Forschungen eines Hundes

Von

Wie sich mein Leben verän­dert hat und wie es sich doch nicht verän­dert hat im Grunde! Wenn ich jet­zt zurück­denke und die Zeit­en mir zurück­rufe, da ich noch inmit­ten der Hun­de­schaft lebte, teil­nahm an allem, was sie beküm­mert, ein Hund unter Hun­den, finde ich bei näherem Zusehn doch, daß hier seit jeher etwas nicht stimmte, eine kleine Bruch­stelle vorhan­den war, ein leicht­es Unbe­ha­gen inmit­ten der ehrwürdig­sten volk­lichen Ver­anstal­tun­gen mich befiel, ja manch­mal selb­st im ver­traut­en Kreise, nein nicht manch­mal, son­dern sehr oft, der bloße Anblick eines mir lieben Mithun­des, der bloße Anblick irgend­wie neu gese­hen, mich ver­legen, erschrock­en, hil­f­los, ja mich verzweifelt machte. Ich suchte mich gewis­ser­maßen zu begüti­gen, Fre­unde, denen ich es einge­s­tand, halfen mir, es kamen wieder ruhigere Zeit­en – Zeit­en, in denen zwar jene Über­raschun­gen nicht fehlten, aber gle­ich­mütiger aufgenom­men, gle­ich­mütiger ins Leben einge­fügt wur­den, vielle­icht trau­rig und müde macht­en, aber im übri­gen mich beste­hen ließen als einen zwar ein wenig kalten, zurück­hal­tenden, ängstlichen, rech­ner­ischen, aber alles in allem genom­men doch regel­recht­en Hund. Wie hätte ich auch ohne diese Erhol­ungspausen das Alter erre­ichen kön­nen, dessen ich mich jet­zt erfreue, wie hätte ich mich durchrin­gen kön­nen zu der Ruhe, mit der ich die Schreck­en mein­er Jugend betra­chte und die Schreck­en des Alters ertrage, wie hätte ich dazu kom­men kön­nen, die Fol­gerun­gen aus mein­er, wie ich zugebe, unglück­lichen oder, um es vor­sichtiger auszu­drück­en, nicht sehr glück­lichen Anlage zu ziehen und fast völ­lig ihnen entsprechend zu leben. Zurück­ge­zo­gen, ein­sam, nur mit meinen hoff­nungslosen, aber mir unent­behrlichen kleinen Unter­suchun­gen beschäftigt, so lebe ich, habe aber dabei von der Ferne den Überblick über mein Volk nicht ver­loren, oft drin­gen Nachricht­en zu mir und auch ich lasse hie und da von mir hören. Man behan­delt mich mit Achtung, ver­ste­ht meine Lebensweise nicht, aber nimmt sie mir nicht übel und selb­st junge Hunde, die ich hier und da in der Ferne vorüber­laufen sehe, eine neue Gen­er­a­tion, an deren Kind­heit ich mich kaum dunkel erin­nere, ver­sagen mir nicht den ehrerbi­eti­gen Gruß.

Man darf eben nicht außer acht lassen, daß ich trotz mein­er Son­der­barkeit­en, die offen zu Tage liegen, doch bei weit­em nicht völ­lig aus der Art schlage. Es ist ja, wenn ichs bedenke, – und dies zu tun habe ich Zeit und Lust und Fähigkeit, – mit der Hun­de­schaft über­haupt wun­der­bar bestellt. Es gibt außer uns Hun­den viel­er­lei Arten von Geschöpfen ring­sumher, arme, geringe, stumme, nur auf gewisse Schreie eingeschränk­te Wesen, viele unter uns Hun­den studieren sie, haben ihnen Namen gegeben, suchen ihnen zu helfen, sie zu erziehen, zu vere­deln u. dgl. Mir sind sie, wenn sie mich nicht etwa zu stören ver­suchen, gle­ichgültig, ich ver­wech­sle sie, ich sehe über sie hin­weg. Eines aber ist zu auf­fal­l­end, als daß es mir hätte ent­ge­hen kön­nen, wie wenig sie näm­lich, mit uns Hun­den ver­glichen, zusam­men­hal­ten, wie fremd und stumm und mit ein­er gewis­sen Feind­seligkeit sie aneinan­der vorüberge­hen, wie nur das geme­in­ste Inter­esse sie ein wenig äußer­lich verbinden kann und wie selb­st aus diesem Inter­esse oft noch Haß und Stre­it entste­ht. Wir Hunde dage­gen! Man darf doch wohl sagen, daß wir alle förm­lich in einem einzi­gen Haufen leben, alle, so unter­schieden wir son­st sind durch die unzäh­li­gen und tief gehen­den Unter­schei­dun­gen, die sich im Laufe der Zeit­en ergeben haben. Alle in einem Haufen! Es drängt uns zueinan­der und nichts kann uns hin­dern, diesem Drän­gen genug zu tun, alle unsere Geset­ze und Ein­rich­tun­gen, die weni­gen, die ich noch kenne und die zahllosen, die ich vergessen habe, gehen zurück auf die Sehn­sucht nach dem größten Glück dessen wir fähig sind, dem war­men Beisam­men­sein. Nun aber das Gegen­spiel hierzu. Kein Geschöpf lebt meines Wis­sens so wei­thin zer­streut wie wir Hunde, keines hat so viele, gar nicht überse­hbare Unter­schiede der Klassen, der Arten, der Beschäf­ti­gun­gen, wir, die wir zusam­men­hal­ten wollen – und immer wieder gelingt es uns trotz allem in über­schwänglichen Augen­blick­en – ger­ade wir leben weit von einan­der getren­nt, in eigen­tüm­lichen, oft schon dem Neben­hund unver­ständlichen Berufen, fes­thal­tend an Vorschriften, die nicht die der Hun­de­schaft sind, ja eher gegen sie gerichtet. Was für schwierige Dinge das sind, Dinge, an die man lieber nicht rührt – ich ver­ste­he auch diesen Stand­punkt, ver­ste­he ihn bess­er als den meinen – und doch Dinge, denen ich ganz und gar ver­fall­en bin. Warum tue ich es nicht wie die andern, lebe ein­trächtig mit meinem Volke und nehme das, was die Ein­tra­cht stört, stillschweigend hin, ver­nach­läs­sige es als kleinen Fehler in der großen Rech­nung und bleibe immer zugekehrt dem, was glück­lich bindet, nicht dem, was, freilich immer wieder unwider­stehlich, uns aus dem Volk­skreis zer­rt.

Ich erin­nere mich an einen Vor­fall aus mein­er Jugend, ich war damals in ein­er jen­er seli­gen unerk­lär­lichen Aufre­gun­gen, wie sie wohl jed­er als Kind erlebt, ich war noch ein ganz junger Hund, alles gefiel mir, alles hat­te Bezug zu mir, ich glaubte, daß große Dinge um mich vorge­hen, deren Anführer ich sei, denen ich meine Stimme lei­hen müsse, Dinge, die elend am Boden liegen bleiben müßten, wenn ich nicht für sie lief, für sie meinen Kör­p­er schwenk­te, nun, Phan­tasien der Kinder, die mit den Jahren sich ver­flüchti­gen. Aber damals waren sie sehr stark, ich war ganz in ihrem Bann und es geschah dann auch freilich etwas Außeror­dentlich­es, was den wilden Erwartun­gen Recht zu geben schien. An sich war es nichts Außeror­dentlich­es, später habe ich solche und noch merk­würdi­gere Dinge oft genug gese­hen, aber damals traf es mich mit dem starken ersten unver­wis­chbaren, für viele fol­gende rich­tunggeben­den Ein­druck. Ich begeg­nete näm­lich ein­er kleinen Hun­dege­sellschaft, vielmehr ich begeg­nete ihr nicht, sie kam auf mich zu. Ich war damals lange durch die Fin­ster­n­is gelaufen, in Vorah­nung großer Dinge – eine Vorah­nung, die freilich leicht täuschte, denn ich hat­te sie immer – war lange durch die Fin­ster­n­is gelaufen, kreuz und quer, blind und taub für alles, geführt von nichts als dem unbes­timmten Ver­lan­gen, machte plöt­zlich halt in dem Gefühl, hier sei ich am recht­en Ort, sah auf und es war über­heller Tag, nur ein wenig dun­stig, alles voll durcheinan­der wogen­der berauschen­der Gerüche, ich begrüßte den Mor­gen mit wirren Laut­en, da – als hätte ich sie her­auf­beschworen – trat­en aus irgendwelch­er Fin­ster­n­is unter Her­vor­bringung eines entset­zlichen Lärms, wie ich ihn noch nie gehört hat­te, sieben Hunde ans Licht. Hätte ich nicht deut­lich gese­hen, daß es Hunde waren und daß sie selb­st diesen Lärm mit­bracht­en, trotz­dem ich nicht erken­nen kon­nte, wie sie ihn erzeugten – ich wäre sofort wegge­laufen, so aber blieb ich. Damals wußte ich noch fast nichts von der nur dem Hun­degeschlecht ver­liehenen schöpferischen Musikalität, sie war mein­er sich erst langsam entwick­el­nden Beobach­tungskraft bish­er natür­lich­er Weise ent­gan­gen, hat­te mich doch die Musik schon seit mein­er Säuglingszeit umgeben als ein mir selb­stver­ständlich­es unent­behrlich­es Lebense­le­ment, welch­es von meinem son­sti­gen Leben zu son­dern nichts mich zwang, nur in Andeu­tun­gen, dem kindlichen Ver­stand entsprechend, hat­te man mich darauf hinzuweisen ver­sucht, um so über­raschen­der, ger­adezu nieder­w­er­fend waren jene sieben großen Musikkün­stler für mich. Sie rede­ten nicht, sie san­gen nicht, sie schwiegen im all­ge­meinen fast mit ein­er großen Ver­bis­senheit, aber aus dem leeren Raum zauberten sie die Musik empor. Alles war Musik, das Heben und Nieder­set­zen ihrer Füße, bes­timmte Wen­dun­gen des Kopfes, ihr Laufen und ihr Ruhen, die Stel­lun­gen, die sie zueinan­der ein­nah­men, die reigen­mäßi­gen Verbindun­gen, die sie miteinan­der eingin­gen, indem etwa ein­er die Vorderp­foten auf des andern Rück­en stützte und sie sich dann so ord­neten, daß der erste aufrecht die Last aller andern trug, oder indem sie mit ihren nah am Boden hin­schle­ichen­den Kör­pern ver­schlun­gene Fig­uren bilde­ten und niemals sich irrten; nicht ein­mal der let­zte, der noch ein wenig unsich­er war, nicht immer gle­ich den Anschluß an die andern fand, gewis­ser­maßen im Anschla­gen der Melodie manch­mal schwank­te, aber doch unsich­er war nur im Ver­gle­ich mit der großar­ti­gen Sicher­heit der andern und selb­st bei viel größer­er, ja bei vol­lkommen­er Unsicher­heit nichts hätte verder­ben kön­nen, wo die andern, große Meis­ter, den Takt uner­schüt­ter­lich hiel­ten. Aber man sah sie ja kaum, man sah sie ja alle kaum. Sie waren her­vor­ge­treten, man hat­te sie inner­lich begrüßt als Hunde, sehr beir­rt war man zwar von dem Lärm, der sie begleit­ete, aber es waren doch Hunde, Hunde wie ich und du, man beobachtete sie gewohn­heitsmäßig, wie Hunde, denen man auf dem Weg begeg­net, man wollte sich ihnen näh­ern, Grüße tauschen, sie waren auch ganz nah, Hunde, zwar viel älter als ich und nicht von mein­er lang­haari­gen wol­li­gen Art, aber doch auch nicht allzu fremd an Größe und Gestalt, recht ver­traut vielmehr, viele von solch­er oder ähn­lich­er Art kan­nte ich, aber während man noch in solchen Über­legun­gen befan­gen war, nahm allmäh­lich die Musik über­hand, faßte einen förm­lich, zog einen hin­weg von diesen wirk­lichen kleinen Hun­den und ganz wider Willen, sich sträubend mit allen Kräften, heulend, als würde einem Schmerz bere­it­et, durfte man sich mit nichts anderem beschäfti­gen, als mit der von allen Seit­en, von der Höhe, von der Tiefe, von über­all her kom­menden, den Zuhör­er in die Mitte nehmenden, über­schüt­ten­den, erdrück­enden, über sein­er Ver­nich­tung noch in solch­er Nähe, daß es schon Ferne war, kaum hör­bar noch Fan­faren blasenden Musik. Und wieder wurde man ent­lassen, weil man schon zu erschöpft, zu ver­nichtet, zu schwach war, um noch zu hören, man wurde ent­lassen und sah die sieben kleinen Hunde ihre Prozes­sio­nen führen, ihre Sprünge tun, man wollte sie, so ablehnend sie aus­sa­hen, anrufen, um Belehrung bit­ten, sie fra­gen, was sie denn hier macht­en, – ich war ein Kind und glaubte immer und jeden fra­gen zu dür­fen – aber kaum set­zte ich an, kaum fühlte ich die gute ver­traute hündis­che Verbindung mit den sieben, war wieder ihre Musik da, machte mich besin­nungs­los, drehte mich im Kreise herum, als sei ich selb­st ein­er der Musikan­ten, während ich doch nur ihr Opfer war, warf mich hier­hin und dor­thin, so sehr ich auch um Gnade bat, und ret­tete mich schließlich vor ihrer eige­nen Gewalt, indem sie mich in ein Gewirr von Hölz­ern drück­te, das in jen­er Gegend ring­sum sich erhob, ohne daß ich es bish­er bemerkt hat­te, mich jet­zt fest umf­ing, den Kopf mir nieder­duck­te und mir, mochte dort im Freien die Musik noch don­nern, die Möglichkeit gab, ein wenig zu ver­schnaufen. Wahrhaftig, mehr als über die Kun­st der sieben Hunde, – sie war mir unbe­grei­flich, aber auch gän­zlich unanknüpf­bar außer­halb mein­er Fähigkeit­en – wun­derte ich mich über ihren Mut, sich dem, was sie erzeugten, völ­lig und offen auszuset­zen, und über ihre Kraft, es ohne daß es ihnen das Rück­grat brach, ruhig zu ertra­gen. Freilich erkan­nte ich jet­zt aus meinem Schlupfloch bei genauer­er Beobach­tung, daß es nicht so sehr Ruhe, als äußer­ste Anspan­nung war, mit der sie arbeit­eten, diese schein­bar so sich­er bewegten Beine zit­terten bei jedem Schritt in unaufhör­lich­er ängstlich­er Zuck­ung, starr wie in Verzwei­flung sah ein­er den andern an, und die immer wieder bewältigte Zunge hing doch gle­ich wieder schlapp aus den Mäulern. Es kon­nte nicht Angst wegen des Gelin­gens sein, was sie so erregte; wer solch­es wagte, solch­es zus­tande brachte, der kon­nte keine Angst mehr haben. – Wovor denn Angst? Wer zwang sie denn zu tun, was sie hier tat­en? Und ich kon­nte mich nicht mehr zurück­hal­ten, beson­ders da sie mir jet­zt so unver­ständlich hil­fs­bedürftig erschienen, und so rief ich durch allen Lärm meine Fra­gen laut und fordernd hin­aus. Sie aber – unbe­grei­flich! unbe­grei­flich! – sie antworteten nicht, tat­en, als wäre ich nicht da. Hunde, die auf Hun­dean­ruf gar nicht antworten, ein Verge­hen gegen die guten Sit­ten, daß dem kle­in­sten wie dem größten Hunde unter keinen Umstän­den verziehen wird. Waren es etwa doch nicht Hunde? Aber wie soll­ten es denn nicht Hunde sein, hörte ich doch jet­zt bei genauerem Hin­horchen sog­ar leise Zurufe, mit denen sie einan­der befeuerten, auf Schwierigkeit­en aufmerk­sam macht­en, vor Fehlern warn­ten, sah ich doch den let­zten kle­in­sten Hund, dem die meis­ten Zurufe gal­ten, öfters nach mir hin­schie­len, so als hätte er viel Lust mir zu antworten, bezwänge sich aber, weil es nicht sein dürfe. Aber warum durfte es nicht sein, warum durfte denn das, was unsere Geset­ze bedin­gungs­los immer ver­lan­gen, dies­mal nicht sein? Das empörte sich in mir, fast ver­gaß ich die Musik. Diese Hunde hier vergin­gen sich gegen das Gesetz. Mocht­en es noch so große Zauber­er sein, das Gesetz galt auch für sie, das ver­stand ich Kind schon ganz genau. Und ich merk­te von da aus noch mehr. Sie hat­ten wirk­lich Grund zu schweigen, voraus­ge­set­zt, daß sie aus Schuldge­fühl schwiegen. Denn wie führten sie sich auf, vor lauter Musik hat­te ich es bish­er nicht bemerkt, sie hat­ten ja alle Scham von sich gewor­fen, die elen­den tat­en das gle­ichzeit­ig Lächer­lich­ste und Unanständig­ste, sie gin­gen aufrecht auf den Hin­ter­beinen. Pfui Teufel! Sie ent­blößten sich und tru­gen ihre Blöße protzig zur Schau: sie tat­en sich darauf zugute, und wenn sie ein­mal auf einen Augen­blick dem guten Trieb gehorcht­en und die Vorder­beine senk­ten, erschrak­en sie förm­lich, als sei es ein Fehler, als sei die Natur ein Fehler, hoben wieder schnell die Beine und ihr Blick schien um Verzei­hung dafür zu bit­ten, daß sie in ihrer Sünd­haftigkeit ein wenig hat­ten innehal­ten müssen. War die Welt verkehrt? Wo war ich? Was war denn geschehen? Hier durfte ich um meines eige­nen Bestandes willen nicht mehr zögern, ich machte mich los aus den umk­lam­mern­den Hölz­ern, sprang mit einem Satz her­vor und wollte zu den Hun­den, ich klein­er Schüler mußte Lehrer sein, mußte ihnen begrei­flich machen, was sie tat­en, mußte sie abhal­ten vor weit­er­er Ver­sündi­gung. „So alte Hunde, so alte Hunde!“ wieder­holte ich mir immer fort. Aber kaum war ich frei und nur noch zwei, drei Sprünge tren­nten mich von den Hun­den, war es wieder der Lärm, der seine Macht über mich bekam. Vielle­icht hätte ich in meinem Eifer sog­ar ihm, den ich doch nun schon kan­nte, wider­standen, wenn nicht durch alle seine Fülle, die schreck­lich war, aber vielle­icht doch zu bekämpfen, ein klar­er strenger immer sich gle­ich bleiben­der, förm­lich aus großer Ferne unverän­dert ank­om­mender Ton, vielle­icht die eigentliche Melodie inmit­ten des Lärms, gek­lun­gen und mich in die Knie gezwun­gen hätte. Ach, was macht­en doch diese Hunde für eine betörende Musik. Ich kon­nte nicht weit­er, ich wollte sie nicht mehr belehren, mocht­en sie weit­er die Beine spreizen, Sün­den bege­hen und andere zur Sünde des stillen Zuschauens ver­lock­en, ich war ein so klein­er Hund, wer kon­nte so Schw­eres von mir ver­lan­gen? Ich machte mich noch klein­er als ich war, ich win­selte, hät­ten mich danach die Hunde um meine Mei­n­ung gefragt, ich hätte ihnen vielle­icht recht gegeben. Es dauerte übri­gens nicht lange und sie ver­schwan­den mit allem Lärm und allem Licht in der Fin­ster­n­is, aus der sie gekom­men waren.

Wie ich schon sagte: dieser ganze Vor­fall enthielt nichts Außergewöhn­lich­es, im Ver­lauf eines lan­gen Lebens begeg­net einem mancher­lei, was aus dem Zusam­men­hang genom­men und mit den Augen eines Kindes ange­se­hen noch viel erstaunlich­er wäre. Überdies kann man es natür­lich – wie der tre­f­fende Aus­druck lautet – „verre­den“, so wie alles, dann zeigt sich, daß hier sieben Musik­er zusam­mengekom­men waren, um in der Stille des Mor­gens Musik zu machen, daß ein klein­er Hund sich hin­verir­rt hat­te, ein lästiger Zuhör­er, den sie durch beson­ders schreck­liche oder erhabene Musik, lei­der verge­blich zu vertreiben sucht­en. Er störte sie durch Fra­gen, hät­ten sie, die schon durch die bloße Anwe­sen­heit des Fremdlings genug gestört waren, auch noch auf diese Beläs­ti­gung einge­hen und sie durch Antworten ver­größern sollen? Und wenn auch das Gesetz befiehlt, jedem zu antworten, ist denn ein solch­er winziger herge­laufen­er Hund über­haupt ein nen­nenswert­er Jemand. Und vielle­icht ver­standen sie ihn gar nicht, er bellte ja doch wohl seine Fra­gen recht unver­ständlich. Oder vielle­icht ver­standen sie ihn wohl und antworteten in Selb­stüber­win­dung, aber er, der Kleine, der Musik-Unge­wohnte, kon­nte die Antwort von der Musik nicht son­dern. Und was die Hin­ter­beine bet­rifft, vielle­icht gin­gen sie wirk­lich aus­nahm­sweise nur auf ihnen, es ist eine Sünde, wohl! Aber sie waren allein, sieben Fre­unde unter Fre­un­den, im ver­traulichen Beisam­men­sein, gewis­ser­maßen in den eige­nen vier Wän­den, gewis­ser­maßen ganz allein, denn Fre­unde sind doch keine Öffentlichkeit und wo keine Öffentlichkeit ist, bringt sie auch ein klein­er neugieriger Straßen­hund nicht her­vor, in diesem Fall aber: ist es hier nicht so, als wäre nichts geschehen? Ganz so ist es nicht, aber nahezu, und die Eltern soll­ten ihre Kleinen weniger herum­laufen und dafür bess­er schweigen und das Alter acht­en lehren.

Ist man so weit, dann ist der Fall erledigt. Freilich was für die Großen erledigt ist, ist es für die Kleinen noch nicht. Ich lief umher, erzählte und fragte, klagte an und forschte und wollte jeden hinziehen zu dem Ort, wo alles geschehen war, und wollte jedem zeigen, wo ich ges­tanden hat­te und wo die sieben gewe­sen und wo und wie sie getanzt und musiziert hat­ten, und wäre jemand mit mir gekom­men, statt daß mich jed­er abgeschüt­telt und aus­gelacht hätte, ich hätte dann wohl meine Sünd­losigkeit geopfert und mich auch auf die Hin­ter­beine zu stellen ver­sucht, um alles genau zu verdeut­lichen. Nun, einem Kinde nimmt man alles übel, verzei­ht ihm aber schließlich auch alles. Ich aber habe dieses kind­hafte Wesen behal­ten und bin darüber ein alter Hund gewor­den. So wie ich damals nicht aufhörte, jenen Vor­fall, den ich allerd­ings heute viel niedriger ein­schätze, laut zu besprechen, in seine Bestandteile zu zer­legen, an den Anwe­senden zu messen ohne Rück­sicht auf die Gesellschaft, in der ich mich befand, nur immer mit der Sache beschäftigt, die ich lästig fand genau so wie jed­er andere, die ich aber – das war der Unter­schied – ger­ade deshalb rest­los durch Unter­suchung auflösen wollte, um den Blick endlich wieder freizubekom­men für das gewöhn­liche, ruhige, glück­liche Leben des Tages. Ganz so wie damals habe ich, wenn auch mit weniger kindlichen Mit­teln – aber sehr groß ist der Unter­schied nicht – in der Fol­gezeit gear­beit­et und halte auch heute nicht weit­er.

Mit jen­em Konz­ert aber begann es. Ich klage nicht darüber, es ist mein einge­borenes Wesen, das hier wirkt und das sich gewiß, wenn das Konz­ert nicht gewe­sen wäre, eine andere Gele­gen­heit gesucht hätte, um durchzubrechen. Nur daß es so bald geschah, tat mir früher manch­mal leid, es hat mich um einen großen Teil mein­er Kind­heit gebracht, das glück­selige Leben der jun­gen Hunde, das manch­er für sich jahre­lang auszudehnen imstande ist, hat für mich nur wenige kurze Monate gedauert. Seis darum. Es gibt wichtigere Dinge als die Kind­heit. Und vielle­icht winkt mir im Alter, erar­beit­et durch ein hartes Leben, mehr kindlich­es Glück, als ein wirk­lich­es Kind zu ertra­gen die Kraft hätte, die ich dann aber haben werde.

Ich begann damals meine Unter­suchun­gen mit den ein­fach­sten Din­gen, an Mate­r­i­al fehlte es nicht, lei­der, der Über­fluß ist es, der mich in dun­klen Stun­den verzweifeln läßt. Ich begann zu unter­suchen, wovon sich die Hun­de­schaft nährt. Das ist nun, wenn man will, natür­lich keine ein­fache Frage, sie beschäftigt uns seit Urzeit­en, sie ist der Haupt­ge­gen­stand unseres Nach­denkens, zahl­los sind die Beobach­tun­gen und Ver­suche und Ansicht­en auf diesem Gebi­ete, es ist eine Wis­senschaft gewor­den, die in ihren unge­heuren Aus­maßen nicht nur über die Fas­sungskraft des einzel­nen, son­dern über jene aller Gelehrten ins­ge­samt geht und auss­chließlich von nie­man­dem andern als von der gesamten Hun­de­schaft und selb­st von dieser nur seufzend und nicht ganz voll­ständig getra­gen wer­den kann, immer wieder abbröck­elt in altem, längst besessen­em Gut und müh­selig ergänzt wer­den muß, von den Schwierigkeit­en und kaum zu erfül­len­den Voraus­set­zun­gen mein­er Forschung ganz zu schweigen. Das alles wende man mir nicht ein, das alles weiß ich, wie nur irgen­dein Durch­schnittshund, es fällt mir nicht ein, mich in die wahre Wis­senschaft zu men­gen, ich habe alle Ehrfurcht vor ihr, die ihr gebührt, aber sie zu ver­mehren fehlt es mir an Wis­sen und Fleiß und Ruhe und – nicht zulet­zt, beson­ders seit eini­gen Jahren – auch an Appetit. Ich schlinge das Essen herunter, aber der ger­ing­sten vorgängi­gen geord­neten land­wirtschaftlichen Betra­ch­tung ist es mir nicht wert. Mir genügt in dieser Hin­sicht der Extrakt aller Wis­senschaft, die kleine Regel, mit welch­er die Müt­ter die Kleinen von ihren Brüsten ins Leben ent­lassen: „Mache alles naß, soviel du kannst.“ Und ist hier nicht wirk­lich fast alles enthal­ten? Was hat die Forschung, von unseren Urvätern ange­fan­gen, entschei­dend Wesentlich­es denn hinzuzufü­gen? Einzel­heit­en, Einzel­heit­en und wie unsich­er ist alles: diese Regel aber wird beste­hen, solange wir Hunde sind. Sie bet­rifft unsere Haupt­nahrung: gewiß wir haben noch andere Hil­f­s­mit­tel, aber im Not­fall und wenn die Jahre nicht zu schlimm sind, kön­nten wir von dieser Haupt­nahrung leben, diese Haupt­nahrung find­en wir auf der Erde, die Erde aber braucht unser Wass­er, nährt sich von ihm, und nur für diesen Preis gibt sie uns unsere Nahrung, deren Her­vorkom­men man allerd­ings, dies ist auch nicht zu vergessen, durch bes­timmte Sprüche, Gesänge, Bewe­gun­gen beschle­u­ni­gen kann. Das ist aber mein­er Mei­n­ung nach alles, von dieser Seite her ist über diese Sache grund­sät­zlich nicht mehr zu sagen. Hierin bin ich auch einig mit der ganzen Mehrzahl der Hun­de­schaft und von allen in dieser Hin­sicht ket­zerischen Ansicht­en wende ich mich streng ab. Wahrhaftig, es geht mir nicht um Beson­der­heit­en, um Rechthaberei, ich bin glück­lich, wenn ich mit den Volksgenossen übere­in­stim­men kann und in diesem Falle geschieht es. Meine eige­nen Unter­suchun­gen gehen aber in ander­er Rich­tung. Der Augen­schein lehrt mich, daß die Erde, wenn sie nach den Regeln der Wis­senschaft besprengt und bear­beit­et wird, die Nahrung hergibt und zwar in solch­er Qual­ität, in solch­er Menge, auf solche Art, an solchen Orten, zu solchen Stun­den, wie es die gle­ich­falls von der Wis­senschaft ganz oder teil­weise fest­gestell­ten Geset­ze ver­lan­gen. Das nehme ich hin, meine Frage aber ist: „Woher nimmt die Erde diese Nahrung?“ Eine Frage, die man im all­ge­meinen nicht zu ver­ste­hen vorgibt und auf die man mir besten­falls antwortet: „Hast du nicht genug zu essen, wer­den wir dir von dem unsern geben.“ Man beachte diese Antwort. Ich weiß: Es gehört nicht zu den Vorzü­gen der Hun­de­schaft, daß wir Speisen, die wir ein­mal erlangt haben, zur Verteilung brin­gen. Das Leben ist schw­er, die Erde spröde, die Wis­senschaft reich an Erken­nt­nis­sen, aber arm genug an prak­tis­chen Erfol­gen; wer Speise hat, behält sie; das ist nicht Eigen­nutz, son­dern das Gegen­teil, ist Hun­dege­setz, ist ein­stim­miger Volks­beschluß, her­vorge­gan­gen aus Über­win­dung der Eigen­sucht, denn die Besitzen­den sind ja immer in der Min­derzahl. Und darum ist jene Antwort: „Hast du nicht genug zu essen, wer­den wir dir von dem unsern geben“ eine ständi­ge Reden­sart, ein Scherz­wort, eine Neck­erei. Ich habe das nicht vergessen. Aber eine umso größere Bedeu­tung hat­te es für mich, daß man mir gegenüber, damals als ich mich mit meinen Fra­gen in der Welt umher­trieb, den Spott bei­seite ließ; man gab mir zwar noch immer nichts zu essen – woher hätte man es gle­ich nehmen sollen – und wenn man es ger­ade zufäl­lig hat­te, ver­gaß man natür­lich in der Raserei des Hungers jede andere Rück­sicht, aber das Ange­bot meinte man ernst und hie und da bekam ich dann wirk­lich eine Kleinigkeit, wenn ich schnell genug dabei war, sie an mich zu reißen. Wie kam es, daß man sich zu mir so beson­ders ver­hielt, mich schonte, mich bevorzugte? Weil ich ein mager­er schwach­er Hund war, schlecht genährt und zu wenig um Nahrung besorgt? Aber es laufen viele schlecht genährte Hunde herum und man nimmt ihnen selb­st die elen­deste Nahrung vor dem Mund weg, wenn man es kann, oft nicht aus Gier, son­dern meist aus Grund­satz. Nein, man bevorzugte mich, ich kon­nte es nicht so sehr mit Einzel­heit­en bele­gen, als daß ich vielmehr den bes­timmten Ein­druck dessen hat­te. Waren es also meine Fra­gen, über die man sich freute, die man für beson­ders klug ansah? Nein, man freute sich nicht und hielt sie alle für dumm. Und doch kon­nten es nur die Fra­gen sein, die mir die Aufmerk­samkeit erwar­ben. Es war, als wolle man lieber das Unge­heuer­liche tun, mir den Mund mit Essen zustopfen – man tat es nicht, aber man wollte es – als meine Frage dulden. Aber dann hätte man mich doch bess­er ver­ja­gen kön­nen und meine Fra­gen sich ver­bit­ten. Nein, das wollte man nicht, man wollte zwar meine Fra­gen nicht hören, aber ger­ade wegen dieser mein­er Fra­gen wollte man mich nicht ver­ja­gen. Es war, so sehr ich aus­gelacht, als dummes kleines Tier behan­delt, hin- und hergeschoben wurde, eigentlich die Zeit meines größten Anse­hens, niemals hat sich später etwas der­ar­tiges wieder­holt, über­all hat­te ich Zutritt, nichts wurde mir ver­wehrt, unter dem Vor­wand rauher Behand­lung wurde mir eigentlich geschme­ichelt. Und alles also doch nur wegen mein­er Fra­gen, wegen mein­er Ungeduld, wegen mein­er Forschungs­be­gierde. Wollte man mich damit ein­lullen, ohne Gewalt, fast liebend mich von einem falschen Wege abbrin­gen, von einem Wege, dessen Falschheit doch nicht so über allem Zweifel stand, daß sie erlaubt hätte, Gewalt anzuwen­den? – auch hielt eine gewisse Achtung und Furcht von Gewal­tan­wen­dung ab. Ich ahnte schon damals etwas der­ar­tiges, heute weiß ich es genau, viel genauer als die, welche es damals tat­en, es ist wahr, man hat mich ablock­en wollen von meinem Wege. Es gelang nicht, man erre­ichte das Gegen­teil, meine Aufmerk­samkeit ver­schärfte sich. Es stellte sich mir sog­ar her­aus, daß ich es war, der die andern ver­lock­en wollte, und daß mir tat­säch­lich die Ver­lock­ung bis zu einem gewis­sen Grade gelang. Erst mit Hil­fe der Hun­de­schaft begann ich meine eige­nen Fra­gen zu ver­ste­hen. Wenn ich z. B. fragte: Woher nimmt die Erde diese Nahrung, – küm­merte mich denn dabei, wie es den Anschein haben kon­nte, die Erde, küm­merten mich etwa der Erde Sor­gen? Nicht im ger­ing­sten, das lag mir, wie ich bald erkan­nte, völ­lig fern, mich küm­merten nur die Hunde, gar nichts son­st. Denn was gibt es außer den Hun­den? Wen kann man son­st anrufen in der weit­en leeren Welt? Alles Wis­sen, die Gesamtheit aller Fra­gen und aller Antworten ist in den Hun­den enthal­ten. Wenn man nur dieses Wis­sen wirk­sam, wenn man es nur in den hellen Tag brin­gen kön­nte, wenn sie nur nicht so unendlich viel mehr wüßten, als sie zugeste­hen, als sie sich selb­st zugeste­hen. Noch der red­selig­ste Hund ist ver­schlossen­er, als es die Orte zu sein pfle­gen, wo die besten Speisen sind. Man umschle­icht den Mithund, man schäumt von Begierde, man prügelt sich selb­st mit dem eige­nen Schwanz, man fragt, man bit­tet, man heult, man beißt und erre­icht – und erre­icht das, was man auch ohne jede Anstren­gung erre­ichen würde: liebevolles Anhören, fre­undliche Berührun­gen, ehren­volle Beschnup­pe­run­gen, innige Umar­mungen, mein und dein Heulen mis­cht sich in eins, alles ist darauf gerichtet, ein Entzück­en, Vergessen und Find­en, aber das eine, was man vor allem erre­ichen wollte: Eingeständ­nis des Wis­sens, das bleibt ver­sagt. Auf diese Bitte, ob stumm, ob laut, antworten besten­falls, wenn man die Ver­lock­ung schon aufs äußer­ste getrieben hat, nur stumpfe Mienen, schiefe Blicke, ver­hängte trübe Augen. Es ist nicht viel anders, als es damals war, da ich als Kind die Musik­er­hunde anrief und sie schwiegen.

Nun kön­nte man sagen: „Du beschw­erst dich über deine Mithunde, über ihre Schweigsamkeit hin­sichtlich der entschei­den­den Dinge, du behauptest, sie wüßten mehr als sie eingeste­hen, mehr als sie im Leben gel­ten lassen wollen, und dieses Ver­schweigen, dessen Grund und Geheim­nis sie natür­lich auch noch mit ver­schweigen, vergifte das Leben, mache es dir unerträglich, du müßtest es ändern oder es ver­lassen, mag sein, aber du bist doch selb­st ein Hund, hast auch das Hun­dewis­sen, nun sprich es aus, nicht nur in Form der Frage, son­dern als Antwort. Wenn du es aussprichst, wer wird dir wider­ste­hen? Der große Chor der Hun­de­schaft wird ein­fall­en als hätte er darauf gewartet. Dann hast du Wahrheit, Klarheit, Eingeständ­nis, soviel du nur willst. Das Dach dieses niedri­gen Lebens, dem du so Schlimmes nach­sagst, wird sich öff­nen und wir wer­den alle, Hund bei Hund, auf­steigen in die hohe Frei­heit. Und sollte das Let­zte nicht gelin­gen, sollte es schlim­mer wer­den als bish­er, sollte die ganze Wahrheit unerträglich­er sein als die halbe, sollte sich bestäti­gen, daß die Schweigen­den als Erhal­ter des Lebens im Rechte sind, sollte aus der leisen Hoff­nung, die wir jet­zt noch haben, völ­lige Hoff­nungslosigkeit wer­den, des Ver­such­es ist das Wort doch wert, da du so, wie du leben darf­st, nicht leben willst. Nun also, warum machst du den andern ihre Schweigsamkeit zum Vor­wurf und schweigst selb­st?“ Leichte Antwort: Weil ich ein Hund bin. Im Wesentlichen genau so wie die andern fest ver­schlossen, Wider­stand leis­tend den eige­nen Fra­gen, hart aus Angst. Frage ich denn genau genom­men, zumin­d­est seit­dem ich erwach­sen bin, die Hun­de­schaft deshalb, daß sie mir antwortet? Habe ich so törichte Hoff­nun­gen? Sehe ich die Fun­da­mente unseres Lebens, ahne ihre Tiefe, sehe die Arbeit­er beim Bau, bei ihrem fin­stern Werk und erwarte noch immer, daß auf meine Fra­gen hin alles dies beendigt, zer­stört, ver­lassen wird? Nein, das erwarte ich wahrhaftig nicht mehr. Ich ver­ste­he sie, ich bin Blut von ihrem Blut, von ihrem armen, immer wieder jun­gen, immer wieder ver­lan­gen­dem Blut. Aber nicht nur das Blut haben wir gemein­sam, son­dern auch das Wis­sen und nicht nur das Wis­sen, son­dern auch den Schlüs­sel zu ihm. Ich besitze es nicht ohne die andern, ich kann es nicht haben ohne ihre Hil­fe. – Eis­er­nen Knochen, enthal­tend das edel­ste Mark, kann man nur beikom­men durch ein gemein­sames Beißen aller Zähne aller Hunde. Das ist natür­lich nur ein Bild und über­trieben; wären alle Zähne bere­it, sie müßten nicht mehr beißen, der Knochen würde sich öff­nen und das Mark läge frei dem Zugriff des schwäch­sten Hünd­chens. Bleibe ich inner­halb dieses Bildes, dann zie­len meine Absicht, meine Fra­gen, meine Forschun­gen allerd­ings auf etwas Unge­heuer­lich­es. Ich will diese Ver­samm­lung aller Hunde erzwin­gen, will unter dem Druck ihres Bere­it­seins den Knochen sich öff­nen lassen, will sie dann zu ihrem Leben, das ihnen lieb ist, ent­lassen und dann allein, weit und bre­it allein, das Mark ein­schlür­fen. Das klingt unge­heuer­lich, ist fast so, als wollte ich mich nicht vom Mark eines Knochens nur, son­dern vom Mark der Hun­de­schaft selb­st nähren. Doch es ist nur ein Bild. Das Mark, von dem hier die Rede ist, ist keine Speise, ist das Gegen­teil, ist Gift.

Mit meinen Fra­gen het­ze ich nur noch mich selb­st, will mich anfeuern durch das Schweigen, das allein ring­sum mir noch antwortet. Wie lange wirst du es ertra­gen, daß die Hun­de­schaft, wie du dir durch deine Forschun­gen immer mehr zu Bewußt­sein bringst, schweigt und immer schweigen wird. Wie lange wirst du es ertra­gen, so lautet über allen Einzel­fra­gen meine eigentliche Lebens­frage: sie ist nur an mich gestellt und belästigt keinen andern. Lei­der kann ich sie leichter beant­worten als die Einzel­fra­gen: Ich werde es voraus­sichtlich aushal­ten bis zu meinem natür­lichen Ende, den unruhi­gen Fra­gen wider­ste­ht immer mehr die Ruhe des Alters. Ich werde wahrschein­lich schweigend, vom Schweigen umgeben, nahezu friedlich ster­ben und ich sehe dem gefaßt ent­ge­gen. Ein bewun­dern­swürdig starkes Herz, eine vorzeit­ig nicht abzunützende Lunge sind uns Hun­den wie aus Bosheit mit­gegeben, wir wider­ste­hen allen Fra­gen, selb­st den eige­nen, Boll­w­erk des Schweigens, das wir sind.

Immer mehr in let­zter Zeit über­denke ich mein Leben, suche den entschei­den­den, alles ver­schulden­den Fehler, den ich vielle­icht began­gen habe, und kann ihn nicht find­en. Und ich muß ihn doch began­gen haben, denn hätte ich ihn nicht began­gen und hätte trotz­dem durch die redliche Arbeit eines lan­gen Lebens, das was ich wollte, nicht erre­icht, so wäre bewiesen, daß das, was ich wollte, unmöglich war und völ­lige Hoff­nungslosigkeit würde daraus fol­gen. Sieh das Werk deines Lebens! Zuerst die Unter­suchun­gen hin­sichtlich der Frage: Woher nimmt die Erde die Nahrung für uns. Ein junger Hund, im Grunde natür­lich gierig lebenslustig, verzichtete ich auf alle Genüsse, wich allen Vergnü­gun­gen im Bogen aus, ver­grub vor Ver­lock­un­gen den Kopf zwis­chen den Beinen und machte mich an die Arbeit. Es war keine Gelehrte­nar­beit, wed­er was die Gelehrsamkeit, noch was die Meth­ode, noch was die Absicht bet­rifft. Das waren wohl Fehler, aber entschei­dend kön­nen sie nicht gewe­sen sein. Ich habe wenig gel­ernt, denn ich kam frühzeit­ig von der Mut­ter fort, gewöh­nte mich bald an Selb­ständigkeit, führte ein freies Leben und allzu frühe Selb­ständigkeit ist dem sys­tem­a­tis­chen Ler­nen feindlich. Aber ich habe viel gese­hen, gehört und mit vie­len Hun­den der ver­schieden­sten Arten und Berufe gesprochen und alles wie ich glaube, nicht schlecht aufge­faßt und die Einzel­beobach­tun­gen nicht schlecht ver­bun­den, das hat ein wenig die Gelehrsamkeit erset­zt, außer­dem aber ist Selb­ständigkeit, mag sie für das Ler­nen ein Nachteil sein, für eigene Forschung ein gewiss­er Vorzug. Sie war in meinem Falle um so nötiger, als ich nicht die eigentliche Meth­ode der Wis­senschaft befol­gen kon­nte, näm­lich die Arbeit­en der Vorgänger zu benutzen und mit den zeit­genös­sis­chen Forsch­ern mich zu verbinden. Ich war völ­lig auf mich allein angewiesen, begann mit dem allerersten Anfang und mit dem für die Jugend beglück­enden, für das Alter dann aber äußerst nieder­drück­enden Bewußt­sein, daß der zufäl­lige Schlußpunkt, den ich set­zen werde, auch der endgültige sein müsse. War ich wirk­lich so allein mit meinen Forschun­gen, jet­zt und seit jeher? Ja und nein. Es ist unmöglich, daß nicht immer und auch heute einzelne Hunde hier und dort in mein­er Lage waren und sind. So schlimm kann es mit mir nicht ste­hen. Ich bin kein Haar bre­it außer­halb des Hun­dewe­sens. Jed­er Hund hat wie ich den Drang zu fra­gen, und ich habe wie jed­er Hund den Drang zu schweigen. Jed­er hat den Drang zu fra­gen. Hätte ich denn son­st durch meine Fra­gen auch nur die leicht­esten Erschüt­terun­gen erre­ichen kön­nen, die zu sehen mit oft mit Entzück­en, über­trieben­em Entzück­en allerd­ings, vergön­nt war, und hätte ich denn, wenn es sich mit mir nicht so ver­hielte, nicht viel mehr erre­ichen müssen. Und daß ich den Drang zu schweigen habe, bedarf lei­der keines beson­deren Beweis­es. Ich bin also grund­sät­zlich nicht anders als jed­er andere Hund, darum wird mich trotz aller Mei­n­ungsver­schieden­heit­en und Abnei­gun­gen im Grunde jed­er anerken­nen und ich werde es mit jedem Hund nicht anders tun. Nur die Mis­chung der Ele­mente ist ver­schieden, ein per­sön­lich sehr großer, volk­lich bedeu­tungslos­er Unter­schied. Und nun sollte die Mis­chung dieser immer vorhan­de­nen Ele­mente inner­halb der Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart niemals ähn­lich der meinen aus­ge­fall­en sein und, wenn man meine Mis­chung unglück­lich nen­nen will, nicht auch noch viel unglück­lich­er? Das wäre gegen alle übrige Erfahrung. In den wun­der­barsten Berufen sind wir Hunde beschäftigt. Berufe, an die man gar nicht glauben würde, wenn man nicht die ver­trauenswürdig­sten Nachricht­en darüber hätte. Ich denke hier am lieb­sten an das Beispiel der Lufthunde. Als ich zum ersten­mal von einem hörte, lachte ich, ließ es mir auf keine Weise einre­den. Wie? Es sollte einen Hund von allerkle­in­ster Art geben, nicht viel größer als mein Kopf, auch im hohen Alter nicht größer, und dieser Hund, natür­lich schwäch­lich, dem Anschein nach ein kün­stlich­es, unreifes, über­sorgfältig frisiertes Gebilde, unfähig einen ehrlichen Sprung zu tun, dieser Hund sollte, wie man erzählte, meis­tens hoch in der Luft sich fort­be­we­gen, dabei aber keine sicht­bare Arbeit machen, son­dern ruhn. Nein, solche Dinge mir einre­den wollen, daß hieß doch die Unbe­fan­gen­heit eines jun­gen Hun­des gar zu sehr aus­nützen, glaubte ich. Aber kurz darauf hörte ich von ander­er Seite von einem andren Lufthund erzählen. Hat­te man sich vere­inigt mich zum besten zu hal­ten? Dann aber sah ich die Musik­er­hunde, und von der Zeit an hielt ich alles für möglich, kein Vorurteil beschränk­te meine Fas­sungskraft, den unsin­nig­sten Gerücht­en ging ich nach, ver­fol­gte sie, soweit ich kon­nte, das Unsin­nig­ste erschien mir in diesem unsin­ni­gen Leben wahrschein­lich­er als das Sin­nvolle und für meine Forschung beson­ders ergiebig. So auch die Lufthunde. Ich erfuhr viel­er­lei über sie, es gelang mir zwar bis heute keinen zu sehen, aber von ihrem Dasein bin ich schon längst fest überzeugt und in meinem Welt­bild haben sie ihren wichti­gen Platz. Wie meis­tens so auch hier ist es natür­lich nicht die Kun­st, die mich vor allem nach­den­klich macht. Es ist wun­der­bar, wer kann das leug­nen, daß diese Hunde in der Luft zu schweben imstande sind, im Staunen darüber bin ich mit der Hun­de­schaft einig. Aber viel wun­der­bar­er ist für mein Gefühl die Unsin­nigkeit, die schweigende Unsin­nigkeit dieser Exis­ten­zen. Im all­ge­meinen wird sie gar nicht begrün­det, sie schweben in der Luft, und dabei bleibt es, das Leben geht weit­er seinen Gang, hie und da spricht man von Kun­st und Kün­stlern, das ist alles. Aber warum, grundgütige Hun­de­schaft, warum nur schweben die Hunde? Was für einen Sinn hat ihr Beruf? Warum ist kein Wort der Erk­lärung von ihnen zu bekom­men? Warum schweben sie dort oben, lassen die Beine, den Stolz des Hun­des verküm­mern, sind getren­nt von der nähren­den Erde, säen nicht und ern­ten doch, wer­den ange­blich sog­ar auf Kosten der Hun­de­schaft beson­ders gut genährt. Ich kann mir schme­icheln, daß ich durch meine Fra­gen in diese Dinge doch ein wenig Bewe­gung gebracht habe. Man begin­nt zu begrün­den, eine Art Begrün­dung, zusam­men­zuhaspeln, man begin­nt und wird allerd­ings auch über diesen Beginn nicht hin­aus­gehn. Aber etwas ist es doch. Und es zeigt sich dabei zwar nicht die Wahrheit – niemals wird man soweit kom­men – aber doch etwas von der tiefen Ver­wirrung der Lüge. Alle unsin­ni­gen Erschei­n­un­gen unseres Lebens und die unsin­nig­sten ganz beson­ders lassen sich näm­lich begrün­den. Nicht voll­ständig natür­lich – das ist der teu­flis­che Witz – aber um sich gegen pein­liche Fra­gen zu schützen, reicht es hin. Die Lufthunde wieder als Beispiel genom­men: sie sind nicht hochmütig, wie man zunächst glauben kön­nte, sie sind vielmehr der Mithunde beson­ders bedürftig, ver­sucht man sich in ihre Lage zu ver­set­zen, ver­ste­ht man es. Sie müssen ja, wenn sie es schon nicht offen tun kön­nen – das wäre Ver­let­zung der Schweigepflicht – so doch auf irgen­deine andere Art für ihre Lebensweise Verzei­hung zu erlan­gen suchen oder wenig­stens von ihr ablenken, sie vergessen machen, – sie tun das, wie man mir erzählt, durch eine fast unerträgliche Geschwätzigkeit. Immer­fort haben sie zu erzählen, teils von ihren philosophis­chen Über­legun­gen, mit denen sie sich, da sie auf kör­per­liche Anstren­gung völ­lig verzichtet haben, fortwährend beschäfti­gen kön­nen, teils von den Beobach­tun­gen, die sie von ihrem erhöht­en Stan­dort aus machen. Und trotz­dem sie sich, was bei einem solchen Lot­ter­leben selb­stver­ständlich ist, durch Geis­teskraft nicht sehr ausze­ich­nen, und ihre Philoso­phie so wert­los ist wie ihre Beobach­tun­gen, und die Wis­senschaft kaum etwas davon ver­wen­den kann und über­haupt auf so jäm­mer­liche Hil­f­squellen nicht angewiesen ist, trotz­dem wird man, wenn man fragt, was die Lufthunde über­haupt wollen, immer wieder zur Antwort bekom­men, daß sie zur Wis­senschaft viel beitra­gen. „Das ist richtig“, sagt man darauf, „aber ihre Beiträge sind wert­los und lästig“. Die weit­ere Antwort ist Achselzuck­en, Ablenkung, Ärg­er oder Lachen, und in einem Weilchen, wenn man wieder fragt, erfährt man doch wiederum, daß sie zur Wis­senschaft beitra­gen, und schließlich, wenn man näch­stens gefragt wird – und sich nicht sehr beherrscht, antwortet man das Gle­iche. Und vielle­icht ist es auch gut, nicht allzu hart­näck­ig zu sein und sich zu fügen, die schon beste­hen­den Lufthunde nicht in ihrer Lebens­berech­ti­gung anerken­nen, was unmöglich ist, aber doch zu dulden. Aber mehr darf man nicht ver­lan­gen, das gin­ge zu weit und man ver­langt es doch. Man ver­langt die Dul­dung immer neuer Lufthunde, die her­aufkom­men. Man weiß gar nicht genau, woher sie kom­men. Ver­mehren sie sich durch Fortpflanzung? Haben sie denn noch die Kraft dazu, sie sind ja nicht viel mehr als ein schönes Fell, was soll sich hier fortpflanzen? Auch wenn das Unwahrschein­liche möglich wäre, wann sollte es geschehen? Immer sieht man sie doch allein, selb­st­genügsam oben in der Luft, und wenn sie ein­mal zu laufen sich her­ablassen, geschieht es nur ein kleines Weilchen lang, ein paar gezierte Schritte und immer wieder nur streng allein und in ange­blichen Gedanken, von denen sie sich, selb­st wenn sie sich anstren­gen, nicht los­reißen kön­nen, wenig­stens behaupten sie das. Wenn sie sich aber nicht fortpflanzen, wäre es denkbar, daß sich Hunde find­en, welche frei­willig das eben­erdi­ge Leben aufgeben, frei­willig Lufthunde wer­den und um den Preis der Bequem­lichkeit und ein­er gewis­sen Kun­st­fer­tigkeit dieses öde Leben dort auf den Kissen wählen? Das ist nicht denkbar, wed­er Fortpflanzung noch frei­williger Anschluß ist denkbar. Die Wirk­lichkeit aber zeigt, daß es doch immer wieder neue Lufthunde gibt; daraus ist zu schließen, daß, mögen auch die Hin­dernisse, unserem Ver­stände unüber­wind­bar scheinen, eine ein­mal vorhan­dene Hun­deart, sei sie auch noch so son­der­bar, nicht aus­stirbt, zumin­d­est nicht leicht, zumin­d­est nicht ohne daß in jed­er Art etwas wäre, das sich lange erfol­gre­ich wehrt.

Muß ich das, wenn es für eine so abseit­ige sinnlose äußer­lich aller­son­der­barste, leben­sun­fähige Art wie die der Lufthunde gilt, nicht auch für meine Art annehmen? Dabei bin ich äußer­lich gar nicht son­der­bar, gewöhn­lich­er Mit­tel­stand, der wenig­stens hier in der Gegend sehr häu­fig ist, durch nichts beson­ders her­vor­ra­gend, durch nichts beson­ders verächtlich, in mein­er Jugend und noch teil­weise im Man­nesalter, solange ich mich nicht ver­nach­läs­sigte und viel Bewe­gung hat­te, war ich sog­ar ein recht hüb­sch­er Hund. Beson­ders meine Vorder­an­sicht wurde gelobt, die schlanken Beine, die schöne Kopfhal­tung, aber auch mein grau-weiß-gelbes, nur in den Haar­spitzen sich ringel­ndes Fell war sehr gefäl­lig, das alles ist nicht son­der­bar, son­der­bar ist nur mein Wesen, aber auch dieses ist, wie ich niemals außer acht lassen darf, im all­ge­meinen Hun­dewe­sen wohl begrün­det. Wenn nun sog­ar der Lufthund nicht allein bleibt, hier und dort in der großen Hun­dewelt immer wieder sich ein­er find­et und sie sog­ar aus dem Nichts immer wieder neuen Nach­wuchs holen, dann kann auch ich der Zuver­sicht leben, daß ich nicht ver­loren bin. Freilich ein beson­deres Schick­sal müssen meine Artgenossen haben, und das Dasein wird mir niemals sicht­bar helfen, schon deshalb nicht, weil ich sie kaum je erken­nen werde. Wir sind die, welche das Schweigen drückt, welche es förm­lich aus Lufthunger durch­brechen wollen, den andern scheint im Schweigen wohl zu sein, zwar hat es nur diesen Anschein, sowie bei den Musikhun­den, die schein­bar ruhig musizierten, in Wirk­lichkeit aber sehr aufgeregt waren, aber dieser Anschein ist stark, man ver­sucht ihm beizukom­men, er spot­tet jeden Angriffs. Wie helfen sich nun meine Artgenossen? Wie sehen ihre Ver­suche, den­noch zu leben, aus? Das mag ver­schieden sein. Ich habe es mit meinen Fra­gen ver­sucht, solange ich jung war. Ich kön­nte mich also vielle­icht an die hal­ten, welche viel fra­gen, und da hätte ich dann meine Artgenossen. Ich habe auch das eine Zeit­lang mit Selb­stüber­win­dung ver­sucht, mit Selb­stüber­win­dung, denn mich küm­mern ja vor allem die, welche antworten sollen; die, welche mir immer­fort mit Fra­gen, die ich meist nicht beant­worten kann, dazwis­chen­fahren, sind mir wider­wär­tig. Und dann, wer fragt denn nicht gern, solange er jung ist, wie soll ich aus den vie­len Fra­gen die richti­gen her­aus­find­en. Eine Frage klingt wie die andere, auf die Absicht kommt es an, die aber ist ver­bor­gen, oft auch dem Frager. Und über­haupt, das Fra­gen ist ja eine Eigen­tüm­lichkeit der Hun­de­schaft, alle fra­gen durcheinan­der, es ist, als sollte damit die Spur der richti­gen Fra­gen ver­wis­cht wer­den. Nein, unter den Fragern der Jun­gen finde ich meine Artgenossen nicht, und unter den Schweigern, den Alten, zu denen ich jet­zt gehöre, eben­sowenig. Aber was wollen denn die Fra­gen, ich bin ja mit ihnen gescheit­ert, wahrschein­lich sind meine Genossen viel klüger als ich und wen­den ganz andere vortr­e­f­fliche Mit­tel an, um dieses Leben zu ertra­gen, Mit­tel freilich, die, wie ich aus eigen­em hinzufüge, vielle­icht ihnen zur Not helfen, beruhi­gen, ein­schläfern, artver­wan­del­nd wirken, aber in der All­ge­mein­heit eben­so ohn­mächtig sind, wie die meinen, denn, soviel ich auch auss­chaue, einen Erfolg sehe ich nicht. Ich fürchte, an allem anderen werde ich meine Artgenossen eher erken­nen als am Erfolg. Wo sind denn aber meine Artgenossen? Ja, das ist die Klage, das ist sie eben. Wo sind sie? Über­all und nir­gends. Vielle­icht ist es mein Nach­bar, drei Sprünge weit von mir, wir rufen einan­der oft zu, er kommt auch zu mir herüber, ich zu ihm nicht. Ist er mein Artgenosse? Ich weiß nicht, ich erkenne zwar nichts der­gle­ichen an ihm, aber möglich ist es. Möglich ist es, aber doch ist nichts unwahrschein­lich­er. Wenn er fern ist, kann ich zum Spiel mit Zuhil­fe­nahme aller Phan­tasie manch­es mich verdächtig Anheimel­nde an ihm her­aus­find­en, ste­ht er dann aber vor mir, sind alle meine Erfind­un­gen zum Lachen. Ein alter Hund, noch etwas klein­er als ich, der ich kaum Mit­tel­größe habe, braun, kurzhaarig, mit müde hän­gen­dem Kopf, mit schlür­fend­en Schrit­ten, das linke Hin­ter­bein schleppt er überdies infolge ein­er Krankheit ein wenig nach. So nah wie mit ihm verkehre ich schon seit langem mit nie­man­dem, ich bin froh, daß ich ihn doch noch lei­dlich ertrage, und wenn er fort­ge­ht, schreie ich ihm die fre­undlich­sten Dinge nach, freilich nicht aus Liebe, son­dern zornig auf mich, weil ich ihn, wenn ich ihm nachge­he, doch wieder nur ganz abscheulich finde, wie er sich wegschle­icht mit dem nach­schlep­pen­den Fuß und dem viel zu niedri­gen Hin­terteil. Manch­mal ist mir als wollte ich mich selb­st verspot­ten, wenn ich ihn in Gedanken meinen Genossen nenne. Auch in unseren Gesprächen ver­rät er nichts von irgen­dein­er Genossen­schaft, zwar ist er klug und, für unsere Ver­hält­nisse hier, gebildet genug und ich kön­nte viel von ihm ler­nen, aber suche ich Klugheit und Bil­dung? Wir unter­hal­ten uns gewöhn­lich über örtliche Fra­gen und ich staune dabei, durch meine Ein­samkeit in dieser Hin­sicht hell­sichtiger gemacht, wieviel Geist selb­st für einen gewöhn­lichen Hund, selb­st bei durch­schnit­tlich nicht allzu ungün­sti­gen Ver­hält­nis­sen nötig ist, um sein Leben zu fris­ten und sich vor den größten üblichen Gefahren zu schützen. Die Wis­senschaft gibt zwar die Regeln, aber sie auch nur von Ferne und in den gröb­sten Hauptzü­gen zu ver­ste­hen ist gar nicht leicht, und wenn man sie ver­standen hat, kommt erst das eigentlich Schwere, sie näm­lich auf die örtlichen Ver­hält­nisse anzuwen­den – hier kann kaum jemand helfen, fast jede Stunde gibt neue Auf­gaben und jedes neue Fleckchen Erde seine beson­deren; daß er für die Dauer irgend­wo ein­gerichtet ist und daß sein Leben nun gewis­ser­maßen von selb­st ver­läuft, kann nie­mand von sich behaupten, nicht ein­mal ich, dessen Bedürfnisse sich förm­lich von Tag zu Tag ver­ringern. Und alle diese unendliche Mühe – zu welchem Zweck? Doch nur um sich immer weit­er zu ver­graben im Schweigen und um niemals und von nie­mand mehr her­aus­ge­holt wer­den zu kön­nen. Man rühmt oft den all­ge­meinen Fortschritt der Hun­de­schaft durch die Zeit­en und meint damit wohl haupt­säch­lich den Fortschritt der Wis­senschaft. Gewiß, die Wis­senschaft schre­it­et fort, das ist unaufhalt­sam, sie schre­it­et sog­ar mit Beschle­u­ni­gung fort, immer schneller, aber was ist daran zu rüh­men? Es ist so als wenn man jeman­den deshalb rüh­men wollte, weil er mit zunehmenden Jahren älter wird und infolgedessen immer schneller der Tod sich nähert. Das ist ein natür­lich­er und überdies ein häßlich­er Vor­gang, an dem ich nichts zu rüh­men finde. Ich sehe nur Ver­fall, wobei ich aber nicht meine, daß frühere Gen­er­a­tio­nen im Wesen bess­er waren, sie waren nur jünger, das war ihr großer Vorzug, ihr Gedächt­nis war noch nicht so über­lastet wie das heutige, es war noch leichter, sie zum Sprechen zu brin­gen, und wenn es auch nie­man­dem gelun­gen ist, die Möglichkeit war größer, diese größere Möglichkeit ist ja das, was uns beim Anhören jen­er alten, doch eigentlich ein­fälti­gen Geschicht­en so erregt. Hie und da hören wir ein andeu­ten­des Wort und möcht­en fast auf­sprin­gen, fühlten wir nicht die Last der Jahrhun­derte auf uns. Nein, was ich auch gegen meine Zeit einzuwen­den habe, die früheren Gen­er­a­tio­nen waren nicht bess­er als die neueren, ja in gewis­sem Sinn waren sie viel schlechter und schwäch­er. Die Wun­der gin­gen freilich auch damals nicht frei über die Gassen zum beliebi­gen Ein­fan­gen, aber die Hunde waren, ich kann es nicht anders aus­drück­en, noch nicht so hündisch wie heute, das Gefüge der Hun­de­schaft war noch lock­er, das wahre Wort hätte damals noch ein­greifen, den Bau bes­tim­men, umstim­men, nach jedem Wun­sche ändern, in sein Gegen­teil verkehren kön­nen und jenes Wort war da, war zumin­d­est nahe, schwebte auf der Zun­gen­spitze, jed­er kon­nte es erfahren; wo ist es heute hingekom­men, heute kön­nte man schon ins Gekröse greifen und würde es nicht find­en. Unsere Gen­er­a­tion ist vielle­icht ver­loren, aber sie ist unschuldiger als die dama­lige. Das Zögern mein­er Gen­er­a­tion kann ich ver­ste­hen, es ist ja auch gar kein Zögern mehr, es ist das Vergessen eines vor tausend Nächt­en geträumten und tausend­mal vergesse­nen Traumes, wer will uns ger­ade wegen des tausend­sten Vergessens zür­nen? Aber auch das Zögern unser­er Urväter glaube ich zu ver­ste­hen, wir hät­ten wahrschein­lich nicht anders gehan­delt, fast möchte ich sagen: wohl uns, daß nicht wir es waren, die die Schuld auf uns laden mußten, daß wir vielmehr in ein­er schon von anderen verfin­sterten Welt in fast schuld­losem Schweigen dem Tode zueilen dür­fen. Als unsere Urväter abir­rten, dacht­en sie wohl kaum an ein end­los­es Irren, sie sahen ja förm­lich noch den Kreuzweg, es war leicht wann immer zurück­zukehren, und wenn sie zurück­zukehren zögerten, so nur deshalb, weil sie noch eine kurze Zeit sich des Hun­delebens freuen woll­ten, es war noch gar kein eigen­tüm­lich­es Hun­deleben und schon schien es ihnen berauschend schön, wie mußte es erst später wer­den, wenig­stens noch ein kleines Weilchen später, und so irrten sie weit­er. Sie wußten nicht, was wir bei Betra­ch­tung des Geschichtsver­laufes ahnen kön­nen, daß die Seele sich früher wan­delt als das Leben und daß sie, als sie das Hun­deleben zu freuen begann, schon eine recht althündis­che Seele haben mußten und gar nicht mehr so nahe dem Aus­gangspunkt waren, wie ihnen schien oder wie ihr in allen Hun­de­freuden schwel­gen­des Auge sie glauben machen wollte. – Wer kann heute noch von Jugend sprechen. Sie waren die eigentlichen jun­gen Hunde, aber ihr einziger Ehrgeiz war lei­der darauf gerichtet, alte Hunde zu wer­den, etwas was ihnen freilich nicht mißlin­gen kon­nte, wie alle fol­gen­den Gen­er­a­tio­nen beweisen und unsere, die let­zte, am besten.

Über alle diese Dinge rede ich natür­lich mit meinem Nach­bar nicht, aber ich muß oft an sie denken, wenn ich ihm gegenüber­sitze, diesem typ­is­chen alten Hund, oder die Schnau­ze in sein Fell ver­grabe, das schon einen Anhauch jenes Geruch­es hat, den abge­zo­gene Felle haben. Über jene Dinge mit ihm zu reden wäre sinn­los, auch mit jedem anderen. Ich weiß wie das Gespräch ver­laufen würde. Er hätte einige kleine Ein­wände hie und da, schließlich würde er zus­tim­men – Zus­tim­mung ist die beste Waffe – und die Sache wäre begraben, warum sie aber über­haupt erst aus ihrem Grab bemühn? Und trotz allem, es gibt doch vielle­icht eine über bloße Worte hin­aus­ge­hende tief­ere Übere­in­stim­mung mit meinem Nach­bar. Ich kann nicht aufhören das zu behaupten, trotz­dem ich keine Beweise dafür habe und vielle­icht dabei nur ein­er ein­fachen Täuschung unter­liege, weil er eben seit langem der einzige ist, mit dem ich verkehre und ich mich also an ihn hal­ten muß. „Bist du doch vielle­icht mein Genosse auf deine Art? Und schämst dich, weil dir alles mißlun­gen ist? Sieh, mir ist es eben­so gegan­gen. Wenn ich allein bin, heule ich darüber, komm, zuzweit ist es süßer“, so denke ich manch­mal und sehe ihn dabei fest an. Er senkt dann den Blick nicht, aber auch zu ent­nehmen ist ihm nichts, stumpf sieht er mich an und wun­dert sich, warum ich schweige und unsere Unter­hal­tung unter­brochen habe. Aber vielle­icht ist ger­ade dieser Blick seine Art zu fra­gen und ich ent­täusche ihn, so wie er mich ent­täuscht. In mein­er Jugend hätte ich ihn, wenn mir damals nicht andere Fra­gen wichtiger gewe­sen wären und ich nicht allein mir reich­lich genügt hätte, vielle­icht laut gefragt, hätte eine mat­te Zus­tim­mung bekom­men und also weniger als heute, da er schweigt, Aber schweigen nicht alle eben­so? Was hin­dert mich zu glauben, daß alle meine Genossen sind, daß ich nicht nur hie und da einen Mit­forsch­er hat­te, der mit seinen winzi­gen Ergeb­nis­sen ver­sunken und vergessen ist und zu dem ich auf keine Weise mehr gelan­gen kann durch das Dunkel der Zeit­en oder das Gedränge der Gegen­wart, daß ich vielmehr in allem seit jeher Genossen habe, die sich alle bemühn nach ihrer Art, alle erfol­g­los nach ihrer Art, alle schweigend oder listig plap­pernd nach ihrer Art, wie es die hoff­nungslose Forschung mit sich bringt. Dann hätte ich mich aber auch gar nicht abson­dern müssen, hätte ruhig unter den andern bleiben kön­nen, hätte nicht wie ein unar­tiges Kind durch die Rei­hen der Erwach­se­nen mich hin­aus­drän­gen müssen, die ja eben­so hin­aus­wollen wie ich und an denen mich nur ihr Ver­stand beir­rt, der ihnen sagt, daß nie­mand hin­auskommt und daß alles Drän­gen töricht ist.

Solche Gedanken sind allerd­ings deut­lich die Wirkung meines Nach­bars, er ver­wirrt mich, er macht mich melan­cholisch; und ist für sich fröh­lich genug, wenig­stens höre ich ihn, wenn er in seinem Bere­ich ist, schreien und sin­gen, daß es mir lästig ist. Es wäre gut, auch auf diesen let­zten Verkehr zu verzicht­en, nicht vagen Träumereien nachzuge­hen, wie sie jed­er Hun­de­v­erkehr, so abge­härtet man zu sein glaubt, unver­mei­dlich erzeugt, und die kleine Zeit, die mir bleibt, auss­chließlich für meine Forschun­gen zu ver­wen­den. Ich werde, wenn er näch­stens kommt, mich verkriechen und schlafend stellen und das so lange wieder­holen, bis er aus­bleibt.

Auch ist in meine Forschun­gen Unord­nung gekom­men, ich lasse nach, ich ermüde, ich trotte nur noch mech­a­nisch, wo ich begeis­tert lief. Ich denke zurück an die Zeit, als ich die Frage: „Woher nimmt die Erde unsere Nahrung?“ zu unter­suchen begann. Freilich lebte ich damals mit­ten im Volk, drängte mich dort hin, wo es am dicht­esten war, wollte alle zu Zeu­gen mein­er Arbeit­en machen, diese Zeu­gen­schaft war mir sog­ar wichtiger als meine Arbeit; da ich ja noch irgen­deine all­ge­meine Wirkung erwartete, erhielt ich natür­lich eine große Anfeuerung, die nun für mich Ein­samen vor­bei ist. Damals aber war ich
so stark, daß ich etwas tat, was uner­hört ist, allen unsern Grund­sätzen wider­spricht und an das sich gewiß jed­er Augen­zeuge von damals als an etwas Unheim­lich­es erin­nert. Ich fand in der Wis­senschaft, die son­st zu gren­zen­los­er Spezial­isierung strebt, in ein­er Hin­sicht eine merk­würdi­ge Vere­in­fachung. Sie lehrt, daß in der Haupt­sache die Erde unsere Nahrung her­vor­bringt, und gibt dann, nach­dem sie diese Voraus­set­zung gemacht hat, die Meth­o­d­en an, mit welchen sich die ver­schiede­nen Speisen in bester Art und größter Fülle erre­ichen lassen. Nun ist es freilich richtig, daß die Erde die Nahrung her­vor­bringt, daran kann kein Zweifel sein, aber so ein­fach, wie es gewöhn­lich dargestellt wird, jede weit­ere Unter­suchung auss­chließend, ist es nicht. Man nehme doch nur die prim­i­tivsten Vor­fälle her, die sich täglich wieder­holen. Wenn wir gän­zlich untätig wären, wie ich es nun schon fast bin, nach flüchtiger Boden­bear­beitung uns zusam­men­roll­ten und warteten, was kommt, so wür­den wir allerd­ings, voraus­ge­set­zt, daß sich über­haupt etwas ergeben würde, die Nahrung auf der Erde find­en. Aber das ist doch nicht der Regelfall. Wer sich nur ein wenig Unbe­fan­gen­heit gegenüber der Wis­senschaft bewahrt hat – und deren sind freilich wenige, denn die Kreise, welche die Wis­senschaft zieht, wer­den immer größer – wird, auch wenn er gar nicht auf beson­dere Beobach­tun­gen aus­ge­ht, leicht erken­nen, daß der Haupt­teil der Nahrung, die dann auf der Erde liegt, von oben her­abkommt, wir fan­gen ja je nach unser­er Geschick­lichkeit und Gier das meiste sog­ar ab, ehe es die Erde berührt. Damit sage ich noch nichts gegen die Wis­senschaft, die Erde bringt ja auch diese Nahrung natür­lich her­vor. Ob sie die eine aus sich her­auszieht oder die andere aus der Höhe herabruft, ist ja vielle­icht kein wesentlich­er Unter­schied und die Wis­senschaft, welche fest­gestellt hat, daß in bei­den Fällen Boden­bear­beitung nötig ist, muß sich vielle­icht mit jenen Unter­schei­dun­gen nicht beschäfti­gen, heißt es doch: „Hast du den Fraß im Maul, so hast du für dies­mal alle Fra­gen gelöst.“ Nur scheint es mir, daß die Wis­senschaft sich in ver­hüll­ter Form doch wenig­stens teil­weise mit diesen Din­gen beschäftigt, da sie ja doch zwei Haupt­meth­o­d­en der Nahrungs­beschaf­fung ken­nt, näm­lich die eigentliche Boden­bear­beitung und dann die Ergänzungs-Ver­feinerungs-Arbeit in Form von Spruch, Tanz und Gesang. Ich finde darin eine zwar nicht voll­ständi­ge, aber doch genug deut­liche, mein­er Unter­schei­dung entsprechende Zweit­eilung. Die Boden­bear­beitung dient mein­er Mei­n­ung nach zur Erzielung von bei­der­lei Nahrung und bleibt immer unent­behrlich, Spruch, Tanz und Gesang aber betr­e­f­fen weniger die Boden­nahrung im engeren Sinn, son­dern dienen haupt­säch­lich dazu, die Nahrung von oben her­abzuziehen. In dieser Auf­fas­sung bestärkt mich die Tra­di­tion. Hier scheint das Volk die Wis­senschaft richtigzustellen, ohne es zu wis­sen und ohne daß die Wis­senschaft sich zu wehren wagt. Wenn, wie die Wis­senschaft will, jene Zer­e­monien nur dem Boden dienen soll­ten, etwa um ihm die Kraft zu geben, die Nahrung von oben zu holen, so müßten sie sich doch fol­gerichtig völ­lig am Boden vol­lziehen, dem Boden müßte alles zuge­flüstert, vorge­sprun­gen, vor­ge­tanzt wer­den. Die Wis­senschaft ver­langt wohl auch meines Wis­sens nichts anderes. Und nun das Merk­würdi­ge, das Volk richtet sich mit allen seinen Zer­e­monien in die Höhe. Es ist dies keine Ver­let­zung der Wis­senschaft, sie ver­bi­etet es nicht, läßt dem Land­wirt darin die Frei­heit, sie denkt bei ihren Lehren nur an den Boden, und führt der Land­wirt ihre auf den Boden sich beziehen­den Lehren aus, ist sie zufrieden, aber ihr Gedanken­gang sollte mein­er Mei­n­ung nach eigentlich mehr ver­lan­gen. Und ich, der ich niemals tiefer in die Wis­senschaft eingewei­ht wor­den bin, kann mir gar nicht vorstellen, wie die Gelehrten es dulden kön­nen, daß unser Volk, lei­den­schaftlich wie es nun ein­mal ist, die Zauber­sprüche aufwärts ruft, unsere alten Volks­gesänge in die Lüfte klagt und Sprungtänze auf­führt, als ob es sich, den Boden vergessend, für immer emporschwin­gen wollte. Von der Beto­nung dieser Wider­sprüche ging ich aus, ich beschränk­te mich, wann immer nach den Lehren der Wis­senschaft die Ern­tezeit sich näherte, völ­lig auf den Boden, ich schar­rte ihn im Tanz, ich ver­drehte den Kopf, um nur dem Boden möglichst nahe zu sein. Ich machte mir später eine Grube für die Schnau­ze und sang so und deklamierte, daß nur der Boden es hörte und nie­mand son­st neben oder über mir.

Die Forschungsergeb­nisse waren ger­ing. Manch­mal bekam ich das Essen nicht und schon wollte ich jubeln über meine Ent­deck­ung, aber dann kam das Essen doch wieder, so als wäre man zuerst beir­rt gewe­sen durch meine son­der­bare Auf­führung, erkenne aber jet­zt den Vorteil, den sie bringe, und verzichte gern auf meine Schreie und Sprünge. Oft kam das Essen sog­ar reich­lich­er als früher, aber dann blieb es doch auch wieder gän­zlich aus. Ich machte mit einem Fleiß, der an jun­gen Hun­den bish­er unbekan­nt gewe­sen war, genau Auf­stel­lun­gen aller mein­er Ver­suche, glaubte schon hie und da eine Spur zu find­en, die mich weit­er führen kön­nte, aber dann ver­lief sie sich doch wieder ins Unbes­timmte. Es kam mir hier­bei unstre­it­ig auch meine ungenü­gende wis­senschaftliche Vor­bere­itung in die Quere. Wo hat­te ich die Bürgschaft, daß z. B. das Aus­bleiben des Essens nicht durch mein Exper­i­ment, son­dern durch unwis­senschaftliche Boden­bear­beitung bewirkt war, und traf das zu, dann waren alle meine Schluß­fol­gerun­gen halt­los. Unter gewis­sen Bedin­gun­gen hätte ich ein fast ganz präzis­es Exper­i­ment erre­ichen kön­nen, wenn es mir näm­lich gelun­gen wäre, ganz ohne Boden­bear­beitung – ein­mal nur durch aufwärts gerichtete Zer­e­monie das Her­abkom­men des Essens und dann durch auss­chließliche Boden-Zer­e­monie das Aus­bleiben des Essens zu erre­ichen. Ich ver­suchte auch der­ar­tiges, aber ohne fes­ten Glauben und nicht mit vol­lkomme­nen Ver­suchs­be­din­gun­gen, denn mein­er uner­schüt­ter­lichen Mei­n­ung nach ist wenig­stens eine gewisse Boden­bear­beitung immer nötig und selb­st wenn die Ket­zer, die es nicht glauben, recht hät­ten, ließe es sich doch nicht beweisen, da die Bodenbe­spren­gung unter einem Drang geschieht und sich in gewis­sen Gren­zen gar nicht ver­mei­den läßt. Ein anderes allerd­ings etwas abseit­iges Exper­i­ment glück­te mir bess­er und machte einiges Auf­se­hen. Anschließend an das übliche Abfan­gen der Nahrung aus der Luft beschloß ich, die Nahrung zwar nieder­fall­en zu lassen, sie aber auch nicht abz­u­fan­gen. Zu diesem Zwecke machte ich immer, wenn die Nahrung kam, einen kleinen Luft­sprung, der aber immer so berech­net war, daß er nicht aus­re­ichte; meis­tens fiel sie dann doch stumpf-gle­ichgültig zu Boden und ich warf mich wütend auf sie, in der Wut nicht nur des Hungers, son­dern auch der Ent­täuschung. Aber in vere­inzel­ten Fällen geschah doch etwas anderes, etwas eigentlich Wun­der­bares, die Speise fiel nicht, son­dern fol­gte mir in der Luft, die Nahrung ver­fol­gte den Hun­gri­gen. Es geschah nicht lange, eine kurze Strecke nur, dann fiel sie doch oder ver­schwand gän­zlich oder – der häu­fig­ste Fall – meine Gier been­dete vorzeit­ig das Exper­i­ment und ich fraß die Sache auf. Immer­hin, ich war damals glück­lich, durch meine Umge­bung ging ein Raunen, man war unruhig und aufmerk­sam gewor­den, ich fand meine Bekan­nten zugänglich­er meinen Fra­gen, in ihren Augen sah ich irgen­dein Hil­fe suchen­des Leucht­en, mochte es auch nur der Wider­schein mein­er eige­nen Blicke sein, ich wollte nichts anderes, ich war zufrieden. Bis ich dann freilich erfuhr – und die anderen erfuhren es mit mir – daß dieses Exper­i­ment in der Wis­senschaft längst beschrieben ist, viel großar­tiger schon gelun­gen als mir, zwar schon lange nicht gemacht wer­den kon­nte wegen der Schwierigkeit der Selb­st­be­herrschung, die es ver­langt, aber wegen sein­er ange­blichen wis­senschaftlichen Bedeu­tungslosigkeit auch nicht wieder­holt wer­den muß. Es beweise nur, was man schon wußte, daß der Boden die Nahrung nicht nur ger­ade abwärts von oben holt, son­dern auch schräg, ja sog­ar in Spi­ralen. Da stand ich nun, aber ent­mutigt war ich nicht, dazu war ich noch zu jung, im Gegen­teil, ich wurde dadurch aufge­mu­ntert zu der vielle­icht größten Leis­tung meines Lebens. Ich glaubte der wis­senschaftlichen Entwer­tung meines Exper­i­mentes nicht, aber hier hil­ft kein Glauben, son­dern nur der Beweis und den wollte ich antreten und wollte damit auch dieses ursprünglich etwas abseit­ige Exper­i­ment ins volle Licht, in den Mit­telpunkt der Forschung stellen. Ich wollte beweisen, daß, wenn ich vor der Nahrung zurück­wich, nicht der Boden sie schräg zu sich her­ab­zog, son­dern ich es war, der sie hin­ter mir her lock­te. Dieses Exper­i­ment kon­nte ich allerd­ings nicht weit­er aus­bauen, den Fraß vor sich zu sehen und dabei wis­senschaftlich exper­i­men­tieren, das hielt man für die Dauer nicht aus. Aber ich wollte etwas anderes tun, ich wollte, solange ichs aushielt, völ­lig fas­ten, allerd­ings dabei auch jeden Anblick der Nahrung, jede Ver­lock­ung ver­mei­den. Wenn ich mich so zurück­zog, mit geschlosse­nen Augen liegen blieb Tag und Nacht, wed­er um das Aufheben noch um das Abfan­gen der Nahrung mich küm­merte, und wie ich nicht zu behaupten wagte, aber leise hoffte, ohne alle son­sti­gen Maß­nah­men, nur auf die unver­mei­dliche unra­tionelle Bodenbe­spren­gung und stilles Auf­sagen der Sprüche und Lieder hin (den Tanz wollte ich unter­lassen, um mich nicht zu schwächen) die Nahrung von oben selb­st her­abkäme und ohne sich um den Boden zu küm­mern, an mein Gebiß klopfen würde, um ein­ge­lassen zu wer­den, – wenn dies geschah, dann war die Wis­senschaft zwar nicht wider­legt, denn sie hat genug Elas­tiz­ität für Aus­nah­men und Einzelfälle, aber was würde das Volk sagen, das glück­licher­weise nicht so viel Elas­tiz­ität hat? Denn es würde das ja auch kein Aus­nah­me­fall von der Art sein, wie sie die Geschichte über­liefert, daß etwa ein­er wegen kör­per­lich­er Krankheit oder wegen Trüb­sinns sich weigert, die Nahrung vorzu­bere­it­en, zu suchen, aufzunehmen und dann die Hun­de­schaft in Beschwörungs­formeln sich vere­inigt und dadurch ein Abir­ren der Nahrung von ihrem gewöhn­lichen Weg ger­adewegs in das Maul des Kranken erre­icht. Ich dage­gen war in voller Kraft und Gesund­heit, mein Appetit so prächtig, daß er mich tage­lang hin­derte, an etwas anderes zu denken als an ihn, ich unter­zog mich, mochte man es glauben oder nicht, dem Fas­ten frei­willig, war selb­st imstande, für das Her­abkom­men der Nahrung zu sor­gen und wollte es auch tun, brauchte aber auch keine Hil­fe der Hun­de­schaft und ver­bat sie mir sog­ar auf das entsch­ieden­ste.

Ich suchte mir einen geeigneten Ort in einem entle­ge­nen Gebüsch, wo ich keine Eßge­spräche, kein Schmatzen und Knochenknack­en hören würde, fraß mich noch ein­mal völ­lig satt und legte mich dann hin. Ich wollte wom­öglich die ganze Zeit mit geschlosse­nen Augen ver­brin­gen; solange kein Essen kom­men sollte, würde es für mich unun­ter­brochen Nacht sein, mochte es Tage und Wochen dauern. Dabei durfte ich allerd­ings, das war eine große Erschwerung, wenig oder am besten gar nicht schlafen, denn ich mußte ja nicht nur die Nahrung her­abbeschwören, son­dern auch auf der Hut sein, daß ich die Ankun­ft der Nahrung nicht etwa ver­schlafe, ander­er­seits wiederum war Schlaf sehr willkom­men, denn schlafend würde ich viel länger hungern kön­nen als im Wachen. Aus diesen Grün­den beschloß ich, die Zeit vor­sichtig einzuteilen und viel zu schlafen, aber immer nur ganz kurze Zeit. Ich erre­ichte dies dadurch, daß ich den Kopf im Schlaf immer auf einen schwachen Ast stützte, der bald einknick­te und mich dadurch weck­te. So lag ich, schlief oder wachte, träumte oder sang still für mich hin. Die erste Zeit verg­ing ereignis­los, noch war es vielle­icht dort, woher die Nahrung kommt, irgend­wie unbe­merkt geblieben, daß ich mich hier gegen den üblichen Ver­lauf der Dinge stemmte, und so blieb alles still. Ein wenig störte mich in mein­er Anstren­gung die Befürch­tung, daß die Hunde mich ver­mis­sen, bald auffind­en und etwas gegen mich unternehmen wür­den. Eine zweite Befürch­tung war, daß auf die bloße Bespren­gung hin der Boden, trotz­dem es ein nach der Wis­senschaft unfrucht­bar­er Boden war, die soge­nan­nte Zufall­snahrung
hergeben und ihr Geruch mich ver­führen würde. Aber vor­läu­fig geschah nichts der­gle­ichen, und ich kon­nte weit­er­hungern. Abge­se­hen von diesen Befürch­tun­gen war ich zunächst ruhig, wie ich es an mir noch nie bemerkt hat­te. Trotz­dem ich hier eigentlich an der Aufhe­bung der Wis­senschaft arbeit­ete, erfüllte mich Beha­gen und fast die sprich­wörtliche Ruhe des wis­senschaftlichen Arbeit­ers. In meinen Träumereien erlangte ich von der Wis­senschaft Verzei­hung, es fand sich in ihr auch ein Raum für meine Forschun­gen, trostre­ich klang es mir in den Ohren, daß ich, mögen auch meine Forschun­gen noch so erfol­gre­ich wer­den und beson­ders dann, keineswegs für das Hun­deleben ver­loren sei, die Wis­senschaft sei mir fre­undlich geneigt, sie selb­st werde die Deu­tung mein­er Ergeb­nisse vornehmen und dieses Ver­sprechen bedeute schon die Erfül­lung selb­st, ich würde, während ich mich bish­er im Inner­sten aus­gestoßen fühlte und die Mauern meines Volkes beran­nte wie ein Wilder, in großen Ehren aufgenom­men wer­den, die ersehnte Wärme ver­sam­melter Hun­deleiber werde mich umströ­men, hochgezwun­gen würde ich auf den Schul­tern meines Volkes schwanken. Merk­würdi­ge Wirkung des ersten Hungers. Meine Leis­tung erschien mir so groß, daß ich aus Rührung und aus Mitleid mit mir selb­st dort in dem stillen Gebüsch zu weinen anf­ing, was allerd­ings nicht ganz ver­ständlich war, denn wenn ich den ver­di­en­ten Lohn erwartete, warum weinte ich dann? Wohl nur aus Behaglichkeit. Immer nur wenn mir behaglich war, sel­ten genug, habe ich geweint. Danach ging es freilich bald vorüber. Die schö­nen Bilder ver­flüchtigten sich allmäh­lich mit dem Ern­ster­w­er­den des Hungers, es dauerte nicht lange und ich war, nach schneller Ver­ab­schiedung aller Phan­tasien und aller Rührung, völ­lig allein mit dem in den Eingewei­den bren­nen­den Hunger. „Das ist der Hunger“, sagte ich mir damals unzäh­lige­mal, so, als wollte ich mich glauben machen, Hunger und ich seien noch immer zweier­lei und ich kön­nte ihn abschüt­teln wie einen lästi­gen Lieb­haber, aber in Wirk­lichkeit waren wir höchst schmer­zlich Eines und wenn ich mir erk­lärte: „Das ist der Hunger“, so war es eigentlich der Hunger, der sprach und sich damit über mich lustig machte. Eine böse, böse Zeit! Mich schauert, wenn ich an sie denke, freilich nicht nur wegen des Lei­des, das ich damals durch­lebt habe, son­dern vor allem deshalb, weil ich damals nicht fer­tig gewor­den bin, weil ich dieses Lei­den noch ein­mal werde durchkosten müssen, wenn ich etwas erre­ichen will, denn das Hungern halte ich noch heute für das let­zte und stärk­ste Mit­tel mein­er Forschung. Durch das Hungern geht der Weg, das Höch­ste ist nur der höch­sten Leis­tung erre­ich­bar, wenn es erre­ich­bar ist, und diese höch­ste Leis­tung ist bei uns frei­williges Hungern. Wenn ich also jene Zeit­en durch­denke – und für mein Leben gern wüh­le ich in ihnen – durch­denke ich auch die Zeit­en, die mir dro­hen. Es scheint, daß man fast ein Leben ver­stre­ichen lassen muß, ehe man sich von einem solchen Ver­such erholt, meine ganzen Man­nes­jahre tren­nen mich von jen­em Hungern, aber erholt bin ich noch nicht. Ich werde, wenn ich näch­stens das Hungern beginne, vielle­icht mehr Entschlossen­heit haben als früher, infolge mein­er größeren Erfahrung und besseren Ein­sicht in die Notwendigkeit des Ver­such­es, aber meine Kräfte sind geringer, noch von damals her, zumin­d­est werde ich schon ermat­ten in der bloßen Erwartung der bekan­nten Schreck­en. Mein schwächer­er Appetit wird mir nicht helfen, er entwertet nur ein wenig den Ver­such und wird mich wahrschein­lich noch zwin­gen, länger zu hungern als es damals nötig gewe­sen wäre. Über diese und andere Voraus­set­zun­gen glaube ich mir klar zu sein, an Vorver­suchen hat es ja nicht gefehlt in dieser lan­gen Zwis­chen­zeit, oft genug habe ich das Hungern förm­lich ange­bis­sen, war aber noch nicht stark zum Äußer­sten und die unbe­fan­gene Angriff­s­lust der Jugend ist natür­lich für immer dahin. Sie schwand schon damals inmit­ten des Hungerns. Mancher­lei Über­legun­gen quäl­ten mich. Dro­hend erschienen mir unsere Urväter. Ich halte sie zwar, wenn ich es auch öffentlich nicht zu sagen wage, für schuld an allem, sie haben das Hun­deleben ver­schuldet und ich kon­nte also ihren Dro­hun­gen leicht mit Gegen­dro­hun­gen antworten, aber vor ihrem Wis­sen beuge ich mich, es kam aus Quellen, die wir nicht mehr ken­nen, deshalb würde ich auch, so sehr es mich gegen sie anzukämpfen drängt, niemals ihre Geset­ze ger­adezu über­schre­it­en, nur durch die Geset­zes­lück­en, für die ich eine beson­dere Wit­terung habe, schwärme ich aus. Hin­sichtlich des Hungerns berufe ich mich auf das berühmte Gespräch, im Laufe dessen ein­er unser­er Weisen die Absicht aussprach, das Hungern zu ver­bi­eten, worauf ein Zweit­er davon abri­et mit der Frage: „Wer wird denn jemals hungern?“ und der Erste sich überzeu­gen ließ und das Ver­bot zurück­hielt. Nun entste­ht aber wieder die Frage: „Ist nun das Hungern nicht eigentlich doch ver­boten?“ Die große Mehrzahl der Kom­men­ta­toren verneint sie, sieht das Hungern für freigegeben an, hält es mit dem zweit­en Weisen und befürchtet deshalb auch von ein­er irrtüm­lichen Kom­men­tierung keine schlim­men Fol­gen. Dessen hat­te ich mich wohl vergewis­sert, ehe ich mit dem Hungern begann. Nun aber, als ich mich im Hunger krümmte, schon in einiger Geis­tesver­wirrung immer­fort bei meinen Hin­ter­beinen Ret­tung suchte und sie verzweifelt leck­te, kaute, aus­saugte bis zum After hin­auf, erschien mir die all­ge­meine Deu­tung jenes Gespräch­es ganz und gar falsch, ich ver­fluchte die kom­men­ta­torische Wis­senschaft, ich ver­fluchte mich, der ich mich von ihr hat­te irreführen lassen, das Gespräch enthielt ja, wie ein Kind erken­nen mußte, freilich mehr als nur ein einziges Ver­bot des Hungerns, der erste Weise wollte das Hungern ver­bi­eten, was ein Weis­er will, ist schon geschehen, das Hungern war also ver­boten, der zweite Weise stimmte ihm nicht nur zu, son­dern hielt das Hungern sog­ar für unmöglich, wälzte also auf das erste Ver­bot noch ein zweites, das Ver­bot der Hun­de­natur selb­st, der Erste erkan­nte dies an und hielt das aus­drück­liche Ver­bot zurück, das heißt, er gebot den Hun­den nach Dar­legung alles dessen, Ein­sicht zu üben und sich selb­st das Hungern zu ver­bi­eten. Also ein dreifach­es Ver­bot statt des üblichen einen, und ich hat­te es ver­let­zt. Nun hätte ich ja wenig­stens jet­zt ver­spätet gehorchen und zu hungern aufhören kön­nen, aber mit­ten durch den Schmerz ging auch eine Ver­lock­ung, weit­er zu hungern, und ich fol­gte ihr lüstern wie einem unbekan­nten Hund. Ich kon­nte nicht aufhören, vielle­icht war ich auch schon zu schwach, um aufzuste­hen und in bewohnte Gegen­den mich zu ret­ten. Ich wälzte mich hin und her auf der Wald­streu, schlafen kon­nte ich nicht mehr, ich hörte über­all Lärm, die während meines bish­eri­gen Lebens schlafende Welt schien durch mein Hungern erwacht zu sein, ich bekam die Vorstel­lung, daß ich nie mehr werde fressen kön­nen, denn dadurch müßte ich die freige­lassen lär­mende Welt wieder zum Schweigen brin­gen, und das würde ich nicht imstande sein, den größten Lärm allerd­ings hörte ich in meinem Bauche, ich legte oft das Ohr an ihn und muß entset­zte Augen gemacht haben, denn ich kon­nte kaum glauben, was ich hörte. Und da es nun zu arg wurde, schien der Taumel auch meine Natur zu ergreifen, sie machte sinnlose Ret­tungsver­suche, ich begann Speisen zu riechen, auser­lesene Speisen, die ich längst nicht mehr gegessen hat­te, Freuden mein­er Kind­heit, ja ich roch den Duft der Brüste mein­er Mut­ter; ich ver­gaß meinen Entschluß, Gerüchen Wider­stand leis­ten zu wollen, oder richtiger, ich ver­gaß ihn nicht: mit dem Entschluß, so als sei es ein Entschluß, der dazu gehöre, schleppte ich mich nach allen Seit­en, immer nur ein paar Schritte und schnup­perte, so als möchte ich die Speise nur, um mich vor ihnen zu hüten. Daß ich nichts fand, ent­täuschte mich nicht, die Speisen waren da, nur waren sie immer ein paar Schritte zu weit, die Beine knick­ten mir vorher ein. Gle­ichzeit­ig allerd­ings wußte ich, daß gar nichts da war, daß ich die kleinen Bewe­gun­gen nur machte aus Angst vor dem endgülti­gen Zusam­men­brechen auf einem Platz, den ich nicht mehr ver­lassen würde. Die let­zten Hoff­nun­gen schwan­den, die let­zten Ver­lock­un­gen, elend würde ich hier zugrun­dege­hen, was soll­ten meine Forschun­gen, kindliche Ver­suche aus kindlich glück­lich­er Zeit, hier und jet­zt war Ernst, hier hätte die Forschung ihren Wert beweisen kön­nen, aber wo war sie? Hier war nur ein hil­f­los ins Leere schnap­pen­der Hund, der zwar noch krampfhaft eilig, ohne es zu wis­sen, immer­fort den Boden besprengte, aber in seinem Gedächt­nis aus dem ganzen Wust der Zauber­sprüche nicht das Ger­ing­ste mehr auftreiben kon­nte, nicht ein­mal das Ver­schen, mit dem sich die Neuge­bore­nen unter ihre Mut­ter duck­en. Es war mir, als sei ich hier nicht durch einen kurzen Lauf von den Brüdern getren­nt, son­dern unendlich weit fort von allen, und als stürbe ich eigentlich gar nicht durch Hunger, son­dern infolge mein­er Ver­lassen­heit. Es war doch ersichtlich, daß sich nie­mand um mich küm­merte, nie­mand unter der Erde, nie­mand auf ihr, nie­mand in der Höhe, ich ging an ihrer Gle­ichgültigkeit zugrunde, ihre Gle­ichgültigkeit sagte: er stirbt, und so würde es geschehen. Und stimmte ich nicht bei? Sagte ich nicht das Gle­iche? Hat­te ich nicht diese Ver­lassen­heit gewollt? Wohl ihr Hunde, aber nicht um hier so zu enden, son­dern um zur Wahrheit hinüber zu kom­men, aus dieser Welt der Lüge, wo sich nie­mand find­et, von dem man Wahrheit erfahren kann, auch von mir nicht, einge­boren­em Bürg­er der Lüge. Vielle­icht war die Wahrheit nicht allzuweit, und ich also nicht so ver­lassen, wie ich dachte, nicht von den anderen ver­lassen, nur von mir, der ich ver­sagte und starb.

Doch man stirbt nicht so eilig, wie ein nervös­er Hund glaubt. Ich fiel nur in Ohn­macht, und als ich aufwachte und die Augen erhob, stand ein fremder Hund vor mir. Ich fühlte keinen Hunger, ich war sehr kräftig, in den Gelenken fed­erte es mein­er Mei­n­ung nach, wenn ich auch keinen Ver­such machte, es durch Auf­ste­hen zu erproben. Ich sah an und für sich nicht mehr als son­st, ein schön­er aber nicht allzu ungewöhn­lich­er Hund stand vor mir, das sah ich, nichts anderes, und doch glaubte ich mehr an ihm zu sehen als son­st. Unter mir lag Blut, im ersten Augen­blick dachte ich, es sei Speise, ich merk­te aber gle­ich, daß es Blut war, das ich aus­ge­brochen hat­te. Ich wandte mich davon ab und dem frem­den Hunde zu. Er war mager, hochbeinig, braun, hie und da weiß gefleckt und hat­te einen schö­nen, starken, forschen­den Blick. „Was machst Du hier?“ sagte er. „Du mußt von hier fort­ge­hen.“ „Ich kann jet­zt nicht fort­ge­hen“, sagte ich, ohne weit­ere Erk­lärung, denn wie hätte ich ihm alles erk­lären sollen, auch schien er in Eile zu sein. „Bitte, geh’ fort“, sagte er, und hob unruhig ein Bein nach dem anderen. „Laß mich“, sagte ich, „geh und küm­mere Dich nicht um mich, die andern küm­mern sich auch nicht um mich.“ „Ich bitte Dich um Deinetwillen“, sagte er. „Bitte mich aus welchem Grunde Du willst“, sagte ich. „Ich kann nicht gehen, selb­st wenn ich wollte.“ „Daran fehlt es nicht“, sagte er lächel­nd. „Du kannst gehen. Eben weil Du schwach zu sein sche­inst, bitte ich Dich, daß Du jet­zt langsam fort­gehst, zögerst Du, wirst Du später laufen müssen.“ „Laß das meine Sorge sein“, sagte ich. „Es ist auch meine“, sagte er trau­rig wegen mein­er Hart­näck­igkeit, und wollte nun offen­bar mich aber vor­läu­fig schon hier lassen, aber die Gele­gen­heit benutzen und sich liebend an mich her­an machen. Zu ander­er Zeit hätte ich es gerne geduldet von dem Schö­nen, damals aber, ich begriff es nicht, faßte mich ein Entset­zen davor. „Weg“, schrie ich, um so lauter, als ich mich anders nicht vertei­di­gen kon­nte. „Ich lasse Dich ja“, sagte er langsam zurück­tre­tend. „Du bist wun­der­bar. Gefalle ich Dir denn nicht?“ „Du wirst mir gefall­en, wenn Du fort­gehst und mich in Ruhe läßt“, sagte ich, aber ich war mein­er nicht mehr so sich­er, wie ich ihn glauben machen wollte. Irgen­det­was sah oder hörte ich an ihm mit meinen durch das Hungern geschärften Sin­nen, es war erst in den Anfän­gen, es wuchs, es näherte sich und ich wußte schon, dieser Hund hat allerd­ings die Macht dich fortzutreiben, wenn Du Dir jet­zt auch noch nicht vorstellen kannst, wie Du Dich jemals wirst erheben kön­nen. Und ich sah ihn, der auf meine grobe Antwort nur san­ft den Kopf geschüt­telt hat­te, mit immer größer­er Begierde an. „Wer bist Du?“ fragte ich. „Ich bin ein Jäger“, sagte er. „Und warum willst Du mich nicht hier lassen?“ fragte ich. „Du störst mich“, sagte er, „ich kann nicht jagen, wenn Du hier bist“. „Ver­suche es“, sagte ich, „vielle­icht wirst Du doch jagen kön­nen.“ „Nein“, sagte er, „es tut mir leid, aber Du mußt fort.“ „Laß heute das Jagen!“ bat ich. „Nein“, sagte er, „ich muß jagen.“ „Ich muß fort­ge­hen, Du mußt jagen“, sagte ich, „lauter Müssen. Ver­stehst Du es, warum wir müssen?“ „Nein“, sagte er, „es ist daran aber auch nichts zu ver­ste­hen, es sind selb­stver­ständliche natür­liche Dinge.“ „Doch nicht“, sagte ich, „es tut Dir ja leid, daß Du mich ver­ja­gen mußt, und den­noch tust Du es.“ „So ist es“, sagte er. „So ist es“, wieder­holte ich ärg­er­lich, „das ist keine Antwort. Welch­er Verzicht fiele Dir leichter, der Verzicht auf die Jagd oder darauf, mich wegzutreiben?“ „Der Verzicht auf die Jagd“, sagte er ohne Zögern. „Nun also“, sagte ich, „hier ist doch ein Wider­spruch.“ „Was für ein Wider­spruch denn?“ sagte er, „du lieber klein­er Hund, ver­stehst Du denn wirk­lich nicht, daß ich muß? Ver­stehst Du denn das Selb­stver­ständliche nicht?“ Ich antwortete nichts mehr, denn ich merk­te – und neues Leben durch­fuhr mich dabei, Leben wie es der Schreck­en gibt – ich merk­te an unfaßbaren Einzel­heit­en, die vielle­icht nie­mand außer mir hätte merken kön­nen, daß der Hund aus der Tiefe der Brust zu einem Gesänge anhob. „Du wirst sin­gen“, sagte ich. „Ja“, sagte er ernst, „ich werde sin­gen, bald, aber noch nicht.“ „Du beginnst schon“, sagte ich. „Nein“, sagte er, „noch nicht. Aber mach Dich bere­it.“ „Ich höre es schon, trotz­dem Du es leugnest“, sagte ich zit­ternd. Er schwieg. Und ich glaubte damals etwas zu erken­nen, was kein Hund je vor mir erfahren hat, wenig­stens find­et sich in der Über­liefer­ung nicht die leis­es­te Andeu­tung dessen und ich versenk­te eilig in unendlich­er Angst und Scham das Gesicht in der Blut­lache vor mir. Ich glaubte näm­lich zu erken­nen, daß der Hund schon sang, ohne es noch zu wis­sen, ja mehr noch, daß die Melodie, von ihm getren­nt, nach eigen­em Gesetz durch die Lüfte schwebte und über ihn hin­weg, als gehöre er nicht dazu, nur nach mir, nach mir hinzielte. – Heute leugne ich natür­lich alle der­ar­ti­gen Erken­nt­nisse und schreibe sie mein­er dama­li­gen Über­reiztheit zu, aber wenn es auch ein Irrtum war, so hat er doch eine gewisse Großar­tigkeit, ist die einzige, wenn auch nur schein­bare Wirk­lichkeit, die ich aus der Hungerzeit in diese Welt herüberg­erettet habe und zeigt zumin­d­est, wie weit bei völ­ligem Außer-sich-sein wir gelan­gen kön­nen. Und ich war wirk­lich völ­lig außer mir. Unter gewöhn­lichen Umstän­den wäre ich schw­er krank gewe­sen, unfähig mich zu rühren, aber der Melodie, die nun bald der Hund als die seine zu übernehmen schien, kon­nte ich nicht wider­ste­hen. Immer stärk­er wurde sie: ihr Wach­sen hat­te vielle­icht keine Gren­zen und schon jet­zt sprengte sie mir fast das Gehör. Das Schlimm­ste aber war, daß sie nur meinetwe­gen vorhan­den zu sein schien, diese Stimme, vor deren Erhaben­heit der Wald ver­s­tummte, nur meinetwe­gen; wer war ich, der ich noch immer hier zu bleiben wagte und mich vor ihr bre­it­machte in meinem Schmutz und Blut. Schlot­ternd erhob ich mich, sah an mir herab; so etwas wird doch nicht laufen, dachte ich noch, aber schon flog ich von der Melodie gejagt, in den her­rlich­sten Sprün­gen dahin. Meinen Fre­un­den erzählte ich nichts, gle­ich bei mein­er Ankun­ft hätte ich wahrschein­lich alles erzählt, aber da war ich zu schwach, später schien es mir wieder nicht mit­teil­bar. Andeu­tun­gen, die zu unter­drück­en ich mich nicht bezwin­gen kon­nte, ver­loren sich spur­los in den Gesprächen. Kör­per­lich erholte ich mich übri­gens in weni­gen Stun­den, geistig trage ich noch heute die Fol­gen.

Meine Forschun­gen aber erweit­erte ich auf die Musik der Hunde. Die Wis­senschaft war gewiß auch hier nicht untätig, die Wis­senschaft von der Musik ist, wenn ich gut berichtet bin, vielle­icht noch umfan­gre­ich­er als jene von der Nahrung und jeden­falls fes­ter begrün­det. Es ist das dadurch zu erk­lären, daß auf diesem Gebi­et lei­den­schaft­slos­er gear­beit­et wer­den kann als auf jen­em, und daß es sich hier mehr um bloße Beobach­tun­gen und Sys­tem­a­tisierun­gen han­delt, dort dage­gen vor allem um prak­tis­che Fol­gerun­gen. Damit hängt zusam­men, daß der Respekt vor der Musik­wis­senschaft größer ist als vor der Nahrungswis­senschaft, die erstere aber niemals so tief ins Volk ein­drin­gen kon­nte wie die zweite. Auch ich stand der Musik­wis­senschaft, ehe ich die Stimme im Wald gehört hat­te, fremder gegenüber als irgend ein­er anderen. Zwar hat­te mich schon das Erleb­nis mit den Musikhun­den auf sie hingewiesen, aber ich war damals noch zu jung. Auch ist es nicht leicht an diese Wis­senschaft auch nur her­anzukom­men, sie gilt als beson­ders schwierig und schließt sich vornehm gegen die Menge ab. Auch war zwar die Musik bei jenen Hun­den das zunächst Auf­fal­l­end­ste gewe­sen, aber wichtiger als die Musik schien mir ihr ver­schwiegenes Hun­dewe­sen, für ihre schreck­liche Musik fand sich vielle­icht über­haupt keine Ähn­lichkeit ander­swo, ich kon­nte sie eher ver­nach­läs­si­gen, aber ihr Wesen begeg­nete mir von damals an in allen Hun­den über­all. In das Wesen der Hunde einzu­drin­gen schienen mir aber Forschun­gen über die Nahrung am geeignet­sten und ohne Umweg zum Ziele führend. Vielle­icht hat­te ich darin Unrecht. Ein Gren­zge­bi­et der bei­den Wis­senschaften lenk­te allerd­ings schon damals meinen Ver­dacht auf sich. Es ist die Lehre von dem die Nahrung herabrufend­en Gesang. Wieder ist es hier für mich sehr störend, daß ich auch in die Musik­wis­senschaft niemals ern­stlich einge­drun­gen bin und mich in dieser Hin­sicht bei weit­em nicht ein­mal zu den von der Wis­senschaft immer beson­ders ver­achteten Hal­bge­bilde­ten rech­nen kann. Dies muß mir immer gegen­wär­tig bleiben. Vor einem Gelehrten würde ich, ich habe lei­der dafür Beweise, auch in der leicht­esten wis­senschaftlichen Prü­fung sehr schlecht beste­hen. Das hat natür­lich, von den schon erwäh­n­ten Leben­sum­stän­den abge­se­hen, seinen Grund zunächst in mein­er wis­senschaftlichen Unfähigkeit, geringer Denkkraft, schlechtem Gedächt­nis und vor allem in dem Außer­stande­sein, das wis­senschaftliche Ziel mir immer vor Augen zu hal­ten. Das alles geste­he ich mir offen ein, sog­ar mit ein­er gewis­sen Freude. Denn der tief­ere Grund mein­er wis­senschaftlichen Unfähigkeit scheint mir ein Instinkt und wahrlich kein schlechter Instinkt zu sein. Wenn ich bram­abar­sieren wollte, kön­nte ich sagen, daß ger­ade dieser Instinkt meine wis­senschaftlichen Fähigkeit­en zer­stört hat, denn es wäre doch eine zumin­d­est sehr merk­würdi­ge Erschei­n­ung, daß ich, der ich in den gewöhn­lichen täglichen Lebens­din­gen, die gewiß nicht die ein­fach­sten sind, einen erträglichen Ver­stand zeige, und vor allem wenn auch nicht die Wis­senschaft, so doch die Gelehrten sehr gut ver­ste­he, was an meinen Resul­tat­en nach­prüf­bar ist, von vorn­here­in unfähig gewe­sen sein sollte, die Pfote auch nur zur ersten Stufe der Wis­senschaft zu erheben. Es war der Instinkt, der mich vielle­icht ger­ade um der Wis­senschaft willen, aber ein­er anderen Wis­senschaft, als sie heute geübt wird, ein­er aller­let­zten Wis­senschaft, die Frei­heit höher schätzen ließ als alles andere. Die Frei­heit! Freilich die Frei­heit, wie sie heute möglich ist, ein küm­mer­lich­es Gewächs. Aber immer­hin Frei­heit, immer­hin ein Besitz. –