn, diesen bedauern­swerten Mär­tyr­er, welch­er der Hungerkün­stler allerd­ings war, nur in ganz anderem Sinn; faßte den Hungerkün­stler um die dünne Taille, wobei er durch über­triebene Vor­sicht glaub­haft machen wollte, mit einem wie gebrech­lichen Ding er es hier zu tun habe; und über­gab ihn – nicht ohne ihn im geheimen ein wenig zu schüt­teln, so daß der Hungerkün­stler mit den Beinen und dem Oberkör­p­er unbe­herrscht hin und her schwank­te – den inzwis­chen toten­ble­ich gewor­de­nen Damen. Nun duldete der Hungerkün­stler alles; der Kopf lag auf der Brust, es war, als sei er hingerollt und halte sich dort unerk­lär­lich; der Leib war aus­ge­höhlt; die Beine drück­ten sich im Selb­ster­hal­tungstrieb fest in den Knien aneinan­der, schar­rten aber doch den Boden, so als sei es nicht der wirk­liche, den wirk­lichen sucht­en sie erst; und die ganze, allerd­ings sehr kleine Last des Kör­pers lag auf ein­er der Damen, welche hil­fe­suchend, mit fliegen­dem Atem – so hat­te sie sich dieses Ehre­namt nicht vorgestellt – zuerst den Hals möglichst streck­te, um wenig­stens das Gesicht vor der Berührung mit dem Hungerkün­stler zu bewahren, dann aber, da ihr dies nicht gelang und ihre glück­lichere Gefährtin ihr nicht zu Hil­fe kam, son­dern sich damit beg­nügte, zit­ternd die Hand des Hungerkün­stlers, dieses kleine Knochen­bün­del, vor sich herzu­tra­gen, unter dem entzück­ten Gelächter des Saales in Weinen aus­brach und von einem längst bere­it­gestell­ten Diener abgelöst wer­den mußte. Dann kam das Essen, von dem der Impre­sario dem Hungerkün­stler während eines ohn­machtähn­lichen Halb­schlafes ein wenig ein­flößte, unter lustigem Plaud­ern, das die Aufmerk­samkeit vom Zus­tand des Hungerkün­stlers ablenken sollte; dann wurde noch ein Trinkspruch auf das Pub­likum aus­ge­bracht, welch­er dem Impre­sario ange­blich vom Hungerkün­stler zuge­flüstert wor­den war; das Orch­ester bekräftigte alles durch einen großen Tusch, man ging auseinan­der, und nie­mand hat­te das Recht, mit dem Gese­henen unzufrieden zu sein, nie­mand, nur der Hungerkün­stler, immer nur er.

So lebte er mit regelmäßi­gen kleinen Ruhep­ausen viele Jahre, in schein­barem Glanz, von der Welt geehrt, bei alle­dem aber meist in trüber Laune, die immer noch trüber wurde dadurch, daß nie­mand sie ernst zu nehmen ver­stand. Wom­it sollte man ihn auch trösten? Was blieb ihm zu wün­schen übrig? Und wenn sich ein­mal ein Gut­mütiger fand, der ihn bedauerte und ihm erk­lären wollte, daß seine Trau­rigkeit wahrschein­lich von dem Hungern käme, kon­nte es, beson­ders bei vorgeschrit­ten­er Hungerzeit, geschehn, daß der Hungerkün­stler mit einem Wutaus­bruch antwortete und zum Schreck­en aller wie ein Tier an dem Git­ter zu rüt­teln begann. Doch hat­te für solche Zustände der Impre­sario ein Strafmit­tel, das er gern anwandte. Er entschuldigte den Hungerkün­stler vor ver­sam­meltem Pub­likum, gab zu, daß nur die durch das Hungern her­vorgerufene, für sat­te Men­schen nicht ohne weit­eres begrei­fliche Reizbarkeit das Benehmen des Hungerkün­stlers verzeih­lich machen könne; kam dann im Zusam­men­hang damit auch auf die eben­so zu erk­lärende Behaup­tung des Hungerkün­stlers zu sprechen, er kön­nte noch viel länger hungern, als er hun­gere; lobte das hohe Streben, den guten Willen, die große Selb­stver­leug­nung, die gewiß auch in dieser Behaup­tung enthal­ten seien; suchte dann aber die Behaup­tung ein­fach genug durch Vorzeigen von Pho­togra­phien, die gle­ichzeit­ig verkauft wur­den, zu wider­legen, denn auf den Bildern sah man den Hungerkün­stler an einem vierzig­sten Hungertag, im Bett, fast ver­löscht vor Entkräf­tung. Diese dem Hungerkün­stler zwar wohlbekan­nte, immer aber von neuem ihn ent­ner­vende Ver­drehung der Wahrheit war ihm zuviel. Was die Folge der vorzeit­i­gen Beendi­gung des Hungerns war, stellte man hier als die Ursache dar! Gegen diesen Unver­stand, gegen diese Welt des Unver­standes zu kämpfen, war unmöglich. Noch hat­te er immer wieder in gutem Glauben begierig am Git­ter dem Impre­sario zuge­hört, beim Erscheinen der Pho­togra­phien aber ließ er das Git­ter jedes­mal los, sank mit Seufzen ins Stroh zurück, und das beruhigte Pub­likum kon­nte wieder her­ankom­men und ihn besichti­gen.

Wenn die Zeu­gen solch­er Szenen ein paar Jahre später daran zurück­dacht­en, wur­den sie sich oft selb­st unver­ständlich. Denn inzwis­chen war jen­er erwäh­nte Umschwung einge­treten; fast plöt­zlich war das geschehen; es mochte tief­ere Gründe haben, aber wem lag daran, sie aufzufind­en; jeden­falls sah sich eines Tages der ver­wöh­nte Hungerkün­stler von der vergnü­gungssüchti­gen Menge ver­lassen, die lieber zu anderen Schaustel­lun­gen strömte. Noch ein­mal jagte der Impre­sario mit ihm durch halb Europa, um zu sehn, ob sich nicht noch hie und da das alte Inter­esse wieder­fände; alles verge­blich; wie in einem geheimen Ein­ver­ständ­nis hat­te sich über­all ger­adezu eine Abnei­gung gegen das Schauhungern aus­ge­bildet. Natür­lich hat­te das in Wirk­lichkeit nicht plöt­zlich so kom­men kön­nen, und man erin­nerte sich jet­zt nachträglich an manche zu ihrer Zeit im Rausch der Erfolge nicht genü­gend beachtete, nicht genü­gend unter­drück­te Vor­boten, aber jet­zt etwas dage­gen zu unternehmen, war zu spät. Zwar war es sich­er, daß ein­mal auch für das Hungern wieder die Zeit kom­men werde, aber für die Leben­den war das kein Trost. Was sollte nun der Hungerkün­stler tun? Der, welchen Tausende umjubelt hat­ten, kon­nte sich nicht in Schaubu­den auf kleinen Jahrmärk­ten zeigen, und um einen andern Beruf zu ergreifen, war der Hungerkün­stler nicht nur zu alt, son­dern vor allem dem Hungern allzu fanatisch ergeben. So ver­ab­schiedete er denn den Impre­sario, den Genossen ein­er Lauf­bahn ohne­gle­ichen, und ließ sich von einem großen Zirkus schnell engagieren; um seine Empfind­lichkeit zu scho­nen, sah er die Ver­trags­be­din­gun­gen gar nicht an.

Ein großer Zirkus mit sein­er Unzahl von einan­der immer wieder aus­gle­ichen­den und ergänzen­den Men­schen und Tieren und Appa­rat­en kann jeden und zu jed­er Zeit gebrauchen, auch einen Hungerkün­stler, bei entsprechend beschei­de­nen Ansprüchen natür­lich, und außer­dem war es ja in diesem beson­deren Fall nicht nur der Hungerkün­stler selb­st, der engagiert wurde, son­dern auch sein alter berühmter Name, ja man kon­nte bei der Eige­nart dieser im zunehmenden Alter nicht abnehmenden Kun­st nicht ein­mal sagen, daß ein aus­ge­di­en­ter, nicht mehr auf der Höhe seines Kön­nens ste­hen­der Kün­stler sich in einen ruhi­gen Zirkus­posten flücht­en wolle, im Gegen­teil, der Hungerkün­stler ver­sicherte, daß er, was dur­chaus glaub­würdig war, eben so gut hun­gere wie früher, ja er behauptete sog­ar, er werde, wenn man ihm seinen Willen lasse, und dies ver­sprach man ihm ohne weit­eres, eigentlich erst jet­zt die Welt in berechtigtes Erstaunen set­zen, eine Behaup­tung allerd­ings, die mit Rück­sicht auf die Zeit­stim­mung, welche der Hungerkün­stler im Eifer leicht ver­gaß bei den Fach­leuten nur ein Lächeln her­vor­rief.

Im Grunde aber ver­lor auch der Hungerkün­stler den Blick für die wirk­lichen Ver­hält­nisse nicht und nahm es als selb­stver­ständlich hin, daß man ihn mit seinem Käfig nicht etwa als Glanznum­mer mit­ten in die Manege stellte, son­dern draußen an einem im übri­gen recht gut zugänglichen Ort in der Nähe der Stal­lun­gen unter­brachte. Große, bunt gemalte Auf­schriften umrahmten den Käfig und verkün­de­ten, was dort zu sehen war. Wenn das Pub­likum in den Pausen der Vorstel­lung zu den Ställen drängte, um die Tiere zu besichti­gen, war es fast unver­mei­dlich, daß es beim Hungerkün­stler vorüberkam und ein wenig dort halt­machte, man wäre vielle­icht länger bei ihm geblieben, wenn nicht in dem schmalen Gang die Nach­drän­gen­den, welche diesen Aufen­thalt auf dem Weg zu den ersehn­ten Ställen nicht ver­standen, eine län­gere ruhige Betra­ch­tung unmöglich gemacht hät­ten. Dieses war auch der Grund, warum der Hungerkün­stler vor diesen Besuch­szeit­en, die er als seinen Leben­szweck natür­lich her­bei­wün­schte, doch auch wieder zit­terte. In der ersten Zeit hat­te er die Vorstel­lungspausen kaum erwarten kön­nen; entzückt hat­te er der sich her­an­wälzen­den Menge ent­ge­genge­sehn, bis er sich nur zu bald – auch die hart­näck­ig­ste, fast bewußte Selb­st­täuschung hielt den Erfahrun­gen nicht stand – davon überzeugte, daß es zumeist der Absicht nach, immer wieder, aus­nahm­s­los, lauter Stallbe­such­er waren. Und dieser Anblick von der Ferne blieb noch immer der schön­ste. Denn wenn sie bis zu ihm herangekom­men waren, umto­bte ihn sofort Geschrei und Schimpfen der unun­ter­brochen neu sich bilden­den Parteien, jen­er, welche – sie wurde dem Hungerkün­stler bald die pein­lichere – ihn bequem anse­hen wollte, nicht etwa aus Ver­ständ­nis, son­dern aus Laune und Trotz, und jen­er zweit­en, die zunächst nur nach den Ställen ver­langte. War der große Haufe vorüber, dann kamen die Nachzü­gler, und diese allerd­ings, denen es nicht mehr ver­wehrt war, ste­hen zu bleiben, solange sie nur Lust hat­ten, eil­ten mit lan­gen Schrit­ten, fast ohne Seit­en­blick, vorüber, um rechtzeit­ig zu den Tieren zu kom­men. Und es war kein allzu häu­figer Glücks­fall, daß ein Fam­i­lien­vater mit seinen Kindern kam, mit dem Fin­ger auf den Hungerkün­stler zeigte, aus­führlich erk­lärte, um was es sich hier han­delte, von früheren Jahren erzählte, wo er bei ähn­lichen, aber unver­gle­ich­lich großar­tigeren Vor­führun­gen gewe­sen war, und dann die Kinder, wegen ihrer ungenü­gen­den Vor­bere­itung von Schule und Leben her, zwar immer noch ver­ständ­nis­los blieben – was war ihnen Hungern? – aber doch in dem Glanz ihrer forschen­den Augen etwas von neuen, kom­menden, gnädi­geren Zeit­en ver­ri­eten. Vielle­icht, so sagte sich der Hungerkün­stler dann manch­mal, würde alles doch ein wenig bess­er wer­den, wenn sein Stan­dort nicht gar so nahe bei den Ställen wäre. Den Leuten wurde dadurch die Wahl zu leicht gemacht, nicht zu reden davon, daß ihn die Aus­dün­stun­gen der Ställe, die Unruhe der Tiere in der Nacht, das Vorüber­tra­gen der rohen Fleis­chstücke für die Raubtiere, die Schreie bei der Füt­terung sehr ver­let­zten und dauernd bedrück­ten. Aber bei der Direk­tion vorstel­lig zu wer­den, wagte er nicht; immer­hin ver­dank­te er ja den Tieren die Menge der Besuch­er, unter denen sich hie und da auch ein für ihn Bes­timmter find­en kon­nte, und wer wußte, wohin man ihn ver­steck­en würde, wenn er an seine Exis­tenz erin­nern wollte und damit auch daran, daß er, genau genom­men, nur ein Hin­der­nis auf dem Weg zu den Ställen war.

Ein kleines Hin­der­nis allerd­ings, ein immer klein­er wer­den­des Hin­der­nis. Man gewöh­nte sich an die Son­der­barkeit, in den heuti­gen Zeit­en Aufmerk­samkeit für einen Hungerkün­stler beanspruchen zu wollen, und mit dieser Gewöh­nung war das Urteil über ihn gesprochen. Er mochte so gut hungern, als er nur kon­nte, und er tat es, aber nichts kon­nte ihn mehr ret­ten, man ging an ihm vorüber. Ver­suche, jeman­dem die Hungerkun­st zu erk­lären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begrei­flich machen. Die schö­nen Auf­schriften wur­den schmutzig und unle­ser­lich, man riß sie herunter, nie­man­dem fiel es ein, sie zu erset­zen; das Täfelchen mit der Zif­fer der abgeleis­teten Hungertage, das in der ersten Zeit sorgfältig täglich erneut wor­den war, blieb schon längst immer das gle­iche, denn nach den ersten Wochen war das Per­son­al selb­st dieser kleinen Arbeit über­drüs­sig gewor­den; und so hungerte zwar der Hungerkün­stler weit­er, wie er es früher ein­mal erträumt hat­te, und es gelang ihm ohne Mühe ganz so, wie er es damals voraus­ge­sagt hat­te, aber nie­mand zählte die Tage, nie­mand, nicht ein­mal der Hungerkün­stler selb­st wußte, wie groß die Leis­tung schon war, und sein Herz wurde schw­er. Und wenn ein­mal in der Zeit ein Müßig­gänger ste­hen blieb, sich über die alte Zif­fer lustig machte und von Schwindel sprach, so war das in diesem Sinn die dümm­ste Lüge, welche Gle­ichgültigkeit und einge­borene Bösar­tigkeit erfind­en kon­nte, denn nicht der Hungerkün­stler bet­rog, er arbeit­ete ehrlich, aber die Welt bet­rog ihn um seinen Lohn.

Doch vergin­gen wieder viele Tage, und auch das nahm ein Ende. Ein­mal fiel einem Auf­se­her der Käfig auf, und er fragte die Diener, warum man hier diesen gut brauch­baren Käfig mit dem ver­fault­en Stroh drin­nen unbenützt ste­hen lasse; nie­mand wußte es, bis sich ein­er mit Hil­fe der Zif­fertafel an den Hungerkün­stler erin­nerte. Man rührte mit Stan­gen das Stroh auf und fand den Hungerkün­stler darin. „Du hungerst noch immer?“ fragte der Auf­se­her, „wann wirst du denn endlich aufhören?“ „Verzei­ht mir alle“, flüsterte der Hungerkün­stler; nur der Auf­se­her, der das Ohr ans Git­ter hielt, ver­stand ihn. „Gewiß,“ sagte der Auf­se­her und legte den Fin­ger an die Stirn, um damit den Zus­tand des Hungerkün­stlers dem Per­son­al anzudeuten, „wir verzei­hen dir.“ „Immer­fort wollte ich, daß ihr mein Hungern bewun­dert“, sagte der Hungerkün­stler. „Wir bewun­dern es auch“, sagte der Auf­se­her ent­ge­genk­om­mend. „Ihr sollt es aber nicht bewun­dern“, sagte der Hungerkün­stler. „Nun, dann bewun­dern wir es also nicht,“ sagte der Auf­se­her, „warum sollen wir es denn nicht bewun­dern?“ „Weil ich hungern muß, ich kann nicht anders“, sagte der Hungerkün­stler. „Da sieh mal ein­er,“ sagte der Auf­se­her, „warum kannst du denn nicht anders?“ „Weil ich,“ sagte der Hungerkün­stler, hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuß gespitzten Lip­pen ger­ade in das Ohr des Auf­se­hers hinein, damit nichts ver­loren gin­ge, „weil ich nicht die Speise find­en kon­nte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefun­den, glaube mir, ich hätte kein Auf­se­hen gemacht und mich voll­gegessen wie du und alle.“ Das waren die let­zten Worte, aber noch in seinen gebroch­enen Augen war die feste, wenn auch nicht mehr stolze Überzeu­gung, daß er weit­er­hun­gre.

„Nun macht aber Ord­nung!“ sagte der Auf­se­her, und man begrub den Hungerkün­stler samt dem Stroh. In den Käfig aber gab man einen jun­gen Pan­ther. Es war eine selb­st dem stumpf­sten Sinn fühlbare Erhol­ung, in dem so lange öden Käfig dieses wilde Tier sich herumw­er­fen zu sehn. Ihm fehlte nichts. Die Nahrung, die ihm schmeck­te, bracht­en ihm ohne langes Nach­denken die Wächter; nicht ein­mal die Frei­heit schien er zu ver­mis­sen; dieser edle, mit allem Nöti­gen bis knapp zum Zer­reißen aus­ges­tat­tete Kör­p­er schien auch die Frei­heit mit sich herumzu­tra­gen; irgend­wo im Gebiß schien sie zu steck­en; und die Freude am Leben kam mit der­art stark­er Glut aus seinem Rachen, daß es für die Zuschauer nicht leicht war, ihr standzuhal­ten. Aber sie über­wan­den sich, umdrängten den Käfig und woll­ten sich gar nicht fortrühren.