„Er“

Aufzeichnungen aus dem Jahre 1920

Von

Er ist bei keinem Anlaß genü­gend vor­bere­it­et, kann sich deshalb aber nicht ein­mal Vor­würfe machen, denn wo wäre in diesem Leben, das so quälend in jedem Augen­blick Bere­it­sein ver­langt, Zeit sich vorzu­bere­it­en, und selb­st wenn Zeit wäre, kön­nte man sich denn vor­bere­it­en, ehe man die Auf­gabe ken­nt, d. h. kann man über­haupt eine natür­liche, eine nicht nur kün­stlich zusam­mengestellte Auf­gabe beste­hen? Deshalb ist er auch schon längst unter den Rädern, merk­würdi­ger aber auch tröstlich­er Weise war er darauf am wenig­sten vor­bere­it­et.

Alles, was er tut, kommt ihm zwar außeror­dentlich neu vor, aber auch entsprechend dieser unmöglichen Fülle des Neuen außeror­dentlich dilet­tan­tisch, kaum ein­mal erträglich, unfähig his­torisch zu wer­den, die Kette der Geschlechter spren­gend, die bish­er immer wenig­stens zu ahnende Musik der Welt zum ersten­mal bis in alle Tiefen hin­unter abbrechend. Manch­mal hat er in seinem Hochmut mehr Angst um die Welt, als um sich.

Mit einem Gefäng­nis hätte er sich abge­fun­den. Als Gefan­gener enden – das wäre eines Lebens Ziel. Aber es war ein Git­terkä­fig. Gle­ichgültig, her­risch, wie bei sich zuhause strömte durch das Git­ter aus und ein der Lärm der Welt, der Gefan­gene war eigentlich frei, er kon­nte an allem teil­nehmen, nichts ent­ging ihm draußen, selb­st ver­lassen hätte er den Käfig kön­nen, die Git­ter­stan­gen standen ja meter­weit auseinan­der, nicht ein­mal gefan­gen war er.

Er hat das Gefühl, daß er sich dadurch, daß er lebt, den Weg ver­stellt. Aus dieser Behin­derung nimmt er dann wieder den Beweis dafür, daß er lebt.

Sein eigen­er Stirn­knochen ver­legt ihm den Weg, an sein­er eige­nen Stirn schlägt er sich die Stirn blutig. Er fühlt sich auf dieser Erde gefan­gen, ihm ist eng, die Trauer, die Schwäche, die Krankheit­en, die Wah­n­vorstel­lun­gen der Gefan­genen brechen bei ihm aus, kein Trost kann ihn trösten, weil es eben nur Trost ist, zarter kopf­schmerzen­der Trost gegenüber der groben Tat­sache des Gefan­gen­seins. Fragt man ihn aber, was er eigentlich haben will, kann er nicht antworten, denn er hat – das ist ein­er sein­er stärk­sten Beweise – keine Vorstel­lung von Frei­heit.

Manche leug­nen den Jam­mer durch Hin­weis auf die Sonne, er leugnet die Sonne durch Hin­weis auf den Jam­mer.

Die selb­stquä­lerische, schw­er­fäl­lige, oft lange stock­ende, im Grunde doch unaufhör­liche Wellen­be­we­gung alles Lebens, des frem­den und eige­nen, quält ihn, weil sie unaufhör­lichen Zwang des Denkens mit sich bringt. Manch­mal scheint ihm, daß diese Qual den Ereignis­sen vorherge­ht. Als er hört, daß seinem Fre­und ein Kind geboren wer­den soll, erken­nt er, daß er dafür schon früher als Denker gelit­ten hat. Er sieht zweier­lei: das Erste ist die ruhige, mit Leben erfüllte, ohne ein gewiss­es Beha­gen unmögliche Betra­ch­tung, Erwä­gung, Unter­suchung, Ergießung. Deren Zahl und Möglichkeit ist end­los, selb­st eine Maueras­sel braucht eine ver­hält­nis­mäßig große Ritze um unterzukom­men, für jene Arbeit­en aber ist über­haupt kein Platz nötig, selb­st dort, wo nicht die ger­ing­ste Ritze ist, kön­nen sie, einan­der durch­drin­gend, noch zu Tausenden und Aber­tausenden leben. Das ist das Erste. Das Zweite aber ist der Augen­blick, in dem man vorgerufen Rechen­schaft geben soll, keinen Laut her­vor­bringt, zurück­ge­wor­fen wird in die Betra­ch­tun­gen usw., jet­zt aber mit der Aus­sicht­slosigkeit vor sich unmöglich mehr darin plätsch­ern kann, sich schw­er macht und mit einem Fluch versinkt.

Es han­delt sich um fol­gen­des: Ich saß ein­mal vor vie­len Jahren, gewiß trau­rig genug, auf der Lehne des Lau­ren­z­iberges. Ich prüfte die Wün­sche, die ich für das Leben hat­te. Als wichtig­ster oder als reizvoll­ster ergab sich der Wun­sch, eine Ansicht des Lebens zu gewin­nen (und – das war allerd­ings notwendig ver­bun­den – schriftlich die anderen von ihr überzeu­gen zu kön­nen) in der das Leben zwar sein natür­lich­es schw­eres Fall­en und Steigen bewahre, aber gle­ichzeit­ig mit nicht min­der­er Deut­lichkeit als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben erkan­nt werde. Vielle­icht ein schön­er Wun­sch, wenn ich ihn richtig gewün­scht hätte. Etwa als Wun­sch, einen Tisch mit pein­lich ordentlich­er Handw­erksmäßigkeit zusam­men­zuhäm­mern und dabei gle­ichzeit­ig nichts zu tun und zwar nicht so, daß man sagen kön­nte: „Ihm ist das Häm­mern ein Nichts“, son­dern „Ihm ist das Häm­mern ein wirk­lich­es Häm­mern und gle­ichzeit­ig auch ein Nichts“, wodurch ja das Häm­mern noch küh­n­er, noch entschlossen­er, noch wirk­lich­er und, wenn du willst, noch irrsin­niger gewor­den wäre.

Aber er kon­nte gar nicht so wün­schen, denn sein Wun­sch war kein Wun­sch, er war nur eine Vertei­di­gung, eine Ver­bürg­er­lichung des Nichts, ein Hauch von Munterkeit, den er dem Nichts geben wollte, in das er zwar damals kaum die ersten bewußten Schritte tat, das er aber schon als sein Ele­ment fühlte. Es war damals eine Art Abschied, den er von der Schein­welt der Jugend nahm, sie hat­te ihn übri­gens niemals unmit­tel­bar getäuscht, son­dern nur durch die Reden aller Autoritäten ring­sherum täuschen lassen. So hat­te sich die Notwendigkeit des „Wun­sches“ ergeben.

Er beweist nur sich selb­st, sein einziger Beweis ist er selb­st, alle Geg­n­er besiegen ihn sofort, aber nicht dadurch, daß sie ihn wider­legen (er ist unwider­leg­bar), son­dern dadurch, daß sie sich beweisen. Men­schliche Vere­ini­gun­gen beruhen darauf, daß ein­er durch sein starkes Dasein andere an sich unwider­leg­bare Einzelne wider­legt zu haben scheint. Das ist für diese Einzel­nen süß und trostre­ich, aber es fehlt an Wahrheit und daher immer an Dauer.

Er war früher Teil ein­er mon­u­men­tal­en Gruppe. Um irgen­deine erhöhte Mitte standen in durch­dachter Anord­nung Sinnbilder des Sol­daten­standes, der Kün­ste, der Wis­senschaften, der Handw­erke. Ein­er von diesen Vie­len war er. Nun ist die Gruppe längst aufgelöst oder wenig­stens er hat sie ver­lassen und bringt sich allein durchs Leben. Nicht ein­mal seinen alten Beruf hat er mehr, ja er hat sog­ar vergessen, was er damals darstellte. Wohl ger­ade durch dieses Vergessen ergibt sich eine gewisse Trau­rigkeit, Unsicher­heit, Unruhe, ein gewiss­es die Gegen­wart trüben­des Ver­lan­gen nach den ver­gan­genen Zeit­en. Und doch ist dieses Ver­lan­gen ein wichtiges Ele­ment der Leben­skraft oder vielle­icht sie selb­st.

Er lebt nicht wegen seines per­sön­lichen Lebens, er denkt nicht wegen seines per­sön­lichen Denkens. Ihm ist als lebe und denke er unter der Nöti­gung ein­er Fam­i­lie, die zwar selb­st über­re­ich an Lebens- und Denkkraft ist, für die er aber nach irgen­deinem ihm unbekan­nten Gesetz eine formelle Notwendigkeit bedeutet. Wegen dieser unbekan­nten Fam­i­lie und dieser unbekan­nten Geset­ze kann er nicht ent­lassen wer­den.

Die Erb­sünde, das alte Unrecht, das der Men­sch began­gen hat, beste­ht in dem Vor­wurf, den der Men­sch macht und von dem er nicht abläßt, daß ihm ein Unrecht geschehen ist, daß an ihm die Erb­sünde began­gen wurde.

Vor der Aus­lage von Casinel­li drück­ten sich zwei Kinder herum, ein etwa sechs Jahre alter Junge, ein sieben Jahre altes Mäd­chen, reich ange­zo­gen, sprachen von Gott und von Sün­den. Ich blieb hin­ter ihnen ste­hen. Das Mäd­chen, vielle­icht katholisch, hielt nur das Belü­gen Gottes für eine eigentliche Sünde. Kindlich hart­näck­ig fragte der Junge, vielle­icht ein Protes­tant, was das Belü­gen der Men­schen oder das Stehlen sei. „Auch eine sehr große Sünde“, sagte das Mäd­chen, „aber nicht die größte, nur die Sün­den an Gott sind die größten, für die Sün­den an Men­schen haben wir die Beichte. Wenn ich beichte, ste­ht gle­ich wieder der Engel hin­ter mir, wenn ich näm­lich eine Sünde bege­he, kommt der Teufel hin­ter mich, nur sieht man ihn nicht.“ Und des hal­ben Ern­stes müde, drehte sie sich zum Spaße auf den Hack­en um und sagte: „Siehst du, nie­mand ist hin­ter mir.“ Eben­so drehte sich der Junge um und sah dort mich. „Siehst du,“ sagte er ohne Rück­sicht darauf, daß ich es hören müßte, oder auch ohne daran zu denken, „hin­ter mir ste­ht der Teufel.“ „Den sehe ich auch“, sagte das Mäd­chen, „aber den meine ich nicht.“

Er will keinen Trost, aber nicht deshalb, weil er ihn nicht will – wer wollte ihn nicht, son­dern weil Trost suchen heißt: dieser Arbeit sein Leben wid­men, am Rande sein­er Exis­tenz, fast außer­halb ihrer immer zu leben, kaum mehr zu wis­sen, für wen man Trost sucht, und daher nicht ein­mal imstande zu sein, wirk­samen Trost zu find­en, wirk­samen, nicht etwa wahren, den es nicht gibt.

Er wehrt sich gegen die Fix­ierung durch den Mit­men­schen. Der Men­sch sieht, selb­st wenn er unfehlbar wäre, im anderen nur jenen Teil, für den seine Blick­kraft und Blickart reicht. Er hat, wie jed­er, aber in äußer­ster Übertrei­bung, die Sucht, sich so einzuschränken, wie ihn der Blick des Mit­men­schen zu sehen die Kraft hat. Hätte Robin­son den höch­sten oder richtiger den sicht­barsten Punkt der Insel niemals ver­lassen, aus Trost oder Demut oder Furcht oder Unken­nt­nis oder Sehn­sucht, so wäre er bald zugrunde gegan­gen; da er aber ohne Rück­sicht auf die Schiffe und ihre schwachen Fer­n­rohre seine ganze Insel zu erforschen und ihrer sich zu freuen begann, erhielt er sich am Leben und wurde in ein­er allerd­ings dem Ver­stand notwendi­gen Kon­se­quenz schließlich doch gefun­den.

„Du machst aus dein­er Not eine Tugend.“

„Erstens tut das jed­er und zweit­ens tue ger­ade ich es nicht. Ich lasse meine Not Not bleiben, ich lege die Sümpfe nicht trock­en, son­dern lebe in ihrem fiebri­gen Dun­st.“

„Daraus eben machst du deine Tugend.“

„Wie jed­er, ich sagte es schon. Im übri­gen tue ich es nur deinetwe­gen. Damit du fre­undlich zu mir bleib­st, nehme ich Schaden an mein­er Seele.“

Alles ist ihm erlaubt, nur das Sichvergessen nicht, wom­it allerd­ings wieder alles ver­boten ist bis auf das eine, für das Ganze augen­blick­lich Notwendi­ge. Die Frage des Bewußt­seins ist eine soziale Forderung.

Alle Tugen­den sind indi­vidu­ell, alle Laster sozial. Was als soziale Tugend gilt, etwa Liebe, Uneigen­nützigkeit, Gerechtigkeit, Opfer­mut, sind nur „erstaunlich“ abgeschwächte soziale Laster.

Der Unter­schied zwis­chen dem „Ja“ und „Nein“, das er seinen Zeitgenossen sagt, und jen­em, das er eigentlich zu sagen hätte, dürfte dem vom Tod und Leben entsprechen, ist auch nur eben­so ahnungsweise für ihn faßbar.

Die Ursache dessen, daß das Urteil der Nach­welt über den Einzel­nen richtiger ist als das der Zeitgenossen, liegt im Toten. Man ent­fal­tet sich in sein­er Art erst nach dem Tode, erst wenn man allein ist. Das Tot­sein ist für den Einzel­nen wie der Sam­stagabend für den Kam­in­feger, sie waschen den Ruß vom Leibe. Es wird sicht­bar, ob die Zeitgenossen ihm oder er den Zeitgenossen mehr geschadet hat, im let­zten Fall war er ein großer Mann.

Die Kraft zum Verneinen, dieser natür­lich­sten Äußerung des immer­fort sich verän­dern­den, erneuern­den, abster­bend aufleben­den men­schlichen Kämpfer­or­gan­is­mus haben wir immer, den Mut aber nicht, während doch Leben Verneinen ist, also Vernei­n­ung Bejahung.

Mit seinen abster­ben­den Gedanken stirbt er nicht. Das Abster­ben ist nur eine Erschei­n­ung inner­halb der inneren Welt (die beste­hen bleibt, selb­st wenn auch sie nur ein Gedanke wäre), eine Natur­erschei­n­ung wie jede andere, wed­er fröh­lich noch trau­rig.

Die Strö­mung, gegen die er schwimmt, ist so rasend, daß man in ein­er gewis­sen Zer­streutheit manch­mal verzweifelt ist über die öde Ruhe, inmit­ten welch­er man plätschert, so unendlich weit ist man näm­lich in einem Augen­blick des Ver­sagens zurück­getrieben wor­den.

Er hat Durst und ist von der Quelle nur durch ein Gebüsch getren­nt. Er ist aber zweigeteilt, ein Teil über­sieht das Ganze, sieht, daß er hier ste­ht und die Quelle daneben ist, ein zweit­er Teil aber merkt nichts, hat höch­stens eine Ahnung dessen, daß der erste Teil alles sieht. Da er aber nichts merkt, kann er nicht trinken.

Er ist wed­er kühn noch leichtsin­nig. Aber auch ängstlich ist er nicht. Ein freies Leben würde ihn nicht ängsti­gen. Nun hat sich ein solch­es Leben für ihn nicht ergeben, aber auch das macht ihm keine Sor­gen, wie er sich über­haupt um sich selb­st keine Sor­gen macht. Es gibt aber einen ihm gän­zlich unbekan­nten Jemand, der sich um ihn – nur um ihn – große fortwährende Sor­gen macht. Diese ihn betr­e­f­fend­en Sor­gen des Jemand, beson­ders das Fortwährende dieser Sor­gen, verur­sachen ihm manch­mal in stiller Stunde quälende Kopf­schmerzen.

Am Sicher­heben hin­dert ihn eine gewisse Schwere, ein Gefühl des Gesichert­seins für jeden Fall, die Ahnung eines Lagers, das ihm bere­it­et ist und nur ihm gehört; am Stil­leliegen aber hin­dert ihn eine Unruhe, die ihn vom Lager jagt, es hin­dert ihn das Gewis­sen, das end­los schla­gende Herz, die Angst vor dem Tod und das Ver­lan­gen ihn zu wider­legen, alles das läßt ihn nicht ruhen und er erhebt sich wieder. Dieses Auf und Ab und einige auf diesen Wegen gemachte zufäl­lige, flüchtige, abseit­ige Beobach­tun­gen sind sein Leben. Er hat zwei Geg­n­er: Der erste bedrängt ihn von rück­wärts, vom Ursprung her. Der zweite ver­wehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit bei­den. Eigentlich unter­stützt ihn der erste im Kampf mit dem Zweit­en, denn er will ihn nach vorn drän­gen und eben­so unter­stützt ihn der zweite im Kampf mit dem Ersten; denn er treibt ihn doch zurück. So ist es aber nur the­o­retisch. Denn es sind ja nicht nur die zwei Geg­n­er da, son­dern auch noch er selb­st, und wer ken­nt eigentlich seine Absicht­en? Immer­hin ist es sein Traum, daß er ein­mal in einem unbe­wacht­en Augen­blick – dazu gehörte allerd­ings eine Nacht, so fin­ster wie noch keine war – aus der Kampflinie ausspringt und wegen sein­er Kampfe­ser­fahrung zum Richter über seine mit einan­der kämpfend­en Geg­n­er erhoben wird.