Homeschooling

Von

Ein Minus auf die Revi­sion. Gle­ich auf die erste. Sie hat­ten zwei Tage geübt. Die Mut­ter war zuver­sichtlich gewe­sen. Nun holte sie sich einen bluti­gen Kopf, einen Herz­in­farkt, einen Magen­durch­bruch. Sie lag am Boden, obwohl sie auf einem Ses­sel saß.
Sie musste in die Sprech­stunde. Vielle­icht kon­nte sie dort noch etwas ret­ten. Und er saß ihr gegenüber, nett und fett, fre­undlich und über­legen. Sie lächelte ergeben, ver­steck­te den Hass hin­ter der grin­senden Maske. Er dik­tierte Schweigen, stun­den­langes Schweigen. Er schlug das Heft auf, blät­terte, stun­den­lang, auch wenn es auf der Uhr nur Minuten waren. Der hal­lende Gang war ihr Besprechungsz­im­mer. Ein hoher Raum. Der Gerichtssaal für gepeinigte Eltern, sie mussten öffentlich auf dem Gang für alle sicht­bar und hör­bar ihren Urteilsspruch erleben. „Eine schwache Schü­lerin.“ Er sprach in Zeitlupe, er nick­te in Zeitlupe, die dicht­en Haare fie­len ihm wie eine Kapuze in die Stirn.
„Eine sehr schwache Schü­lerin“, blub­berte es aus seinem Fis­chmaul. Sie lächelte. Eisig, und mit an den Zäh­nen fest­ge­frore­nen Lip­pen, ihre Fin­ger waren sein­er Gurgel ganz nah. Sie musste ihre Hand­flächen unter das Gesäß schieben, son­st hätte sie zuge­drückt. Aber drück­te man einem Fisch die Gurgel zu? Erschlug man ihn nicht eher mit einem Fis­chbeil? Kalte Augen, nach unten gestülpter Mund. Am ehesten ein fet­ter Karpfen, dachte sie. Ein fet­ter Karpfen, der alle fraß, die nicht schnell genug waren. Frie­da war nicht schnell genug, nicht gewandt genug, nicht extro­vertiert genug. Er redete von ein­er neuer­lichen Mis­ser­fol­gser­wartung im Zweit­sprach­en­er­werb, wenn sich nicht schnell etwas ändere. Für ihn zählte es nicht, was sie son­st noch kon­nte. Er nahm Friedas soziale Kom­pe­tenz nicht wahr, wenn sie sich für die Fre­undin ein­set­zte, weil sie von den Buben gehänselt wurde. Es zählte auch nicht das Ein­füh­lungsver­mö­gen Friedas, wenn sie in der Mit­tagspause auf ein Mäd­chen aufmerk­sam wurde. Es ernährte sich auss­chließlich von Süßigkeit­en, weil es nicht genü­gend Geld für ein warmes Mit­tagessen von zu Hause bekam. Es zählte nur die kor­rek­te „Ing-Form“ in Englisch, deren richtige Anwen­dung die Mut­ter sel­ber nie kapiert hat­te, es zählte die Ver­wen­dung des Wortes „got“ bei Kopf­schmerzen, die man plöt­zlich hat, genau­so wie beim Zuwachs der Münzsamm­lung, aber keines­falls für die Tante, die in Ameri­ka lebt. Weiß der Him­mel wieso, sie wusste es nicht, ihre Fre­unde und Bekan­nten wussten es nicht und im Gram­matik­buch ihrer Tochter kon­nte sie auch keine Regel dafür find­en.
Frie­da spürte die Ent­täuschung der Mut­ter schon am Tele­fon. „Bist du mir böse“, fragte sie klein­laut. Nein, böse war ihr die Mut­ter nicht. Frie­da kon­nte nichts dafür, dass sie nicht bess­er war, sie kon­nte nichts dafür, dass sie ihrer Mut­ter keine schulis­chen Ehren ein­brachte, sie kon­nte nichts dafür, dass die Lehrer von der klu­gen Tochter nicht auf die kluge Mut­ter schließen kon­nten. Sie war ihr nicht böse, sie war nur wieder ein­mal schreck­lich ent­täuscht.

Dabei war ihr die Spezies der Gym­nasiallehrer nicht mehr aufge­fall­en. Nach Absolvierung ihrer eige­nen Schulzeit waren sie aus ihrem Leben ver­schwun­den, aus­gestor­ben oder abge­taucht, ein­sam und unbeachtet von der Gesellschaft. Sie meinte, Eltern und Eltern­vertreter bes­timmten den Schu­lall­t­ag, Lehrer wären dafür da, Wün­sche von Eltern und Schülern ger­adewegs umzuset­zen. Sie hat­te sich geir­rt. Nichts war anders gewor­den. Alles an der Schule war wie damals. Der gle­iche Stoff, die gle­iche Langeweile. Lehrerliebchen und Sargnägel. Furcht und Schreck­ensver­bre­it­erei bei den Eltern.

Endlich Erfolg. Erfolg. Erfolg. Erfolg. Beim Deutschlehrer. Ihm hat­te Friedas Auf­satz gefall­en. Frie­da durfte vor­lesen. Es war höch­ste Zeit gewe­sen, man musste ihm etwas bieten. Eine Charak­terbeschrei­bung der Mut­ter.
„Du musst meine schlecht­en Eigen­schaften her­ausar­beit­en, son­st wird es niemals gut“, hat­te sie zu Frie­da gesagt. „Das Gute will nie­mand lesen. Das Gute ist lang­weilig, nur das Schlechte macht die Span­nung aus!“
Frie­da sollte einen Auf­satz über ihre Schife­rien schreiben. Frie­da fragte die Mut­ter: Wer fährt bess­er Schi. Ich oder Marie?“ Die Mut­ter sagte, dass ihre Fre­undin etwas bess­er auf den Schiern sei. Das hat­te genügt. Frie­da redete kein Wort mehr mit ihr. Nun fragte Frie­da ihren Vater, wer denn die bessere Schi­fahrerin sei. Der Vater war immer blind für die Män­gel sein­er Tochter und sagte, dass sie bess­er fahre. Das hat­te genügt für einen wüten­den Text über die Mut­ter: „Meine Mama behauptet, dass meine Fre­undin bess­er Schi fährt als ich. Was natür­lich nicht stimmt. Mein Vater hinge­gen sagt, dass ich bess­er fahre, was natür­lich richtig ist. Meine Mut­ter behauptet immer, dass alle anderen immer alles bess­er kön­nten als ich. Und immer hat sie etwas an mir auszuset­zen. Und immer find­et sie an den anderen Kindern alles toll, während mein Vater fast alles toll find­et, was ich tue...“
Frie­da las es der Mut­ter vor und schaute, wie sie reagiere.
„Wun­der­bar“, rief die Mut­ter, als Frie­da schon dabei war, das Blatt aus dem Heft zu fet­zen. Sie hielt mit dem Reißen inne.
„Du bist nicht belei­digt?“, fragte Frie­da.
„Doch“, sagte die Mut­ter, „belei­digt bin ich schon. Aber es ist trotz­dem gut. Es ist das Beste, das du je geschrieben hast. Weit­er“, trieb die Mut­ter Frie­da an, „schreib weit­er so, du wirst sehen, das kann ein guter Text wer­den!“
„Du meinst, das geht? Darf man so über seine Mut­ter schreiben?“
„Wenn man einen guten Text möchte, muss man so über seine Mut­ter schreiben“, sagte die Mut­ter.
„Aber du bist belei­digt!“
Die Mut­ter zuck­te mit den Schul­tern. „Du musst entschei­den, ob du es ertra­gen kannst, wenn du dafür eine gute Arbeit schreib­st!“
Frie­da hat­te schnell entsch­ieden und schrieb weit­er. Nach ein­er hal­ben Stunde sagte sie: „Mama, ich glaube, jet­zt habe ich einen wirk­lich guten Text!“

Später erzählte Frie­da der Mut­ter von der Reak­tion des Deutschlehrers. Er habe beim Lesen laut auflachen müssen. Und er wollte von Frie­da wis­sen: „Ist deine Mut­ter wirk­lich so?“
„Und was hast du geant­wortet?“, wollte die Mut­ter wis­sen.
„Sie ist noch viel schlim­mer“, sagte Frie­da.

Wie viel sie doch gel­ernt hat­ten. Sog­ar auf den Schi­urlaub hat­ten sie die Englis­chbüch­er mitgenom­men. Die Mut­ter war erstaunt, was Frie­da noch alles kon­nte. Wie viel sie sich von den einzel­nen Lek­tio­nen gemerkt hat­te. Sie selb­st hat­te das alles längst vergessen. Es fehlten nur Kleinigkeit­en. Hier ein „s“ in der drit­ten Per­son, dort ein „ing“, es war ein „don’t“ zu viel, wenn „got“ bei einem „have“ stand, aber son­st gab es kaum etwas auszuset­zen. In aller Früh weck­te Frie­da die Mut­ter und bat, sie möge noch ein­mal den Stoff mit ihr durchge­hen.
„Entschuldige Mami“, sagte sie, „dass ich dich schon in aller Früh belästige!“
Die Mut­ter strich ihr zärtlich über das Haar: „Dafür bin ich doch da, mein Schatz!“ Und Frie­da umarmte sie und sagte: „Danke, Mami!“
Als Frie­da weg­ging, war sie fröh­lich, und die Mut­ter war zuver­sichtlich.

Sie lauerte am Tele­fon. Beim ersten Läuten griff sie danach. Sie wollte dur­chat­men, bevor sie etwas sagte. Aber es schoss aus ihr her­aus: „Was ist passiert?“
„Mama? Bist du mir böse?“
Die Mut­ter atmete tief durch, nahm sich zurück. „Nein, ich bin dir nicht böse!“
„Danke Mami!“
Sie set­zte sich erst nach dem Tele­fonat hin und schmollte. Warum war nichts Besseres möglich als ein Vier­er? Frie­da hat­te sich doch sosehr einen Einser gewün­scht. Sie hat­te dafür gel­ernt, mehr, als die Mut­ter je für irgen­det­was gel­ernt hat­te. Warum kon­nte Frie­da nicht mit Fleiß und Ehrgeiz erre­ichen, was ihr durch fehlen­des Tal­ent ver­wehrt war?
Der Mut­ter fiel das Exper­i­ment mit den Rat­ten ein, die immer einen Strom­schlag bekom­men hat­ten, wenn sie an ihren Fut­ter­platz gin­gen. Irgend­wann bewegten sie sich nicht mehr von der Stelle, egal, wie man sie zu motivieren ver­suchte, und selb­st wenn man das Fut­ter neben sie stellte, fan­den sie den Weg nicht. Erst als man sie am Genick pack­te und vor das Fut­ter set­zte, waren sie wieder in der Lage zu fressen. „Die erlernte Hil­flosigkeit“, heißt das in der Sprache der Psy­cholo­gen.

Sie übten für die Revi­sion und wur­den müde. Frie­da hat­te am Nach­mit­tag zwei Stun­den Förderun­ter­richt in Englisch und danach zwei Stun­den Spanisch. Und dann noch Vor­bere­itung für die Revi­sion. Kom­plizierte Wörter wie gen­er­ous, sud­den­ly oder hav­ing a show­er. Es war keine fehler­freie Arbeit gewor­den. Gle­ich in einem einzi­gen Satz fand Mr. Englisch zwei Fehler. In der Über­set­zung von „Ich mag kein Cola“ hat­te Frie­da geschrieben: „I don’t like Cola“, anstatt „I hate Coke“. Die Mut­ter tröstete sie. Oder tröstete Frie­da die Mut­ter? Dafür wür­den sie eine Hausauf­gabe in Mathe hin­le­gen, ohne einen einzi­gen Fehler.
Die Mut­ter maß mit Argusaugen. Obwohl der Kreis rund war, der Radius genau­so beschrieben wor­den war wie die eingeze­ich­nete Sehne, stand darunter: „Die Sehne ist nicht 72 mm lang, son­dern nur 71 mm.“ Und dieser Satz war mit drei Rufze­ichen verse­hen.
Die Mut­ter über­legte, was sie ihm antun kön­nte. Diesem sadis­tis­chen Pedan­ten. Sollte sie ihm auflauern? Oder ihm eine tote Rat­te nach Hause schick­en? Irgend­je­mand musste ihn brem­sen, bevor er noch mehr Unglück anricht­en kon­nte. Natür­lich gab es Eltern, die sagten, dass es schon immer so gewe­sen sei und es nichts gäbe, was man dage­gen tun könne. Aber sie wollte es nicht hin­nehmen, dass es schon immer so gewe­sen sei.
Schließlich ver­prügelte sie ihre Tochter auch nicht mehr, zumin­d­est nicht mit der­sel­ben Heftigkeit und Selb­stver­ständlichkeit, mit der man es früher getan hat­te. Und wenn ihr die Hand ein­mal auskam, dann tat es ihr nach­her leid. Sie gab sich auch nicht damit zufrieden, dass aus ihrer eige­nen Gen­er­a­tion trotz­dem etwas gewor­den war, denn sie fand, so toll waren sie nicht. Frie­da sollte es bess­er haben. Und wenn dafür eine tote Rat­te behil­flich sein kon­nte, war es ihr recht. Ob Fettgott Kupfer den Ver­such kan­nte? Eine tote Rat­te war nicht mehr zu motivieren.

Der Deutschauf­satz war endlich erledigt. Es war längst Abend. Words in Con­text waren eben­falls geschrieben, bloß die Mathe-Hausübung stand noch aus.
„Mathe“, mah­nte Frie­da. „Mama, wir müssen noch Mathe machen.“
„Ja, gle­ich“, sagte die Mut­ter und spürte, wie es ihr den Magen zusam­menkrampfte.
„Was heißt gle­ich“, bohrte Frie­da. „Du meinst wohl später?“
„Komm“, antwortete die Mut­ter, „schlag dein Heft auf, brin­gen wir es hin­ter uns!“
Sie las die Angabe und ver­stand sie nicht. Sie hat­te keine Ahnung, ob man mul­ti­plizieren oder divi­dieren muss, wenn man den Treib­stof­fver­brauch eines Autos für eine Strecke von 173,25 km berech­net, wenn man weiß, dass dieses Auto für 100 km im Stadtverkehr einen Spritver­brauch von ca. 8,35 Liter hat.
Zum Glück wusste auch Frie­da nicht, was sie tun sollte. So gewann die Mut­ter Zeit und sah im Lösung­sheft nach. Sie pro­bierte es mit Mul­ti­plizieren und kam auf eine vol­lkom­men andere Zahl als jene, die im Lösung­sheft stand. Daraufhin pro­bierte sie es mit Divi­dieren und kam dem Ergeb­nis im Lösung­sheft zumin­d­est in die Nähe.
Sie tat nun, als wäre es ster­nen­klar, dass man divi­dieren müsse. Doch Frie­da durch­schaute ihre Mut­ter.
„Du hast keine Ahnung, Mami, stimmt’s?“
„Stimmt“, ges­tand die Mut­ter, weil ihr nichts Besseres ein­fiel als die Wahrheit, „und ich kann es auch nicht rech­nen. Aber du musst es kön­nen, wenn du in dein­er Klasse bleiben möcht­est!“
„Ich will es nicht mehr hören“, schrie Frie­da und hielt sich die Ohren zu. „Ich will es ein­fach nicht mehr hören. Ver­schwinde“, schrie sie weit­er, „geh in dein Zim­mer und lass mich in Ruhe. Ich will nichts mehr von dir hören!“
Die Mut­ter stand auf und ging. Es war ihr lieber, sich von der Tochter beschimpfen und wegschick­en zu lassen, als weit­er diese grauen­haften Math­eauf­gaben zu lösen.

Frie­da lag schon im Bett, als die Mut­ter in ihr Zim­mer kam und sich zu ihr set­zte. Frie­da lag da wie ein Embryo. Die Mut­ter strich ihr über das Haar.
„Mama, ich bin so unglück­lich“, sagte Frie­da, und die Mut­ter merk­te, dass sie geweint hat­te.
„Warum denn, mein Schatz?“, fragte die Mut­ter.
„Weil die Schule für mich ein Unglück ist.“
„Aber die Schule ist nicht das Leben“, ver­suchte die Mut­ter zu beschwichti­gen.
„Doch. Mein Leben ist die Schule. Was denn son­st!“
Die Mut­ter schwieg. Sie wusste keine Antwort.
Frie­da drehte sich um und sah ihre Mut­ter an. „Ich wäre so gerne gut, Mama. Ich mag nicht immer die Schlecht­este sein!“
Die Mut­ter nick­te. „Vielle­icht ist es bess­er, du wieder­holst!“
Frie­da war verzweifelt: „Aber das will ich nicht. Ich habe gute Fre­undin­nen in der Klasse. Die kom­men alle weit­er und ich bleibe zurück. Das ver­stehst du doch!“
Die Mut­ter nick­te.
„Weißt du was?“, sagte die Mut­ter. „Mor­gen machst du mit deinem Papi Mathe. Vielle­icht klappt das bess­er als wenn wir es machen.“
Frie­da nick­te.

Der Vater kam früh nach Hause. Die Mut­ter zog sich zurück. Sie würde sich nicht ein­mis­chen. Das war eine Angele­gen­heit zwis­chen Vater und Tochter. Der Vater set­zte sich mit einem Glas Wein zum Tisch.
„Schau“, sagte er zu Frie­da, „da hast du es. Addieren von Streck­en AB und BC.“
„Wie heißt die Num­mer?“, fragte Frie­da.
„901.“
„Wieso 901“, wollte sie wis­sen.
„Weil es 901 ist.“
„Da ste­ht aber 900“, meinte Frie­da, „deshalb schreibe ich 900 hin.“
„Schreibe alle Block­buch­staben an, die einen Strecken­zug bilden“, fuhr der Vater fort.
„Papi“, fragte Frie­da, „wenn wir in der Klasse einen Wet­tbe­werb machen, glaub­st du, würde ich die Schnell­ste sein?“
„Das weiß ich nicht“, meinte der Vater, „ich fürchte etwas ganz anderes!“
„Was fürcht­est du?“
„Das weiß ich nicht. Schreibe ABCD.“
„Darf ich 900 schreiben?“
„A, B, C, D, A, dann hast du ein Viereck“, der Vater konzen­tri­erte sich auf die Übung.
„Papi, was ist eigentlich ein Strecken­zug?“
„Ich zeige es dir“, sagte er, „erk­lären kann ich es auch nicht. Ein Strecken­zug kann offen oder geschlossen sein. Das ste­ht so hier. Schreibe alle Block­buch­staben an, die einen Strecken­zug ergeben. Was ste­ht eigentlich in deinem Auf­gaben­heft?“
Er sah sel­ber nach. „Zeichne drei par­al­lele Streck­en. Das ist klar. Das wirst du doch zusam­men­brin­gen!“
„Das ist mir klar“, sagte Frie­da. „Dir nicht? Ich will, dass du es auch ver­stehst, Papi!“
Der Vater atmete tief durch. „Wenn du es kannst, dann mach es ein­mal. Zeichne eine Ger­ade, was fällt dir auf?“
„Nichts!“
„Die Nor­male ist par­al­lel, zeichne eine Ger­ade K, dass sie nor­mal zu H ste­ht!“
Frie­da sah ihn mit großen Augen an.
Der Vater wurde ungeduldig: „Tu weit­er. Ich kann auch nichts dafür. Da hast du einen Strecken­zug!“
Er las vor, was er zum The­ma Strecken­zug im Buch fand: „Fügt man Streck­en aneinan­der, so entste­ht ein Strecken­zug. Es gibt offene und geschlossene Strecken­züge!“
Friedas Blick ging ins Leere.
„Über­leg dir, ob du weit­er­ma­chen willst oder nicht“, sagte der Vater barsch.
„Ich gehe mich schnäuzen“, antwortete Frie­da.
„Schreib­st du es jet­zt?“
„Wenn ich mich geschnäuzt habe. Dann sagst du mir am besten an, was ich schreiben soll!“
Der Vater wartete. Frie­da kramte in ihrer Jeanstasche herum. „Papi, hast du ein Taschen­tuch?“
Der Vater nestelte in seinem Hosen­sack und zog eines her­aus.
„Das sieht schon ziem­lich ver­schmud­delt aus“, stellte Frie­da fest.
„Es ist unge­braucht.“
„Unge­braucht schon, aber trotz­dem irgend­wie eke­lig!“
„Schreib­st du jet­zt?“
Frie­da zog geräuschvoll Rotz auf.
Der Vater schob den Ses­sel mit einem Ruck zurück, stand auf und holte ein Taschen­tuch aus dem Badez­im­mer.
„Danke Papi!“
Frie­da schnäuzte sich mehrmals.
„Schreib­st du jet­zt?“, fragte der Vater.
„Wenn du mir sagst, was ich schreiben soll!“
„Nimm eine Ger­ade G beliebig an, zeichne dazu eine Nor­male, H schnei­det, K ist par­al­lel zu G. Was fällt dir auf?“
„Dass drei nebeneinan­der sind!“
„Hör auf zu schaukeln, wenn du arbeitest. Was fehlt noch? Wann machst du deine Beispiele? Und schreib endlich hin, was du glaub­st, dass er sehen will!“
Der Vater stand auf und schüt­tete den Wein in den Aus­guss.
„Papi, warum schüttest du den Wein weg?“
„Weil er voller Mück­en ist. Ich vergesse zu trinken, wenn ich mit dir Mathe mache! Was ste­ht bei 900?“
Frie­da las vor: „Schreibe alle Block­buch­staben an, die einen Strecken­zug bilden!“
„Hör auf zu schaukeln“, fuhr der Vater sie nun heftig an, „und schreibe es endlich hin. Schreibe es ein­fach hin. Da hin, in dein Heft. Und pack ein, bitte!“
„Ich bin aber noch nicht fer­tig“, antwortete Frie­da. „Ich habe noch zwei Num­mern!“
„Dann mach sie und hör endlich auf zu schaukeln. Kon­stru­iere eine Strecke mit fol­gen­der Länge: AB, BC, so ein­fach ist das.“
Frie­da star­rte ihn an.
„Schau“, die Stimme des Vaters wurde immer lauter, „da ste­ht es doch, wie es geht. Miss noch ein­mal nach. Ein Dreieck und dann einen Strich machen! Und schau nicht so mitlei­d­heis­chend!“
„Schau ich gar nicht“, sagte Frie­da. „Ich fürchte mich nur vor dir, wenn du so schreist!“
„Ich schreie doch nicht“, schrie der Vater. „Willst du hören, wie es klingt, wenn ich schreie?“
„Nein, danke“, sagte Frie­da. „Es reicht mir auch so!“
„AB ist wie viel?“, fragte der Vater.
„Vierzig!“
„Gut! Mach einen ger­aden Strich. Das ist AB. BC ist wie viel?“
Frie­da schaute ihn nur an.
„Und CA ist wie viel?!“
Frie­da schaute noch immer.
„Zweiein­halb und drei“, gab der Vater sich sel­ber die Antwort. „Siehst du?“
„Ja, danke“, antwortete Frie­da artig. Ich muss noch die Verbesserung der vorigen Auf­gabe machen.“
„Lass sehen. Das kriegen wir auch noch hin“, sagte der Vater. „Die Summe wird um zehn größer. Wenn es nicht stimmt, sag ihm, mein Papa hat es mir so ange­sagt. Und hier schreib: Die Summe bleibt gle­ich. Elf Ele­mente, sie wer­den mit Kreuzze­ichen markiert!“
„Papa, machst du es mit mir?“
Er nahm das Heft zu sich. „Gib her, ich mache das jet­zt. Das ist auch schon egal! Drei plus acht. Hier hast du dich für 1 Kästchen entsch­ieden. Ver­stehst du warum?“
„Ich sage ein­fach, dass ich es ver­ste­he“, antwortete Frie­da.
„Jet­zt mache ich noch c. Zwanzig plus sechzig. Wenn es ihm nicht passt, sag ihm: Mein Vater kann es auch nicht bess­er!“

Sie hat­te von ihm geträumt. Sie lag in seinem Bett. Sein Fett störte sie, als es über­all an ihr herun­ter­rann. Es störte sie, wie es sie zum Schwitzen brachte, sie rund­herum ein­hüllte, sie regel­recht erstick­te. Es kostete sie enorme Kraft, sich gegen ihn zu stem­men, gegen seine Kör­per­masse, die nicht aufzuhal­ten war, die wie eine Schlamm­law­ine über sie rollte und sie begrub. Sie kon­nte es genau fühlen, wie sie an Kraft ver­lor, wie sein Kör­per­schlamm sie langsam erdrück­te.
Als sie aufwachte, badete sie in ihrem Pyja­ma. Sie wusste nicht, ob es Fett war oder Schweiß, in dem sie lag. Sie sah sich um. Sie war allein. Es muss wohl mein eigen­er Schweiß sein, dachte sie. Was hat­te er ihr bloß geboten, dass sie es so weit hat­te kom­men lassen? Wie kam sie zu diesem Traum? Spielte sie bere­its mit dem Gedanken, mit ihm ins Bett zu gehen, wenn er ihrer Tochter eine pos­i­tive Note gab? Und wenn sie noch nicht mit dieser Idee spielte, sollte sie es tun? War es nicht eine ver­gle­ich­sweise ein­fache Möglichkeit, das quälende Ler­nen zu been­den? Was war eine schreck­liche Nacht mit dem Fet­ten im Ver­gle­ich zu den vie­len schreck­lichen Aben­den, die sie mit ihrem Kind haben würde, wenn sie Englisch ler­nen mussten. Stattdessen wür­den sie gemein­sam einen Film schauen, danach Sushi essen oder ein­fach „vier gewin­nt“ spie­len, bis sie vor Müdigkeit ins Bett fie­len.
Einen Moment lang über­legte sie, den Pyja­ma auszuwrin­gen. Sie wollte messen, wie viele Liter Schweiß sie dieser Gott Kupfer schon gekostet hat­te. Wie viele Kreb­szellen er in ihr schon angelegt hat­te, kon­nte sie nicht zählen. Aber täglich suchte sie nach grauen Haaren, die dem­nächst aus ihrer Kopfhaut wach­sen wür­den.