Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse

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Unsere Sän­gerin heißt Jose­fine. Wer sie nicht gehört hat, ken­nt nicht die Macht des Gesanges. Es gibt nie­man­den, den ihr Gesang nicht fortreißt, was umso höher zu bew­erten ist, als unser Geschlecht im ganzen Musik nicht liebt. Stiller Frieden ist uns die lieb­ste Musik; unser Leben ist schw­er, wir kön­nen uns, auch wenn wir ein­mal alle Tages­sor­gen abzuschüt­teln ver­sucht haben, nicht mehr zu solchen, unserem son­sti­gen Leben so fer­nen Din­gen erheben, wie es die Musik ist. Doch bekla­gen wir es nicht sehr; nicht ein­mal so weit kom­men wir; eine gewisse prak­tis­che Schlauheit, die wir freilich auch äußerst drin­gend brauchen, hal­ten wir für unsern größten Vorzug, und mit dem Lächeln dieser Schlauheit pfle­gen wir uns über alles hin­wegzutrösten, auch wenn wir ein­mal - was aber nicht geschieht - das Ver­lan­gen nach dem Glück haben soll­ten, das von der Musik vielle­icht aus­ge­ht. Nur Jose­fine macht eine Aus­nahme; sie liebt die Musik und weiß sie auch zu ver­mit­teln; sie ist die einzige; mit ihrem Hin­gang wird die Musik - wer weiß wie lange - aus unserem Leben ver­schwinden.

Ich habe oft darüber nachgedacht, wie es sich mit dieser Musik eigentlich ver­hält. Wir sind doch ganz unmusikalisch; wie kommt es, daß wir Jose­finens Gesang ver­stehn oder, da Jose­fine unser Ver­ständ­nis leugnet, wenig­stens zu ver­ste­hen glauben. Die ein­fach­ste Antwort wäre, daß die Schön­heit dieses Gesanges so groß ist, daß auch der stumpf­ste Sinn ihr nicht wider­ste­hen kann, aber diese Antwort ist nicht befriedi­gend. Wenn es wirk­lich so wäre, müßte man vor diesem Gesang zunächst und immer das Gefühl des Außeror­dentlichen haben, das Gefühl, aus dieser Kehle erklinge etwas, was wir nie vorher gehört haben und das zu hören wir auch gar nicht die Fähigkeit haben, etwas, was zu hören uns nur diese eine Jose­fine und nie­mand son­st befähigt. Ger­ade das trifft aber mein­er Mei­n­ung nach nicht zu, ich füh­le es nicht und habe auch bei andern nichts der­gle­ichen bemerkt. Im ver­traut­en Kreise geste­hen wir einan­der offen, daß Jose­finens Gesang als Gesang nichts Außeror­dentlich­es darstellt.

Ist es denn über­haupt Gesang? Trotz unser­er Unmusikalität haben wir Gesangsüber­liefer­un­gen; in den alten Zeit­en unseres Volkes gab es Gesang; Sagen erzählen davon und sog­ar Lieder sind erhal­ten, die freilich nie­mand mehr sin­gen kann. Eine Ahnung dessen, was Gesang ist, haben wir also und dieser Ahnung nun entspricht Jose­finens Kun­st eigentlich nicht. Ist es denn über­haupt Gesang? Ist es nicht vielle­icht doch nur ein Pfeifen? Und Pfeifen allerd­ings ken­nen wir alle, es ist die eigentliche Kun­st­fer­tigkeit unseres Volkes, oder vielmehr gar keine Fer­tigkeit, son­dern eine charak­ter­is­tis­che Leben­säußerung. Alle pfeifen wir, aber freilich denkt nie­mand daran, das als Kun­st auszugeben, wir pfeifen, ohne darauf zu acht­en, ja, ohne es zu merken und es gibt sog­ar viele unter uns, die gar nicht wis­sen, daß das Pfeifen zu unsern Eigen­tüm­lichkeit­en gehört. Wenn es also wahr wäre, daß Jose­fine nicht singt, son­dern nur pfeift und vielle­icht gar, wie es mir wenig­stens scheint, über die Gren­zen des üblichen Pfeifens kaum hin­auskommt – ja vielle­icht reicht ihre Kraft für dieses übliche Pfeifen nicht ein­mal ganz hin, während es ein gewöhn­lich­er Erdar­beit­er ohne Mühe den ganzen Tag über neben sein­er Arbeit zus­tande­bringt – wenn das alles wahr wäre, dann wäre zwar Jose­finens ange­bliche Kün­stler­schaft wider­legt, aber es wäre dann erst recht das Rät­sel ihrer großen Wirkung zu lösen.

Es ist aber eben doch nicht nur Pfeifen, was sie pro­duziert. Stellt man sich recht weit von ihr hin und horcht, oder noch bess­er, läßt man sich in dieser Hin­sicht prüfen, singt also Jose­fine etwa unter andern Stim­men und set­zt man sich die Auf­gabe, ihre Stimme zu erken­nen, dann wird man unweiger­lich nichts anderes her­aushören, als ein gewöhn­lich­es, höch­stens durch Zartheit oder Schwäche ein wenig auf­fal­l­en­des Pfeifen. Aber ste­ht man vor ihr, ist es doch nicht nur ein Pfeifen; es ist zum Ver­ständ­nis ihrer Kun­st notwendig, sie nicht nur zu hören son­dern auch zu sehn. Selb­st wenn es nur unser tagtäglich­es Pfeifen wäre, so beste­ht hier doch schon zunächst die Son­der­barkeit, daß jemand sich feier­lich hin­stellt, um nichts anderes als das Übliche zu tun. Eine Nuß aufk­nack­en ist wahrhaftig keine Kun­st, deshalb wird es auch nie­mand wagen, ein Pub­likum zusam­men­zu­rufen und vor ihm, um es zu unter­hal­ten, Nüsse knack­en. Tut er es den­noch und gelingt seine Absicht, dann kann es sich eben doch nicht nur um bloßes Nüssek­nack­en han­deln. Oder es han­delt sich um Nüssek­nack­en, aber es stellt sich her­aus, daß wir über diese Kun­st hin­wegge­se­hen haben, weil wir sie glatt beherrscht­en und daß uns dieser neue Nußk­nack­er erst ihr eigentlich­es Wesen zeigt, wobei es dann für die Wirkung sog­ar nüt­zlich sein kön­nte, wenn er etwas weniger tüchtig im Nüssek­nack­en ist als die Mehrzahl von uns.

Vielle­icht ver­hält es sich ähn­lich mit Jose­finens Gesang; wir bewun­dern an ihr das, was wir an uns gar nicht bewun­dern; übri­gens stimmt sie in let­zter­er Hin­sicht mit uns völ­lig übere­in. Ich war ein­mal zuge­gen, als sie jemand, wie dies natür­lich öfters geschieht, auf das all­ge­meine Volk­spfeifen aufmerk­sam machte und zwar nur ganz beschei­den, aber für Jose­fine war es schon zu viel. Ein so frech­es, hochmütiges Lächeln, wie sie es damals auf­set­zte, habe ich noch nicht gesehn; sie, die äußer­lich eigentlich vol­len­dete Zartheit ist, auf­fal­l­end zart selb­st in unserem an solchen Frauengestal­ten reichen Volk, erschien damals ger­adezu gemein; sie mochte es übri­gens in ihrer großen Empfind­lichkeit auch gle­ich selb­st fühlen und faßte sich. Jeden­falls leugnet sie also jeden Zusam­men­hang zwis­chen ihrer Kun­st und dem Pfeifen. Für die, welche gegen­teiliger Mei­n­ung sind, hat sie nur Ver­ach­tung und wahrschein­lich uneinge­s­tande­nen Haß. Das ist nicht gewöhn­liche Eit­elkeit, denn diese Oppo­si­tion, zu der auch ich halb gehöre, bewun­dert sie gewiß nicht weniger als es die Menge tut, aber Jose­fine will nicht nur bewun­dert, son­dern genau in der von ihr bes­timmten Art bewun­dert sein, an Bewun­derung allein liegt ihr nichts. Und wenn man vor ihr sitzt, ver­ste­ht man sie; Oppo­si­tion treibt man nur in der Ferne; wenn man vor ihr sitzt, weiß man: was sie hier pfeift, ist kein Pfeifen.

Da Pfeifen zu unseren gedanken­losen Gewohn­heit­en gehört, kön­nte man meinen, daß auch in Jose­finens Audi­to­ri­um gep­fif­f­en wird; es wird uns wohl bei ihrer Kun­st und wenn uns wohl ist, pfeifen wir; aber ihr Audi­to­ri­um pfeift nicht, es ist mäuschen­still, so als wären wir des ersehn­ten Friedens teil­haftig gewor­den, von dem uns zumin­d­est unser eigenes Pfeifen abhält, schweigen wir. Ist es ihr Gesang, der uns entzückt oder nicht vielmehr die feier­liche Stille, von der das schwache Stimm­chen umgeben ist? Ein­mal geschah es, daß irgen­dein töricht­es kleines Ding während Jose­finens Gesang in aller Unschuld auch zu pfeifen anf­ing. Nun, es war ganz das­selbe, was wir auch von Jose­fine hörten; dort vorne das trotz aller Rou­tine immer noch schüchterne Pfeifen und hier im Pub­likum das selb­stvergessene kindliche Gepfeife; den Unter­schied zu beze­ich­nen, wäre unmöglich gewe­sen; aber doch zis­cht­en und pfif­f­en wir gle­ich die Störerin nieder, trotz­dem es gar nicht nötig gewe­sen wäre, denn sie hätte sich gewiß auch son­st in Angst und Scham verkrochen, während Jose­fine ihr Tri­umph­pfeifen anstimmte und ganz außer sich war mit ihren aus­ge­spreizten Armen und dem gar nicht mehr höher dehn­baren Hals.

So ist sie übri­gens immer, jede Kleinigkeit, jeden Zufall, jede Wider­spen­stigkeit, ein Knack­en im Par­kett, ein Zäh­neknirschen, eine Beleuch­tungsstörung hält sie für geeignet, die Wirkung ihres Gesanges zu erhöhen; sie singt ja ihrer Mei­n­ung nach vor tauben Ohren; an Begeis­terung und Beifall fehlt es nicht, aber auf wirk­lich­es Ver­ständ­nis, wie sie es meint, hat sie längst verzicht­en gel­ernt. Da kom­men ihr denn alle Störun­gen sehr gele­gen; alles, was sich von außen her der Rein­heit ihres Gesanges ent­ge­gen­stellt, in leichtem Kampf, ja ohne Kampf, bloß durch die Gegenüber­stel­lung besiegt wird, kann dazu beitra­gen, die Menge zu erweck­en, sie zwar nicht Ver­ständ­nis, aber ahnungsvollen Respekt zu lehren.

Wenn ihr aber nun das Kleine so dient, wie erst das Große. Unser Leben ist sehr unruhig, jed­er Tag bringt Über­raschun­gen, Beängs­ti­gun­gen, Hoff­nun­gen und Schreck­en, daß der Einzelne unmöglich dies alles ertra­gen kön­nte, hätte er nicht jed­erzeit bei Tag und Nacht den Rück­halt der Genossen; aber selb­st so wird es oft recht schw­er; manch­mal zit­tern selb­st tausend Schul­tern unter der Last, die eigentlich nur für einen bes­timmt war. Dann hält Jose­fine ihre Zeit für gekom­men. Schon ste­ht sie da, das zarte Wesen, beson­ders unter­halb der Brust beängsti­gend vib­ri­erend, es ist, als hätte sie alle ihre Kraft im Gesang ver­sam­melt, als sei allem an ihr, was nicht dem Gesange unmit­tel­bar diene, jede Kraft, fast jede Lebens­möglichkeit ent­zo­gen, als sei sie ent­blößt, preis­gegeben, nur dem Schutze guter Geis­ter über­ant­wortet, als könne sie, während sie so, sich völ­lig ent­zo­gen, im Gesange wohnt, ein kalter Hauch im Vorüber­wehn töten. Aber ger­ade bei solchem Anblick pfle­gen wir ange­blichen Geg­n­er uns zu sagen: „Sie kann nicht ein­mal pfeifen; so entset­zlich muß sie sich anstren­gen, um nicht Gesang – reden wir nicht von Gesang – aber um das lan­desübliche Pfeifen einiger­maßen sich abzuzwin­gen.“ So scheint es uns, doch ist dies, wie erwäh­nt, ein zwar unver­mei­dlich­er, aber flüchtiger, schnell vorüberge­hen­der Ein­druck. Schon tauchen auch wir in das Gefühl der Menge, die warm, Leib an Leib, scheu atmend horcht.

Und um diese Menge unseres fast immer in Bewe­gung befind­lichen, wegen oft nicht sehr klar­er Zwecke hin- und her­schießen­den Volkes um sich zu ver­sam­meln, muß Jose­fine meist nichts anderes tun, als mit zurück­gelegtem Köpfchen, hal­bof­fen­em Mund, der Höhe zuge­wandten Augen jene Stel­lung einzunehmen, die darauf hin­deutet, daß sie zu sin­gen beab­sichtigt. Sie kann dies tun, wo sie will, es muß kein wei­thin sicht­bar­er Platz sein, irgen­dein ver­bor­gen­er, in zufäl­liger Augen­blick­slaune gewählter Winkel ist eben­sogut brauch­bar. Die Nachricht, daß sie sin­gen will, ver­bre­it­et sich gle­ich, und bald zieht es in Prozes­sio­nen hin. Nun, manch­mal treten doch Hin­dernisse ein, Jose­fine singt mit Vor­liebe ger­ade in aufgeregten Zeit­en, vielfache Sor­gen und Nöte zwin­gen uns dann zu viel­er­lei Wegen, man kann sich beim besten Willen nicht so schnell ver­sam­meln, wie es Jose­fine wün­scht, und sie ste­ht dort dies­mal in ihrer großen Hal­tung vielle­icht eine Zeit lang ohne genü­gende Hör­erzahl – dann freilich wird sie wütend, dann stampft sie mit den Füßen, flucht ganz unmäd­chen­haft, ja sie beißt sog­ar. Aber selb­st ein solch­es Ver­hal­ten schadet ihrem Rufe nicht; statt ihre über­großen Ansprüche ein wenig einzudäm­men, strengt man sich an, ihnen zu entsprechen; es wer­den Boten aus­geschickt, um Hör­er her­beizu­holen; es wird vor ihr geheim gehal­ten, daß das geschieht; man sieht dann auf den Wegen im Umkreis Posten aufgestellt, die den Her­ank­om­menden zuwinken, sie möcht­en sich beeilen; dies alles so lange, bis dann schließlich doch eine lei­dliche Anzahl beisam­men ist.

Was treibt das Volk dazu, sich für Jose­fine so zu bemühen? Eine Frage, nicht leichter zu beant­worten als die nach Jose­finens Gesang, mit der sie ja auch zusam­men­hängt. Man kön­nte sie stre­ichen und gän­zlich mit der zweit­en Frage vere­ini­gen, wenn sich etwa behaupten ließe, daß das Volk wegen des Gesanges Jose­fine bedin­gungs­los ergeben ist. Dies ist aber eben nicht der Fall; bedin­gungslose Ergeben­heit ken­nt unser Volk kaum; dieses Volk, das über alles die freilich harm­lose Schlauheit liebt, das kindliche Wis­pern, den freilich unschuldigen, bloß die Lip­pen bewe­gen­den Tratsch, ein solch­es Volk kann immer­hin nicht bedin­gungs­los sich hingeben, das fühlt wohl auch Jose­fine, das ist es, was sie bekämpft mit aller Anstren­gung ihrer schwachen Kehle.

Nur darf man freilich bei solchen all­ge­meinen Urteilen nicht zu weit gehn, das Volk ist Jose­fine doch ergeben, nur nicht bedin­gungs­los. Es wäre z. B. nicht fähig, über Jose­fine zu lachen. Man kann es sich eingestehn: an Jose­fine fordert manch­es zum Lachen auf; und an und für sich ist uns das Lachen immer nah; trotz allem Jam­mer unseres Lebens ist ein leis­es Lachen bei uns gewis­ser­maßen immer zu Hause; aber über Jose­fine lachen wir nicht. Manch­mal habe ich den Ein­druck, das Volk fasse sein Ver­hält­nis zu Jose­fine der­art auf, daß sie, dieses zer­brech­liche, scho­nungs­bedürftige, irgend­wie aus­geze­ich­nete, ihrer Mei­n­ung nach durch Gesang aus­geze­ich­nete Wesen ihm anver­traut sei und es müsse für sie sor­gen; der Grund dessen ist nie­man­dem klar, nur die Tat­sache scheint festzustehn. Über das aber, was einem anver­traut ist, lacht man nicht; darüber zu lachen, wäre Pflichtver­let­zung; es ist das Äußer­ste an Boshaftigkeit, was die Boshaftesten unter uns Jose­fine zufü­gen, wenn sie manch­mal sagen: „Das Lachen verge­ht uns, wenn wir Jose­fine sehn.“

So sorgt also das Volk für Jose­fine in der Art eines Vaters, der sich eines Kindes annimmt, das sein Händ­chen – man weiß nicht recht, ob bit­tend oder fordernd – nach ihm ausstreckt. Man sollte meinen, unser Volk tauge nicht zur Erfül­lung solch­er väter­lich­er Pflicht­en, aber in Wirk­lichkeit ver­sieht es sie, wenig­stens in diesem Falle, muster­haft; kein Einzel­ner kön­nte es, was in dieser Hin­sicht das Volk als Ganzes zu tun imstande ist. Freilich, der Kraftun­ter­schied zwis­chen dem Volk und dem Einzel­nen ist so unge­heuer, es genügt, daß es den Schüt­zling in die Wärme sein­er Nähe zieht, und er ist beschützt genug. Zu Jose­fine wagt man allerd­ings von solchen Din­gen nicht zu reden. „Ich pfeife auf eueren Schutz“, sagt sie dann. „Ja, ja, du pfeif­st“, denken wir. Und außer­dem ist es wahrhaftig keine Wider­legung, wenn sie rebel­liert, vielmehr ist das dur­chaus Kinde­sart und Kindes­dankbarkeit, und Art des Vaters ist es, sich nicht daran zu kehren.

Nun spricht aber doch noch anderes mit here­in, das schw­er­er aus diesem Ver­hält­nis zwis­chen Volk und Jose­fine zu erk­lären ist. Jose­fine ist näm­lich der gegen­teili­gen Mei­n­ung, sie glaubt, sie sei es, die das Volk beschütze. Aus schlim­mer poli­tis­ch­er oder wirtschaftlich­er Lage ret­tet uns ange­blich ihr Gesang, nichts weniger als das bringt er zuwege, und wenn er das Unglück nicht vertreibt, so gibt er uns wenig­stens die Kraft, es zu ertra­gen. Sie spricht es nicht so aus und auch nicht anders, sie spricht über­haupt wenig, sie ist schweigsam unter den Plap­per­mäulern, aber aus ihren Augen blitzt es, von ihrem geschlosse­nen Mund – bei uns kön­nen nur wenige den Mund geschlossen hal­ten, sie kann es – ist es abzule­sen. Bei jed­er schlecht­en Nachricht – und an manchen Tagen über­ren­nen sie einan­der, falsche und hal­brichtige darunter – erhebt sie sich sofort, während es sie son­st müde zu Boden zieht, erhebt sich und streckt den Hals und sucht den Überblick über ihre Herde wie der Hirt vor dem Gewit­ter. Gewiß, auch Kinder stellen ähn­liche Forderun­gen in ihrer wilden, unbe­herrscht­en Art, aber bei Jose­fine sind sie doch nicht so unbe­grün­det wie bei jenen. Freilich, sie ret­tet uns nicht und gibt uns keine Kräfte, es ist leicht, sich als Ret­ter dieses Volkes aufzus­pie­len, das lei­dens­ge­wohnt, sich nicht scho­nend, schnell in Entschlüssen, den Tod wohl ken­nend, nur dem Anscheine nach ängstlich in der Atmo­sphäre von Tol­lkühn­heit, in der es ständig lebt, und überdies eben­so frucht­bar wie wage­mutig – es ist leicht, sage ich, sich nachträglich als Ret­ter dieses Volkes aufzus­pie­len, das sich noch immer irgend­wie selb­st gerettet hat, sei es auch unter Opfern, über die der Geschichts­forsch­er – im all­ge­meinen ver­nach­läs­si­gen wir Geschichts­forschung gän­zlich – vor Schreck­en erstar­rt. Und doch ist es wahr, daß wir ger­ade in Not­la­gen noch bess­er als son­st auf Jose­finens Stimme horchen. Die Dro­hun­gen, die über uns ste­hen, machen uns stiller, beschei­den­er, für Jose­finens Befehlshaberei gefügiger; gern kom­men wir zusam­men, gern drän­gen wir uns aneinan­der, beson­ders weil es bei einem Anlaß geschieht, der ganz abseits liegt von der quälen­den Haupt­sache; es ist, als tränken wir noch schnell – ja, Eile ist nötig, das vergißt Jose­fine allzuoft – gemein­sam einen Bech­er des Friedens vor dem Kampf. Es ist nicht so sehr eine Gesangsvor­führung als vielmehr eine Volksver­samm­lung, und zwar eine Ver­samm­lung, bei der es bis auf das kleine Pfeifen vorne völ­lig still ist; viel zu ernst ist die Stunde, als daß man sie ver­schwätzen wollte.

Ein solch­es Ver­hält­nis kön­nte nun freilich Jose­fine gar nicht befriedi­gen. Trotz all ihres nervösen Mißbe­ha­gens, welch­es Jose­fine wegen ihrer niemals ganz gek­lärten Stel­lung erfüllt, sieht sie doch, verblendet von ihrem Selb­st­be­wußt­sein, manch­es nicht und kann ohne große Anstren­gung dazu gebracht wer­den, noch viel mehr zu überse­hen, ein Schwarm von Schme­ich­lern ist in diesem Sinne, also eigentlich in einem all­ge­mein nüt­zlichen Sinne, immer­fort tätig, – aber nur neben­bei, unbeachtet, im Winkel ein­er Volksver­samm­lung zu sin­gen, dafür würde sie, trotz­dem es an sich gar nicht wenig wäre, ihren Gesang gewiß nicht opfern.

Aber sie muß es auch nicht, denn ihre Kun­st bleibt nicht unbeachtet. Trotz­dem wir im Grunde mit ganz anderen Din­gen beschäftigt sind und die Stille dur­chaus nicht nur dem Gesange zuliebe herrscht und manch­er gar nicht auf­schaut, son­dern das Gesicht in den Pelz des Nach­bars drückt und Jose­fine also dort oben sich verge­blich abzumühen scheint, dringt doch – das ist nicht zu leug­nen – etwas von ihrem Pfeifen unweiger­lich auch zu uns. Dieses Pfeifen, das sich erhebt, wo allen anderen Schweigen aufer­legt ist, kommt fast wie eine Botschaft des Volkes zu dem einzel­nen; das dünne Pfeifen Jose­finens mit­ten in den schw­eren Entschei­dun­gen ist fast wie die arm­selige Exis­tenz unseres Volkes mit­ten im Tumult der feindlichen Welt. Jose­fine behauptet sich, dieses Nichts an Stimme, dieses Nichts an Leis­tung behauptet sich und schafft sich den Weg zu uns, es tut wohl, daran zu denken. Einen wirk­lichen Gesangskün­stler, wenn ein­er ein­mal sich unter uns find­en sollte, wür­den wir in solch­er Zeit gewiß nicht ertra­gen und die Unsin­nigkeit ein­er solchen Vor­führung ein­mütig abweisen. Möge Jose­fine beschützt wer­den vor der Erken­nt­nis, daß die Tat­sache, daß wir ihr zuhören, ein Beweis gegen ihren Gesang ist. Eine Ahnung dessen hat sie wohl, warum würde sie son­st so lei­den­schaftlich leug­nen, daß wir ihr zuhören, aber immer wieder singt sie, pfeift sie sich über diese Ahnung hin­weg.

Aber es gäbe auch son­st noch immer einen Trost für sie: wir hören ihr doch auch gewis­ser­maßen wirk­lich zu, wahrschein­lich ähn­lich, wie man einem Gesangskün­stler zuhört; sie erre­icht Wirkun­gen, die ein Gesangskün­stler verge­blich bei uns anstreben würde und die nur ger­ade ihren unzure­ichen­den Mit­teln ver­liehen sind. Dies hängt wohl haupt­säch­lich mit unser­er Lebensweise zusam­men.

In unserem Volke ken­nt man keine Jugend, kaum eine winzige Kinderzeit. Es treten zwar regelmäßig Forderun­gen auf, man möge den Kindern eine beson­dere Frei­heit, eine beson­dere Scho­nung gewährleis­ten, ihr Recht auf ein wenig Sor­glosigkeit, ein wenig sinnlos­es Sich­herum­tum­meln, auf ein wenig Spiel, dieses Recht möge man anerken­nen und ihm zur Erfül­lung ver­helfen; solche Forderun­gen treten auf und fast jed­er­mann bil­ligt sie, es gibt nichts, was mehr zu bil­li­gen wäre, aber es gibt auch nichts, was in der Wirk­lichkeit unseres Lebens weniger zuge­s­tanden wer­den kön­nte, man bil­ligt die Forderun­gen, man macht Ver­suche in ihrem Sinn, aber bald ist wieder alles beim Alten. Unser Leben ist eben der­art, daß ein Kind, sobald es nur ein wenig läuft und die Umwelt ein wenig unter­schei­den kann, eben­so für sich sor­gen muß wie ein Erwach­sen­er; die Gebi­ete, auf denen wir aus wirtschaftlichen Rück­sicht­en zer­streut leben müssen, sind zu groß, unser­er Feinde sind zu viele, die uns über­all bere­it­eten Gefahren zu unberechen­bar – wir kön­nen die Kinder vom Exis­ten­zkampfe nicht fern­hal­ten, täten wir es, es wäre ihr vorzeit­iges Ende. Zu diesen trau­ri­gen Grün­den kommt freilich auch ein erheben­der: die Frucht­barkeit unseres Stammes. Eine Gen­er­a­tion – und jede ist zahlre­ich – drängt die andere, die Kinder haben nicht Zeit, Kinder zu sein. Mögen bei anderen Völk­ern die Kinder sorgfältig gepflegt wer­den, mögen dort Schulen für die Kleinen errichtet sein, mögen dort aus diesen Schulen täglich die Kinder strö­men, die Zukun­ft des Volkes, so sind es doch immer lange Zeit Tag für Tag die gle­ichen Kinder, die dort her­vorkom­men. Wir haben keine Schulen, aber aus unserem Volke strö­men in allerkürzesten Zwis­chen­räu­men die unüberse­hbaren Scharen unser­er Kinder, fröh­lich zis­chend oder piepsend, solange sie noch nicht pfeifen kön­nen, sich wälzend oder kraft des Druck­es weit­er­rol­lend, solange sie noch nicht laufen kön­nen, täp­pisch durch ihre Masse alles mit sich fortreißend, solange sie noch nicht sehen kön­nen, unsere Kinder! Und nicht wie in jenen Schulen die gle­ichen Kinder, nein, immer, immer wieder neue, ohne Ende, ohne Unter­brechung, kaum erscheint ein Kind, ist es nicht mehr Kind, aber schon drän­gen hin­ter ihm die neuen Kinder­gesichter unun­ter­schei­d­bar in ihrer Menge und Eile, rosig vor Glück. Freilich, wie schön dies auch sein mag und wie sehr uns andere darum auch mit Recht benei­den mögen, eine wirk­liche Kinderzeit kön­nen wir eben unseren Kindern nicht geben. Und das hat seine Fol­gewirkun­gen. Eine gewisse uner­stor­bene, unaus­rot­tbare Kindlichkeit durch­dringt unser Volk; im ger­aden Wider­spruch zu unserem Besten, dem untrüglichen prak­tis­chen Ver­stande, han­deln wir manch­mal ganz und gar töricht, und zwar eben in der Art, wie Kinder töricht han­deln, sinn­los, ver­schwen­derisch, großzügig, leichtsin­nig und dies alles oft einem kleinen Spaß zuliebe. Und wenn unsere Freude darüber natür­lich nicht mehr die volle Kraft der Kinder­freude haben kann, etwas von dieser lebt darin noch gewiß. Von dieser Kindlichkeit unseres Volkes prof­i­tiert seit jeher auch Jose­fine.

Aber unser Volk ist nicht nur kindlich, es ist gewis­ser­maßen auch vorzeit­ig alt, Kind­heit und Alter machen sich bei uns anders als bei anderen. Wir haben keine Jugend, wir sind gle­ich Erwach­sene, und Erwach­sene sind wir dann zu lange, eine gewisse Müdigkeit und Hoff­nungslosigkeit durchzieht von da aus mit bre­it­er Spur das im ganzen doch so zähe und hoff­nungsstarke Wesen unseres Volkes. Damit hängt wohl auch unsere Unmusikalität zusam­men; wir sind zu alt für Musik, ihre Erre­gung, ihr Auf­schwung paßt nicht für unsere Schwere, müde winken wir ihr ab; wir haben uns auf das Pfeifen zurück­ge­zo­gen; ein wenig Pfeifen hie und da, das ist das Richtige für uns. Wer weiß, ob es nicht Musik­tal­ente unter uns gibt; wenn es sie aber gäbe, der Charak­ter der Volksgenossen müßte sie noch vor ihrer Ent­fal­tung unter­drück­en. Dage­gen mag Jose­fine nach ihrem Belieben pfeifen oder sin­gen oder wie sie es nen­nen will, das stört uns nicht, das entspricht uns, das kön­nen wir wohl ver­tra­gen; wenn darin etwas von Musik enthal­ten sein sollte, so ist es auf die möglich­ste Nichtigkeit reduziert; eine gewisse Musik­tra­di­tion wird gewahrt, aber ohne daß uns dies im ger­ing­sten beschw­eren würde.

Aber Jose­fine bringt diesem so ges­timmten Volke noch mehr. Bei ihren Konz­erten, beson­ders in ern­ster Zeit, haben nur noch die ganz Jun­gen Inter­esse an der Sän­gerin als solch­er, nur sie sehen mit Staunen zu, wie sie ihre Lip­pen kräuselt, zwis­chen den niedlichen Vorderzäh­nen die Luft ausstößt, in Bewun­derung der Töne, die sie selb­st her­vor­bringt, erstirbt und dieses Hinsinken benützt, um sich zu neuer, ihr immer unver­ständlich­er wer­den­der Leis­tung anzufeuern, aber die eigentliche Menge hat sich – das ist deut­lich zu erken­nen – auf sich selb­st zurück­ge­zo­gen. Hier in den dürfti­gen Pausen zwis­chen den Kämpfen träumt das Volk, es ist, als lösten sich dem Einzel­nen die Glieder, als dürfte sich der Ruh­elose ein­mal nach sein­er Lust im großen war­men Bett des Volkes dehnen und streck­en. Und in diese Träume klingt hie und da Jose­finens Pfeifen; sie nen­nt es per­lend, wir nen­nen es stoßend; aber jeden­falls ist es hier an seinem Platze, wie nir­gends son­st, wie Musik kaum jemals den auf sie wartenden Augen­blick find­et. Etwas von der armen kurzen Kind­heit ist darin, etwas von ver­loren­em, nie wieder aufzufind­en­dem Glück, aber auch etwas vom täti­gen heuti­gen Leben ist darin, von sein­er kleinen, unbe­grei­flichen und den­noch beste­hen­den und nicht zu ertö­ten­den Munterkeit. Und dies alles ist wahrhaftig nicht mit großen Tönen gesagt, son­dern leicht, flüsternd, ver­traulich, manch­mal ein wenig heis­er. Natür­lich ist es ein Pfeifen. Wie denn nicht? Pfeifen ist die Sprache unseres Volkes, nur pfeift manch­er sein Leben lang und weiß es nicht, hier aber ist das Pfeifen freigemacht von den Fes­seln des täglichen Lebens und befre­it auch uns für eine kurze Weile. Gewiß, diese Vor­führun­gen woll­ten wir nicht mis­sen.

Aber von da bis zu Jose­finens Behaup­tung, sie gebe uns in solchen Zeit­en neue Kräfte usw. usw., ist noch ein sehr weit­er Weg. Für gewöhn­liche Leute allerd­ings, nicht für Jose­finens Schme­ich­ler. „Wie kön­nte es anders sein“ – sagen sie in recht unbe­fan­gener Keck­heit – „wie kön­nte man anders den großen Zulauf, beson­ders unter unmit­tel­bar drän­gen­der Gefahr, erk­lären, der schon manch­mal sog­ar die genü­gende, rechtzeit­ige Abwehr eben dieser Gefahr ver­hin­dert hat.“ Nun, dies let­ztere ist lei­der richtig, gehört aber doch nicht zu den Ruh­mestiteln Jose­finens, beson­ders wenn man hinzufügt, daß, wenn solche Ver­samm­lun­gen uner­wartet vom Feind gesprengt wur­den, und manch­er der unseri­gen dabei sein Leben lassen mußte, Jose­fine, die alles ver­schuldet, ja, durch ihr Pfeifen den Feind vielle­icht ange­lockt hat­te, immer im Besitz des sich­er­sten Plätzchens war und unter dem Schutze ihres Anhanges sehr still und eiligst als erste ver­schwand. Aber auch dieses wis­sen im Grunde alle, und den­noch eilen sie wieder hin, wenn Jose­fine näch­stens nach ihrem Belieben irgend­wo, irgend­wann zum Gesange sich erhebt. Daraus kön­nte man schließen, daß Jose­fine fast außer­halb des Geset­zes ste­ht, daß sie tun darf, was sie will, selb­st wenn es die Gesamtheit gefährdet, und daß ihr alles verziehen wird. Wenn dies so wäre, dann wären auch Jose­finens Ansprüche völ­lig ver­ständlich, ja, man kön­nte gewis­ser­maßen in dieser Frei­heit, die ihr das Volk geben würde, in diesem außeror­dentlichen, nie­mand son­st gewährten, die Geset­ze eigentlich wider­legen­den Geschenk ein Eingeständ­nis dessen sehen, daß das Volk Jose­fine, wie sie es behauptet, nicht ver­ste­ht, ohn­mächtig ihre Kun­st anstaunt, sich ihrer nicht würdig fühlt, dieses Leid, daß es Jose­fine tut, durch eine ger­adezu verzweifelte Leis­tung auszu­gle­ichen strebt und, so wie ihre Kun­st außer­halb seines Fas­sungsver­mö­gens ist, auch ihre Per­son und deren Wün­sche außer­halb sein­er Befehls­ge­walt stellt. Nun, das ist allerd­ings ganz und gar nicht richtig, vielle­icht kapit­uliert im einzel­nen das Volk zu schnell vor Jose­fine, aber wie es bedin­gungs­los vor nie­man­dem kapit­uliert, also auch nicht vor ihr.

Schon seit langer Zeit, vielle­icht schon seit Beginn ihrer Kün­stler­lauf­bahn, kämpft Jose­fine darum, daß sie mit Rück­sicht auf ihren Gesang von jed­er Arbeit befre­it werde; man solle ihr also die Sorge um das tägliche Brot und alles, was son­st mit unserem Exis­ten­zkampf ver­bun­den ist, abnehmen und es – wahrschein­lich – auf das Volk als Ganzes über­wälzen. Ein schnell Begeis­tert­er – es fan­den sich auch solche - kön­nte schon allein aus der Son­der­barkeit dieser Forderung, aus der Geis­tesver­fas­sung, die eine solche Forderung auszu­denken imstande ist, auf deren innere Berech­ti­gung schließen. Unser Volk zieht aber andere Schlüsse, und lehnt ruhig die Forderung ab. Es müht sich auch mit der Wider­legung der Gesuchs­be­grün­dung nicht sehr ab. Jose­fine weist z. B. darauf hin, daß die Anstren­gung bei der Arbeit ihrer Stimme schade, daß zwar die Anstren­gung bei der Arbeit ger­ing sei im Ver­gle­ich zu jen­er beim Gesang, daß sie ihr aber doch die Möglichkeit nehme, nach dem Gesang sich genü­gend auszu­ruhen und für neuen Gesang sich zu stärken, sie müsse sich dabei gän­zlich erschöpfen und könne trotz­dem unter diesen Umstän­den ihre Höch­stleis­tung niemals erre­ichen. Das Volk hört sie an und geht darüber hin­weg. Dieses so leicht zu rührende Volk ist manch­mal gar nicht zu rühren. Die Abweisung ist manch­mal so hart, daß selb­st Jose­fine stutzt, sie scheint sich zu fügen, arbeit­et wie sichs gehört, singt so gut sie kann, aber das alles nur eine Weile, dann nimmt sie den Kampf mit neuen Kräften – dafür scheint sie unbeschränkt viele zu haben – wieder auf.

Nun ist es ja klar, daß Jose­fine nicht eigentlich das anstrebt, was sie wörtlich ver­langt. Sie ist vernün­ftig, sie scheut die Arbeit nicht, wie ja Arbeitss­cheu über­haupt bei uns unbekan­nt ist, sie würde auch nach Bewil­li­gung ihrer Forderung gewiß nicht anders leben als früher, die Arbeit würde ihrem Gesang gar nicht im Wege stehn, und der Gesang allerd­ings würde auch nicht schön­er wer­den – was sie anstrebt, ist also nur die öffentliche, ein­deutige, die Zeit­en über­dauernde, über alles bish­er Bekan­nte sich weit erhebende Anerken­nung ihrer Kun­st. Während ihr aber fast alles andere erre­ich­bar scheint, ver­sagt sich ihr dieses hart­näck­ig. Vielle­icht hätte sie den Angriff gle­ich anfangs in andere Rich­tung lenken sollen, vielle­icht sieht sie jet­zt selb­st den Fehler ein, aber nun kann sie nicht mehr zurück, ein Zurück­ge­hen hieße sich selb­st untreu wer­den, nun muß sie schon mit dieser Forderung ste­hen oder fall­en.

Hätte sie wirk­lich Feinde, wie sie sagt, sie kön­nten diesem Kampfe, ohne selb­st den Fin­ger rühren zu müssen, belustigt zuse­hen. Aber sie hat keine Feinde, und selb­st wenn manch­er hie und da Ein­wände gegen sie hat, dieser Kampf belustigt nie­man­den. Schon deshalb nicht, weil sich hier das Volk in sein­er kalten richter­lichen Hal­tung zeigt, wie man es son­st bei uns nur sehr sel­ten sieht. Und wenn ein­er auch diese Hal­tung in diesem Falle bil­li­gen mag, so schließt doch die bloße Vorstel­lung, daß sich ein­mal das Volk ähn­lich gegen ihn selb­st ver­hal­ten kön­nte, jede Freude aus. Es han­delt sich eben auch bei der Abweisung, ähn­lich wie bei der Forderung, nicht um die Sache selb­st, son­dern darum, daß sich das Volk gegen einen Volksgenossen der­art undurch­dringlich abschließen kann und um so undurch­dringlich­er, als es son­st für eben diesen Genossen väter­lich und mehr als väter­lich, demütig sorgt.

Stünde hier an Stelle des Volkes ein Einzel­ner: man kön­nte glauben, dieser Mann habe die ganze Zeit über Jose­fine nachgegeben unter dem fortwähren­den bren­nen­den Ver­lan­gen endlich der Nachgiebigkeit ein Ende zu machen; er habe über­men­schlich viel nachgegeben im fes­ten Glauben, daß das Nachgeben trotz­dem seine richtige Gren­ze find­en werde; ja, er habe mehr nachgegeben als nötig war, nur um die Sache zu beschle­u­ni­gen, nur, um Jose­fine zu ver­wöh­nen und zu immer neuen Wün­schen zu treiben, bis sie dann wirk­lich diese let­zte Forderung erhob; da habe er nun freilich, kurz, weil längst vor­bere­it­et, die endgültige Abweisung vorgenom­men. Nun, so ver­hält es sich ganz gewiß nicht, das Volk braucht solche Lis­ten nicht, außer­dem ist seine Verehrung für Jose­fine aufrichtig und erprobt und Jose­finens Forderung ist allerd­ings so stark, daß jedes unbe­fan­gene Kind ihr den Aus­gang hätte voraus­sagen kön­nen; trotz­dem mag es sein, daß in der Auf­fas­sung, die Jose­fine von der Sache hat, auch solche Ver­mu­tun­gen mit­spie­len und dem Schmerz der Abgewiese­nen eine Bit­ter­nis hinzufü­gen.

Aber mag sie auch solche Ver­mu­tun­gen haben, vom Kampf abschreck­en läßt sie sich dadurch nicht. In let­zter Zeit ver­schärft sich sog­ar der Kampf; hat sie ihn bish­er nur durch Worte geführt, fängt sie jet­zt an, andere Mit­tel anzuwen­den, die ihrer Mei­n­ung nach wirk­samer, unser­er Mei­n­ung nach für sie selb­st gefährlich­er sind.

Manche glauben, Jose­fine werde deshalb so dringlich, weil sie sich alt wer­den füh­le, die Stimme Schwächen zeige, und es ihr daher höch­ste Zeit zu sein scheine, den let­zten Kampf um ihre Anerken­nung zu führen. Ich glaube daran nicht. Jose­fine wäre nicht Jose­fine, wenn dies wahr wäre. Für sie gibt es kein Altern und keine Schwächen ihrer Stimme. Wenn sie etwas fordert, so wird sie nicht durch äußere Dinge, son­dern durch innere Fol­gerichtigkeit dazu gebracht. Sie greift nach dem höch­sten Kranz, nicht, weil er im Augen­blick ger­ade ein wenig tiefer hängt, son­dern weil es der höch­ste ist; wäre es in ihrer Macht, sie würde ihn noch höher hän­gen.

Diese Mißach­tung äußer­er Schwierigkeit­en hin­dert sie allerd­ings nicht, die unwürdig­sten Mit­tel anzuwen­den. Ihr Recht ste­ht ihr außer Zweifel; was liegt also daran, wie sie es erre­icht; beson­ders da doch in dieser Welt, so wie sie sich ihr darstellt, ger­ade die würdi­gen Mit­tel ver­sagen müssen. Vielle­icht hat sie sog­ar deshalb den Kampf um ihr Recht aus dem Gebi­et des Gesanges auf ein anderes ihr wenig teures ver­legt. Ihr Anhang hat Aussprüche von ihr in Umlauf gebracht, nach denen sie sich dur­chaus fähig fühlt, so zu sin­gen, daß es dem Volk in allen seinen Schicht­en bis in die ver­steck­teste Oppo­si­tion hinein eine wirk­liche Lust wäre, wirk­liche Lust nicht im Sinne des Volkes, welch­es ja behauptet, diese Lust seit jeher bei Jose­finens Gesang zu fühlen, son­dern Lust im Sinne von Jose­finens Ver­lan­gen. Aber, fügt sie hinzu, da sie das Hohe nicht fälschen und dem Gemeinen nicht schme­icheln könne, müsse es eben bleiben, wie es sei. Anders aber ist es bei ihrem Kampf um die Arbeits­be­freiung, zwar ist es auch ein Kampf um ihren Gesang, aber hier kämpft sie nicht unmit­tel­bar mit der kost­baren Waffe des Gesanges, jedes Mit­tel, das sie anwen­det, ist daher gut genug.

So wurde z. B. das Gerücht ver­bre­it­et, Jose­fine beab­sichtige, wenn man ihr nicht nachgebe, die Koloraturen zu kürzen. Ich weiß nichts von Koloraturen, habe in ihrem Gesange niemals etwas von Koloraturen bemerkt. Jose­fine aber will die Koloraturen kürzen, vor­läu­fig nicht beseit­i­gen, son­dern nur kürzen. Sie hat ange­blich ihre Dro­hung wahr gemacht, mir allerd­ings ist kein Unter­schied gegenüber ihren früheren Vor­führun­gen aufge­fall­en. Das Volk als Ganzes hat zuge­hört wie immer, ohne sich über die Koloraturen zu äußern, und auch die Behand­lung von Jose­finens Forderung hat sich nicht geän­dert. Übri­gens hat Jose­fine, wie in ihrer Gestalt, unleug­bar auch in ihrem Denken manch­mal etwas recht Graz­iös­es. So hat sie z. B. nach jen­er Vor­führung, so als sei ihr Entschluß hin­sichtlich der Koloraturen gegenüber dem Volk zu hart oder zu plöt­zlich gewe­sen, erk­lärt, näch­stens werde sie die Koloraturen doch wieder voll­ständig sin­gen. Aber nach dem näch­sten Konz­ert besann sie sich wieder anders, nun sei es endgültig zu Ende mit den großen Koloraturen, und vor ein­er für Jose­fine gün­sti­gen Entschei­dung kämen sie nicht wieder. Nun, das Volk hört über alle diese Erk­lärun­gen, Entschlüsse und Entschlußän­derun­gen hin­weg, wie ein Erwach­sen­er in Gedanken über das Plaud­ern eines Kindes hin­weghört, grund­sät­zlich wohlwol­lend, aber unerr­e­ich­bar.

Jose­fine aber gibt nicht nach. So behauptete sie z. B. neulich, sie habe sich bei der Arbeit eine Fußver­let­zung zuge­zo­gen, die ihr das Ste­hen während des Gesanges beschw­er­lich mache; da sie aber nur ste­hend sin­gen könne, müsse sie jet­zt sog­ar die Gesänge kürzen. Trotz­dem sie hinkt und sich von ihrem Anhang stützen läßt, glaubt nie­mand an eine wirk­liche Ver­let­zung. Selb­st die beson­dere Empfind­lichkeit ihres Kör­perchens zugegeben, sind wir doch ein Arbeitsvolk und auch Jose­fine gehört zu ihm; wenn wir aber wegen jed­er Hautab­schür­fung hinken woll­ten, dürfte das ganze Volk mit Hinken gar nicht aufhören. Aber mag sie sich wie eine Lahme führen lassen, mag sie sich in diesem bedauern­swerten Zus­tand öfters zeigen als son­st, das Volk hört ihren Gesang dankbar und entzückt wie früher, aber wegen der Kürzung macht es nicht viel Aufhebens.

Da sie nicht immer­fort hinken kann, erfind­et sie etwas anderes, sie schützt Müdigkeit vor, Mißs­tim­mung, Schwäche. Wir haben nun außer dem Konz­ert auch ein Schaus­piel. Wir sehen hin­ter Jose­fine ihren Anhang, wie er sie bit­tet und beschwört zu sin­gen. Sie wollte gern, aber sie kann nicht. Man tröstet sie, umschme­ichelt sie, trägt sie fast auf den schon vorher aus­ge­sucht­en Platz, wo sie sin­gen soll. Endlich gibt sie mit undeut­baren Trä­nen nach, aber wie sie mit offen­bar let­ztem Willen zu sin­gen anfan­gen will, matt, die Arme nicht wie son­st aus­ge­bre­it­et, son­dern am Kör­p­er leb­los herun­ter­hän­gend, wobei man den Ein­druck erhält, daß sie vielle­icht ein wenig zu kurz sind – wie sie so anstim­men will, nun, da geht es doch wieder nicht, ein unwilliger Ruck des Kopfes zeigt es an und sie sinkt vor unseren Augen zusam­men. Dann allerd­ings rafft sie sich doch wieder auf und singt, ich glaube, nicht viel anders als son­st, vielle­icht wenn man für fein­ste Nuan­cen das Ohr hat, hört man ein wenig außergewöhn­liche Erre­gung her­aus, die der Sache aber nur zugute kommt. Und am Ende ist sie sog­ar weniger müde als vorher, mit fes­tem Gang, soweit man ihr huschen­des Trip­peln so nen­nen kann, ent­fer­nt sie sich, jede Hil­fe des Anhangs ablehnend und mit kalten Blick­en die ihr ehrfurchtsvoll auswe­ichende Menge prüfend.

So war es let­zthin, das Neueste aber ist, daß sie zu ein­er Zeit, wo ihr Gesang erwartet wurde, ver­schwun­den war. Nicht nur der Anhang sucht sie, viele stellen sich in den Dienst des Suchens, es ist verge­blich; Jose­fine ist ver­schwun­den, sie will nicht sin­gen, sie will nicht ein­mal darum gebeten wer­den, sie hat uns dies­mal völ­lig ver­lassen.

Son­der­bar, wie falsch sie rech­net, die Kluge, so falsch, daß man glauben sollte, sie rechne gar nicht, son­dern werde nur weit­er getrieben von ihrem Schick­sal, das in unser­er Welt nur ein sehr trau­riges wer­den kann. Selb­st entzieht sie sich dem Gesang, selb­st zer­stört sie die Macht, die sie über die Gemüter erwor­ben hat. Wie kon­nte sie nur diese Macht erwer­ben, da sie diese Gemüter so wenig ken­nt. Sie ver­steckt sich und singt nicht, aber das Volk, ruhig, ohne sicht­bare Ent­täuschung, her­risch, eine in sich ruhende Masse, die förm­lich, auch wenn der Anschein dage­gen spricht, Geschenke nur geben, niemals emp­fan­gen kann, auch von Jose­fine nicht, dieses Volk zieht weit­er seines Weges.

Mit Jose­fine aber muß es abwärts gehn. Bald wird die Zeit kom­men, wo ihr let­zter Pfiff ertönt und ver­s­tummt. Sie ist eine kleine Episode in der ewigen Geschichte unseres Volkes und das Volk wird den Ver­lust über­winden. Leicht wird es uns ja nicht wer­den; wie wer­den die Ver­samm­lun­gen in völ­liger Stummheit möglich sein? Freilich, waren sie nicht auch mit Jose­fine stumm? War ihr wirk­lich­es Pfeifen nen­nenswert lauter und lebendi­ger, als die Erin­nerung daran sein wird? War es denn noch bei ihren Lebzeit­en mehr als eine bloße Erin­nerung? Hat nicht vielmehr das Volk in sein­er Weisheit Jose­finens Gesang, eben deshalb, weil er in dieser Art unver­lier­bar war, so hoch gestellt?

Vielle­icht wer­den wir also gar nicht sehr viel ent­behren, Jose­fine aber, erlöst von der irdis­chen Plage, die aber ihrer Mei­n­ung nach Auser­wählten bere­it­et ist, wird fröh­lich sich ver­lieren in der zahllosen Menge der Helden unseres Volkes, und bald, da wir keine Geschichte treiben, in gesteigert­er Erlö­sung vergessen sein wie alle ihre Brüder.