Lenz

Ein Novellen-Fragment

Von

Den 20. ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Thäler hin­unter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tan­nen. Es war naßkalt, das Wass­er rieselte die Felsen hin­unter und sprang über den Weg. Die Aeste der Tan­nen hin­gen schw­er herab in die feuchte Luft. Am Him­mel zogen graue Wolken, aber Alles so dicht, und dann dampfte der Nebel her­auf und strich schw­er und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging gle­ichgültig weit­er, es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manch­mal unan­genehm, daß er nicht auf dem Kopfe gehen kon­nte. Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüt­telte, und der Nebel die For­men bald ver­schlang, bald die gewalti­gen Glieder halb enthüllte; es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach ver­lor­nen Träu­men, aber er fand nichts. Es war ihm Alles so klein, so nahe, so naß, er hätte die Erde hin­ter den Ofen set­zen mögen, er begriff nicht, daß er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hin­unter zu klim­men, einen fer­nen Punkt zu erre­ichen; er meinte, er müsse Alles mit ein paar Schrit­ten ausmessen kön­nen. Nur manch­mal, wenn der Sturm das Gewölk in die Thäler warf, und es den Wald her­auf dampfte, und die Stim­men an den Felsen wach wur­den, bald wie fern ver­hal­lende Don­ner, und dann gewaltig her­an brausten, in Tönen, als woll­ten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besin­gen, und die Wolken wie wilde, wiehernde Rosse her­ansprengten, und der Son­nen­schein dazwis­chen durchging und kam und sein blitzen­des Schw­ert an den Schneeflächen zog, so daß ein helles, blenden­des Licht über die Gipfel in die Thäler schnitt; oder wenn der Sturm das Gewölk abwärts trieb und einen licht­blauen See hinein­riß und dann der Wind ver­hallte und tief unten aus den Schlucht­en, aus den Wipfeln der Tan­nen, wie ein Wiegen­lied und Glock­en­geläute her­auf­summte, und am tiefen Blau ein leis­es Roth hin­aufk­lomm, und kleine Wölkchen auf sil­ber­nen Flügeln durch­zo­gen, und alle Berggipfel scharf und fest, weit über das Land hin glänzten und blitzten – riß es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vor­wärts gebo­gen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, Alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe that; oder er stand still und legte das Haupt ins Moos und schloß die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wan­del­nder Stern und tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klare Fluth unter ihm zog. Aber es waren nur Augen­blicke, und dann erhob er sich nüchtern, fest, ruhig, als wäre ein Schat­ten­spiel vor ihm vorüberge­zo­gen, er wußte von nichts mehr. Gegen Abend kam er auf die Höhe des Gebirgs, auf das Schneefeld, von wo man wieder hin­ab­stieg in die Ebene nach West­en, er set­zte sich oben nieder. Es war gegen Abend ruhiger gewor­den; das Gewölk lag fest und unbe­weglich am Him­mel; so weit der Blick reichte, nichts als Gipfel, von denen sich bre­ite Flächen hin­ab­zo­gen, und Alles so still, grau, däm­mernd; es wurde ihm entset­zlich ein­sam, er war allein, ganz allein, er wollte mit sich sprechen, aber er kon­nte nicht, er wagte kaum zu ath­men, das Biegen seines Fußes tönte wie Don­ner unter ihm, er mußte sich nieder­set­zen; es faßte ihn eine namen­lose Angst in diesem Nichts, er war im Leeren, er riß sich auf und flog den Abhang hin­unter. Es war fin­ster gewor­den, Him­mel und Erde ver­schmolzen in Eins. Es war als gin­ge ihm was nach, und als müsse ihn was Entset­zlich­es erre­ichen, etwas das Men­schen nicht ertra­gen kön­nen, als jage der Wahnsinn auf Rossen hin­ter ihm. Endlich hörte er Stim­men, er sah Lichter, es wurde ihm leichter, man sagte ihm, er hätte noch eine halbe Stunde nach Wald­bach. Er ging durch das Dorf, die Lichter schienen durch die Fen­ster, er sah hinein im Vor­beige­hen, Kinder am Tis­che, alte Weiber, Mäd­chen, Alles ruhige, stille Gesichter, es war ihm, als müsse das Licht von ihnen ausstrahlen, es ward ihm leicht, er war bald in Wald­bach im Pfar­rhause. Man saß am Tisch, er hinein; die blonden Lock­en hin­gen ihm um das ble­iche Gesicht, es zuck­te ihm in den Augen und um den Mund, seine Klei­der waren zer­ris­sen. Ober­lin hieß ihn willkom­men, er hielt ihn für einen Handw­erk­er. „Sein Sie mir willkom­men, obschon Sie mir unbekan­nt“. – Ich bin ein Fre­und von .... und bringe Ihnen Grüße von ihm. – „Der Name, wenn’s beliebt“ ... . – Lenz. - „Ha, ha, ha, ist er nicht gedruckt? Habe ich nicht einige Dra­men gele­sen, die einem Her­rn dieses Namens zugeschrieben wer­den?“ – Ja, aber belieben Sie, mich nicht dar­nach zu beur­theilen. – Man sprach weit­er, er suchte nach Worten und erzählte rasch, aber auf der Folter; nach und nach wurde er ruhig durch das heim­liche Zim­mer und die stillen Gesichter, die aus dem Schat­ten her­vor­trat­en, das helle Kinder­gesicht, auf dem alles Licht zu ruhen schien und das neugierig, ver­traulich auf­schaute, bis zur Mut­ter, die hin­ten im Schat­ten engel­gle­ich stille saß. Er fing an zu erzählen, von sein­er Heimat; er zeich­nete aller­hand Tra­cht­en, man drängte sich theil­nehmend um ihn, er war gle­ich zu Haus, sein blass­es Kinder­gesicht, das jet­zt lächelte, sein lebendi­ges Erzählen; er wurde ruhig, es war ihm als träten alte Gestal­ten, vergessene Gesichter wieder aus dem Dunkeln, alte Lieder wacht­en auf, er war weg, weit weg. Endlich war es Zeit zum Gehen, man führte ihn über die Straße, das Pfar­rhaus war zu eng, man gab ihm ein Zim­mer im Schul­hause. Er ging hin­auf, es war kalt oben, eine weite Stube, leer, ein hohes Bett im Hin­ter­grund; er stellte das Licht auf den Tisch und ging auf und ab, er besann sich wieder auf den Tag, wie er hergekom­men, wo er war, das Zim­mer im Pfar­rhause mit seinen Lichtern und lieben Gesichtern, es war ihm wie ein Schat­ten, ein Traum, und es wurde ihm leer, wieder wie auf dem Berg, aber er kon­nte es mit nichts mehr aus­füllen, das Licht war erloschen, die Fin­stern­iß ver­schlang Alles; eine unnennbare Angst erfaßte ihn, er sprang auf, er lief durchs Zim­mer, die Treppe hin­unter, vor’s Haus; aber umson­st, Alles fin­ster, nichts, er war sich selb­st ein Traum, einzelne Gedanken huscht­en auf, er hielt sie fest, es war ihm als müsse er immer „Vater unser“ sagen; er kon­nte sich nicht mehr find­en, ein dun­kler Instinct trieb ihn, sich zu ret­ten, er stieß an die Steine, er riß sich mit den Nägeln; - der Schmerz fing an, ihm das Bewußt­sein wiederzugeben, er stürzte sich in den Brun­nen­stein, aber das Wass­er war nicht tief, er patschte darin. Da kamen Leute, man hat­te es gehört, man rief ihm zu. Ober­lin kam gelaufen; Lenz war wieder zu sich gekom­men, das ganze Bewußt­sein sein­er Lage stand vor ihm, es war ihm wieder leicht. Jet­zt schämte er sich und war betrübt, daß er den guten Leuten Angst gemacht; er sagte ihnen, daß er gewohnt sei, kalt zu baden, und ging wieder hin­auf; die Erschöp­fung ließ ihn endlich ruhen.

Den andern Tag ging es gut. Mit Ober­lin zu Pferde durch das Thal: bre­ite Bergflächen, die aus großer Höhe sich in ein schmales, gewun­denes Thal zusam­men­zo­gen, das in man­nich­fachen Rich­tun­gen sich hoch an den Bergen hin­auf­zog; große Felsen­massen, die sich nach unten aus­bre­it­eten, wenig Wald, aber alles im grauen ern­sten Anflug, eine Aus­sicht nach West­en in das Land hinein und auf die Bergkette, die sich ger­ade hin­unter nach Süden und Nor­den zog, und deren Gipfel gewaltig, ern­sthaft oder schweigend still, wie ein däm­mern­der Traum standen. Gewaltige Licht­massen, die manch­mal aus den Thälern, wie ein gold­ner Strom, schwollen, dann wieder Gewölk, das an dem höch­sten Gipfel lag und dann langsam den Wald herab in das Thal klomm oder in den Son­nen­blitzen sich wie ein fliegen­des, sil­bernes Gespenst her­ab­senk­te und hob; kein Lärm, keine Bewe­gung, kein Vogel, nichts als das bald nahe, bald ferne Wehen des Windes. Auch erschienen Punk­te, Gerippe von Hüt­ten, Bret­ter mit Stroh gedeckt, von schwarz­er, ern­ster Farbe. Die Leute schweigend und ernst, als wagten sie die Ruhe ihres Thales nicht zu stören, grüßten ruhig, wie sie vor­beirit­ten. In den Hüt­ten war es lebendig, man drängte sich um Ober­lin, er wies zurecht, gab Rath, tröstete; über­all zutrauensvolle Blicke, Gebet. Die Leute erzählten Träume, Ahnun­gen. Dann rasch ins prak­tis­che Leben, Wege angelegt, Kanäle gegraben, die Schule besucht. Ober­lin war uner­müdlich, Lenz fortwährend sein Begleit­er, bald in Gespräch, bald thätig am Geschäft, bald in die Natur ver­sunken. Es wirk­te Alles wohlthätig und beruhi­gend auf ihn, er mußte Ober­lin oft in die Augen sehen, und die mächtige Ruhe, die uns über der ruhen­den Natur, im tiefen Wald, in mond­hellen, schmelzen­den Som­mernächt­en über­fällt, schien ihm noch näher in diesem ruhi­gen Auge, diesem ehrwürdi­gen ern­sten Gesicht. Er war schüchtern; aber er machte Bemerkun­gen, er sprach. Ober­lin war sein Gespräch sehr angenehm, und das anmuthige Kinder­gesicht Lenzen’s machte ihm große Freude. Aber nur so lange das Licht im Thale lag, war es ihm erträglich; gegen Abend befiel ihn eine son­der­bare Angst, er hätte der Sonne nach­laufen mögen; wie die Gegen­stände nach und nach schat­tiger wur­den, kam ihm Alles so trau­mar­tig, so zuwider vor, es kam ihm die Angst an wie Kindern, die im Dunkeln schlafen; es war ihm als sei er blind; jet­zt wuchs sie, der Alp des Wahnsinns set­zte sich zu seinen Füßen, der ret­tungslose Gedanke, als sei Alles nur sein Traum, öffnete sich vor ihm, er klam­merte sich an alle Gegen­stände; Gestal­ten zogen rasch an ihm vor­bei, er drängte sich an sie, es waren Schat­ten, das Leben wich aus ihm und seine Glieder waren ganz starr. Er sprach, er sang, er recitirte Stellen aus Shak­s­peare, er griff nach Allem, was sein Blut son­st hat­te rasch­er fließen machen, er ver­suchte Alles, aber kalt, kalt. Er mußte dann hin­aus ins Freie - das wenige, durch die Nacht zer­streute Licht, wenn seine Augen an die Dunkel­heit gewöh­nt waren, machte ihm bess­er; er stürzte sich in den Brun­nen, die grelle Wirkung des Wassers machte ihm bess­er, auch hat­te er eine geheime Hoff­nung auf eine Krankheit; er ver­richtete sein Bad jet­zt mit weniger Geräusch. Doch jemehr er sich in das Leben hinein­lebte, ward er ruhiger, er unter­stützte Ober­lin, zeich­nete, las die Bibel; alte ver­gan­gene Hoff­nun­gen gin­gen in ihm auf; das neue Tes­ta­ment trat ihm hier so ent­ge­gen, und eines Mor­gens ging er hin­aus. Wie Ober­lin ihm erzählte, wie ihn eine unaufhalt­same Hand auf der Brücke gehal­ten hätte, wie auf der Höhe ein Glanz seine Augen geblendet hätte, wie er eine Stimme gehört hätte, wie es in der Nacht mit ihm gesprochen, und wie Gott so ganz bei ihm eingekehrt, daß er kindlich seine Loose aus der Tasche holte, um zu wis­sen, was er thun sollte - dieser Glaube, dieser ewige Him­mel im Leben, dieses Sein in Gott: jet­zt erst ging ihm die heilige Schrift auf. Wie den Leuten die Natur so nah trat, alles in himm­lis­chen Mys­te­rien! aber nicht gewalt­sam majestätisch, son­dern noch ver­traut! – Er ging des Mor­gens hin­aus, die Nacht war Schnee gefall­en, im Thale lag heller Son­nen­schein, aber weit­er­hin die Land­schaft halb im Nebel. Er kam bald vom Weg ab und eine san­fte Höhe hin­auf, keine Spur von Fußtrit­ten mehr, neben einem Tan­nen­walde hin, die Sonne schnitt Krys­talle, der Schnee war leicht und flock­ig, hie und da Spur von Wild leicht auf dem Schnee, die sich ins Gebirg hin­zog. Keine Regung in der Luft, als ein leis­es Wehen, als das Rauschen eines Vogels, der die Flock­en leicht vom Schwanze stäubte. Alles so still, und die Bäume wei­thin mit schwank­enden weißen Fed­ern in der tief­blauen Luft. Es wurde ihm heim­lich nach und nach, die ein­för­mi­gen, gewalti­gen Flächen und Lin­ien, vor denen es ihm manch­mal war, als ob sie ihn mit gewalti­gen Tönen anre­de­ten, waren ver­hüllt, ein heim­lich­es Wei­h­nachts­ge­fühl beschlich ihn, er meinte manch­mal, seine Mut­ter müsse hin­ter einem Baume her­vortreten, groß, und ihm sagen, sie hätte ihm dieses Alles bescheert; wie er hin­un­terg­ing, sah er, daß um seinen Schat­ten sich ein Regen­bo­gen von Strahlen legte, es wurde ihm, als hätte ihn was an der Stirn berührt, das Wesen sprach ihn an. Er kam hin­unter. Ober­lin war im Zim­mer, Lenz kam heit­er auf ihn zu, und sagte ihm, er möge wohl ein­mal predi­gen. „Sind Sie The­ologe?“ – Ja! – „Gut, näch­sten Son­ntag“. –

Lenz ging vergnügt auf sein Zim­mer, er dachte auf einen Text zum Predi­gen und ver­fiel in Sin­nen, und seine Nächte wur­den ruhig. Der Son­ntag­mor­gen kam, es war Thauwet­ter einge­fall­en. Vorüber­streifende Wolken, Blau dazwis­chen, die Kirche lag neben am Berge hin­auf, auf einem Vor­sprunge, der Kirch­hof drum herum. Lenz stand oben, als die Glocke läutete und die Kirchengänger, die Weiber und Mäd­chen in ihrer ern­sten schwarzen Tra­cht, das weiße gefal­tete Schnupf­tuch auf dem Gesang­buch und den Ros­mar­inzweig, von den ver­schiede­nen Seit­en die schmalen Pfade zwis­chen den Felsen her­auf- und her­abka­men. Ein Son­nen­blick lag manch­mal über dem Thal, die laue Luft regte sich langsam, die Land­schaft schwamm im Duft, fernes Geläute, es war als löste sich Alles in eine har­monis­che Welle auf.  Auf dem kleinen Kirch­hof war der Schnee weg, dun­kles Moos unter den schwarzen Kreuzen, ein ver­späteter Rosen­strauch lehnte an der Kirch­hof­mauer, ver­spätete Blu­men dazu unter dem Moose her­vor, manch­mal Sonne, dann wieder dunkel. Die Kirche fing an, die Men­schen­stim­men begeg­neten sich im reinen hellen Klang; ein Ein­druck, als schaue man in reines, durch­sichtiges Berg­wass­er. Der Gesang ver­hallte, Lenz sprach, er war schüchtern, unter den Tönen hat­te sein Star­rkrampf sich ganz gelegt, sein ganz­er Schmerz wachte jet­zt auf und legte sich in sein Herz. Ein süßes Gefühl unendlichen Wohls beschlich ihn. Er sprach ein­fach mit den Leuten, sie lit­ten alle mit ihm, und es war ihm ein Trost, wenn er über einige müdgeweinte Augen Schlaf und gequäl­ten Herzen Ruhe brin­gen, wenn er über dieses von materiellen Bedürfnis­sen gequälte Sein, diese dumpfen Lei­den, gen Him­mel leit­en kon­nte. Er war fes­ter gewor­den, wie er schloß, da fin­gen die Stim­men wieder an:

Laß in mir die heil’gen Schmerzen,
Tiefe Bron­nen ganz auf­brechen;
Lei­den sei all’ mein Gewinnst,
Lei­den sei mein Gottes­di­enst.

Das Drän­gen in ihm, die Musik, der Schmerz, erschüt­terte ihn. Das All war für ihn in Wun­den; er fühlte tiefen unnennbaren Schmerz davon. Jet­zt ein anderes Sein, göt­tliche, zuck­ende Lip­pen bück­ten sich über ihm aus und sogen sich an seine Lip­pen; er ging auf sein ein­sames Zim­mer. Er war allein, allein! Da rauschte die Quelle, Ströme brachen aus seinen Augen, er krümmte sich in sich, es zuck­ten seine Glieder, es war ihm, als müsse er sich auflösen, er kon­nte kein Ende find­en der Wol­lust; endlich däm­merte es in ihm, er emp­fand ein leis­es tiefes Mitleid mit sich selb­st, er weinte über sich, sein Haupt sank auf die Brust, er schlief ein, der Voll­mond stand am Him­mel, die Lock­en fie­len ihm über die Schläfe und das Gesicht, die Thrä­nen hin­gen ihm an den Wim­pern und trock­neten auf den Wan­gen – so lag er nun da allein, und Alles war ruhig und still und kalt, und der Mond schien die ganze Nacht und stand über den Bergen.

Am fol­gen­den Mor­gen kam er herunter, er erzählte Ober­lin ganz ruhig, wie ihm die Nacht seine Mut­ter erschienen sei; sie sei in einem weißen Kleid aus der dunkeln Kirch­hof­mauer her­vor­ge­treten und habe eine weiße und eine rothe Rose an der Brust steck­en gehabt; sie sei dann in eine Ecke gesunken, und die Rosen seien langsam über sie gewach­sen, sie sei gewiß todt; er sei ganz ruhig darüber. Ober­lin ver­set­zte ihm nun, wie er bei dem Tode seines Vaters allein auf dem Felde gewe­sen sei, und er dann eine Stimme gehört habe, so daß er wußte, daß sein Vater todt sei, und wie er heimgekom­men, sei es so gewe­sen. Das führte sie weit­er, Ober­lin sprach noch von den Leuten im Gebirge, von Mäd­chen, die das Wass­er und Met­all unter der Erde fühlten, von Män­nern, die auf manchen Berghöhen ange­faßt wür­den und mit einem Geiste rän­gen; er sagte ihm auch, wie er ein­mal im Gebirge durch das Schauen in ein leeres tiefes Berg­wass­er in eine Art von Som­nam­bu­lis­mus ver­set­zt wor­den sei. Lenz sagte, daß der Geist des Wassers über ihn gekom­men sei, daß er dann etwas von seinem eigen­thüm­lichen Sein emp­fun­den hätte. Er fuhr weit­er fort: Die ein­fach­ste, rein­ste Natur hinge am näch­sten mit der ele­men­tarischen zusam­men; je fein­er der Men­sch geistig fühlte und lebte, um so abges­tumpfter würde dieser ele­men­tarische Sinn; er halte ihn nicht für einen hohen Zus­tand, er sei nicht selb­st­ständig genug, aber er meine, es müsse ein unendlich­es Won­nege­fühl sein, so von dem eigen­thüm­lichen Leben jed­er Form berührt zu wer­den, für Gesteine, Met­alle, Wass­er und Pflanzen eine Seele zu haben, so trau­mar­tig jedes Wesen in der Natur in sich aufzunehmen, wie die Blu­men mit dem Zu- und Abnehmen des Mon­des die Luft.

Er sprach sich selb­st weit­er aus, wie in Allem eine unaussprech­liche Har­monie, ein Ton, eine Seligkeit sei, die in den höheren For­men mit mehr Orga­nen aus sich her­aus­griffe, tönte, auf­faßte und dafür aber auch um so tiefer affi­cirt würde; wie in den niedri­gen For­men Alles zurückge­drängter, beschränk­ter, dafür aber auch die Ruhe in sich größer sei. Er ver­fol­gte das noch weit­er. Ober­lin brach es ab, es führte ihn zu weit von sein­er ein­fachen Art ab. Ein ander­mal zeigte ihm Ober­lin Far­ben­täfelchen, er set­zte ihm auseinan­der, in welch­er Beziehung jede Farbe mit dem Men­schen stände; er brachte zwölf Apos­tel her­aus, deren jed­er durch eine Farbe repräsen­tirt würde. Lenz faßte das auf, er spann die Sache weit­er, kam in ängstliche Träume, fing an wie Still­ing die Apoc­a­lypse zu lesen, und las viel in der Bibel.

Um diese Zeit kam Kauf­mann mit sein­er Braut ins Steinthal. Lenzen war Anfangs das Zusam­men­tr­e­f­fen unan­genehm, er hat­te sich so ein Plätzchen zurecht­gemacht, das bis­chen Ruhe war ihm so kost­bar, – und jet­zt kam ihm Jemand ent­ge­gen, der ihn an so vieles erin­nerte, mit dem er sprechen, reden mußte, der seine Ver­hält­nisse kan­nte. Ober­lin wußte von Allem nichts; er hat­te ihn aufgenom­men, gepflegt; er sah es als eine Schick­ung Gottes, der den Unglück­lichen ihm zuge­sandt hätte, er liebte ihn her­zlich. Auch war es Allen noth­wendig, daß er da war, er gehörte zu ihnen, als wäre er schon längst da, und Nie­mand frug, woher er gekom­men und wohin er gehen werde. Ueber Tisch war Lenz wieder in guter Stim­mung, man sprach von Lit­er­atur, er war auf seinem Gebi­ete; die ide­al­is­tis­che Peri­ode fing damals an, Kauf­mann war ein Anhänger davon, Lenz wider­sprach heftig. Er sagte: Die Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirk­lichkeit, hät­ten auch keine Ahnung davon; doch seien sie immer noch erträglich­er, als die, welche die Wirk­lichkeit verk­lären woll­ten. Er sagte: Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht, wie sie sein soll, und wir kön­nen wohl nicht was Besseres kleck­sen, unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaf­fen. Ich ver­lange in Allem – Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fra­gen, ob es schön, ob es häßlich ist. Das Gefühl, daß Was geschaf­fen sei, Leben habe, ste­he über diesen Bei­den und sei das einzige Kri­teri­um in Kun­st­sachen. Uebri­gens begeg­ne es uns nur sel­ten; in Shak­s­peare find­en wir es, und in den Volk­sliedern tönt es Einem ganz, in Goethe manch­mal ent­ge­gen. Alles Uebrige kann man ins Feuer wer­fen. Die Leute kön­nen auch keinen Hundsstall zeich­nen. Da wollte man ide­al­is­tis­che Gestal­ten, aber Alles, was ich davon gese­hen, sind Holzpup­pen. Dieser Ide­al­is­mus ist die schmäh­lich­ste Ver­ach­tung der men­schlichen Natur. Man ver­suche es ein­mal und senke sich in das Leben des Ger­ing­sten und gebe es wieder in den Zuck­un­gen, den Andeu­tun­gen, dem ganzen feinen, kaum bemerk­ten Mienen­spiel; er hätte der­gle­ichen ver­sucht im „Hofmeis­ter“ und den „Sol­dat­en“. Es sind die pro­sais­chsten Men­schen unter der Sonne; aber die Gefühlsad­er ist in fast allen Men­schen gle­ich; nur ist die Hülle mehr oder weniger dicht, durch die sie brechen muß. Man muß nur Aug’ und Ohren dafür haben. Wie ich gestern neben am Thale hin­aufging, sah ich auf einem Steine zwei Mäd­chen sitzen, die eine band ihre Haare auf, die andere half ihr, das goldne Haar hing herab, ein ern­stes ble­ich­es Gesicht, und doch so jung, und die schwarze Tra­cht und die andre so sorgsam bemüht. Die schön­sten, innig­sten Bilder der alt­deutschen Schule geben kaum eine Ahnung davon. Man möchte manch­mal ein Medusen­haupt sein, um so eine Gruppe in Stein ver­wan­deln zu kön­nen, und den Leuten zurufen. Sie standen auf, die schöne Gruppe war zer­stört; aber wie sie so hin­ab­stiegen, zwis­chen den Felsen, war es wieder ein anderes Bild. Die schön­sten Bilder, die schwellend­sten Töne, grup­piren, lösen sich auf.

Nur eins bleibt, eine unendliche Schön­heit, die aus ein­er Form in die andere tritt, ewig aufge­blät­tert, verän­dert. Man kann sie aber freilich nicht immer fes­thal­ten und in Museen stellen und auf Noten ziehen, und dann Alt und Jung her­beirufen, und die Buben und Alten darüber radotiren und sich entzück­en lassen. Man muß die Men­schheit lieben, um in das eigen­thüm­liche Wesen jedes einzu­drin­gen; es darf Einem kein­er zu ger­ing, kein­er zu häßlich sein, erst dann kann man sie ver­ste­hen; das unbe­deu­tend­ste Gesicht macht einen tief­er­en Ein­druck, als die bloße Empfind­ung des Schö­nen, und man kann die Gestal­ten aus sich her­aus­treten lassen, ohne etwas vom Aeußeren hinein zu kopiren, wo einem kein Leben, keine Muskeln, kein Puls ent­ge­gen­schwillt und pocht. Kauf­mann warf ihm vor, daß er in der Wirk­lichkeit doch keine Typen für einen Apoll von Belvedere oder eine Raphaelis­che Madon­na find­en würde. Was liegt daran, ver­set­zte er, ich muß geste­hen, ich füh­le mich dabei sehr todt. Wenn ich in mir arbeite, kann ich auch wohl was dabei fühlen, aber ich thue das Beste daran. Der Dichter und Bildende ist mir der Lieb­ste, der mir die Natur am Wirk­lich­sten gibt, so daß ich über seinem Gebild füh­le; alles Uebrige stört mich. Die hol­ländis­chen Maler sind mir lieber, als die ital­ienis­chen, sie sind auch die einzi­gen faßlichen; ich kenne nur zwei Bilder, und zwar von Nieder­län­dern, die mir einen Ein­druck gemacht hät­ten, wie das neue Tes­ta­ment; das Eine ist, ich weiß nicht von wem, Chris­tus und die Jünger von Emaus: Wenn man so liest, wie die Jünger hin­aus­gin­gen, es liegt gle­ich die ganze Natur in den Paar Worten. Es ist ein trüber, däm­mern­der Abend, ein ein­för­miger rother Streifen am Hor­i­zont, halbfin­ster auf der Straße, da kommt ein Unbekan­nter zu ihnen, sie sprechen, er bricht das Brod, da erken­nen sie ihn, in ein­fach-men­schlich­er Art, und die göt­tlich-lei­den­den Züge reden ihnen deut­lich, und sie erschreck­en, denn es ist fin­ster gewor­den, und es tritt sie etwas Unbe­grei­flich­es an, aber es ist kein gespen­stis­ches Grauen, es ist, wie wenn einem ein geliebter Todter in der Däm­merung in der alten Art ent­ge­gen­träte; so ist das Bild mit dem ein­för­mi­gen, bräun­lichen Ton darüber, dem trüben stillen Abend. Dann ein Anderes: Eine Frau sitzt in ihrer Kam­mer, das Gebet­buch in der Hand. Es ist son­ntäglich aufgeputzt, der Sand zer­streut, so heim­lich rein und warm. Die Frau hat nicht zur Kirche gekon­nt und sie ver­richtet die Andacht zu Haus; das Fen­ster ist offen, sie sitzt dar­nach hinge­wandt, und es ist als schwebten zu dem Fen­ster über die weite ebne Land­schaft die Glock­en­töne von dem Dorfe here­in und ver­hallt der Sang der nahen Gemeinde aus der Kirche her, und die Frau liest den Text nach. – In der Art sprach Lenz weit­er, man horchte auf, es traf Vieles, er war roth gewor­den über den Reden, und bald lächel­nd, bald ernst, schüt­telte er die blonden Lock­en. Er hat­te sich ganz vergessen. Nach dem Essen nahm ihn Kauf­mann bei Seite. Er hat­te Briefe von Lenzen‘s Vater erhal­ten, sein Sohn sollte zurück, ihn unter­stützen. Kauf­mann sagte ihm, wie er sein Leben hier ver­schleu­dre, unnütz ver­liere, er solle sich ein Ziel steck­en und der­gle­ichen mehr. Lenz fuhr ihn an: Hier weg, weg! nach Haus? Toll wer­den dort? Du weißt, ich kann es nir­gends aushal­ten, als da herum, in der Gegend. Wenn ich nicht manch­mal auf einen Berg kön­nte und die Gegend sehen kön­nte, und dann wieder herunter ins Haus, durch den Garten gehn, und zum Fen­ster hinein­sehn, – ich würde toll! toll! Laßt mich doch in Ruhe! Nur ein bis­chen Ruhe jet­zt, wo es mir ein wenig wohl wird! Weg? Ich ver­ste­he das nicht, mit den zwei Worten ist die Welt ver­hun­zt. Jed­er hat was nöthig; wenn er ruhen kann, was kön­nt‘ er mehr haben! Immer steigen, rin­gen und so in Ewigkeit Alles, was der Augen­blick gibt, weg­w­er­fen und immer dar­ben, um ein­mal zu genießen! Dürsten, während einem helle Quellen über den Weg sprin­gen! Es ist mir jet­zt erträglich, und da will ich bleiben; warum? warum? Eben weil es mir wohl ist; was will mein Vater? Kann er mir geben? Unmöglich! Laßt mich in Ruhe. – Er wurde heftig, Kauf­mann ging, Lenz war ver­stimmt.

Am fol­gen­den Tage wollte Kauf­mann weg, er bere­dete Ober­lin, mit ihm in die Schweiz zu gehen. Der Wun­sch, Lavater, den er längst durch Briefe kan­nte, auch per­sön­lich ken­nen zu ler­nen, bes­timmte ihn. Er sagte es zu. Man mußte einen Tag länger wegen der Zurüs­tun­gen warten. Lenz fiel das aufs Herz, er hat­te, um sein­er unendlichen Qual los zu wer­den, sich ängstlich an Alles geklam­mert; er fühlte in einzel­nen Augen­blick­en tief, wie er sich Alles nur zurecht mache; er ging mit sich um wie mit einem kranken Kinde, manche Gedanken, mächtige Gefüh­le wurde er nur mit der größten Angst los, da trieb es ihn wieder mit unendlich­er Gewalt darauf, er zit­terte, das Haar sträubte ihm fast, bis er es in der unge­heuer­sten Anspan­nung erschöpfte. Er ret­tete sich in eine Gestalt, die ihm immer vor Augen schwebte, und in Ober­lin; seine Worte, sein Gesicht that­en ihm unendlich wohl. So sah er mit Angst dessen Abreise ent­ge­gen.

Es war Lenzen unheim­lich, jet­zt allein im Hause zu bleiben. Das Wet­ter war milde gewor­den, er beschloß, Ober­lin zu begleit­en, ins Gebirg. Auf der andern Seite, wo die Thäler sich in die Ebene aus­liefen, tren­nten sie sich. Er ging allein zurück. Er durch­strich das Gebirg in ver­schiede­nen Rich­tun­gen, bre­ite Flächen zogen sich in die Thäler herab, wenig Wald, nichts als gewaltige Lin­ien und weit­er hin­aus die weite, rauchende Ebene, in der Luft ein gewaltiges Wehen, nir­gends eine Spur von Men­schen, als hie und da eine ver­lassene Hütte, wo die Hirten den Som­mer zubracht­en, an den Abhän­gen gelehnt. Er wurde still, vielle­icht fast träu­mend, es ver­schmolz ihm Alles in eine Lin­ie, wie eine steigende und sink­ende Welle, zwis­chen Him­mel und Erde, es war ihm als läge er an einem unendlichen Meer, das leise auf und ab wogte. Manch­mal saß er, dann ging er wieder, aber langsam träu­mend. Er suchte keinen Weg. Es war fin­ster Abend, als er an eine bewohnte Hütte kam, im Abhange nach dem Steinthal. Die Thüre war ver­schlossen, er ging ans Fen­ster, durch das ein Lichtschim­mer fiel. Eine Lampe erhellte fast nur einen Punkt, ihr Licht fiel auf das ble­iche Gesicht eines Mäd­chens, das mit halb geöffneten Augen, leise die Lip­pen bewe­gend, dahin­ter ruhte. Weit­er weg im Dunkel saß ein altes Weib, das mit schnar­ren­der Stimme aus einem Gesang­buche sang. Nach langem Klopfen öffnete sie; sie war halb taub, sie trug Lenz einiges Essen auf und wies ihm eine Schlaf­stelle an, wobei sie beständig ihr Lied fort­sang. Das Mäd­chen hat­te sich nicht gerührt. Einige Zeit darauf kam ein Mann here­in, er war lang und hager, Spuren von grauen Haaren, mit unruhigem ver­wirrtem Gesicht. Er trat zum Mäd­chen, sie zuck­te auf und wurde unruhig. Er nahm ein getrock­netes Kraut von der Wand und legte ihr die Blät­ter auf die Hand, so daß sie ruhiger wurde und ver­ständliche Worte in langsam ziehen­den, durch­schnei­den­den Tönen summte. Er erzählte, wie er eine Stimme im Gebirge gehört und dann über den Thälern ein Wet­ter­leucht­en gese­hen habe, auch habe es ihn ange­faßt, und er habe damit gerun­gen wie Jakob. Er warf sich nieder und betete leise mit Inbrun­st, während die Kranke in einem langsam ziehen­den, leise ver­hal­len­den Ton sang. Dann gab er sich zur Ruhe.

Lenz schlum­merte träu­mend ein, und dann hörte er im Schlafe, wie die Uhr pick­te. Durch das leise Sin­gen des Mäd­chens und die Stimme der Alten zugle­ich tönte das Sausen des Windes bald näher, bald fern­er, und der bald helle, bald ver­hüllte Mond warf sein wech­sel­ndes Licht trau­mar­tig in die Stube. Ein­mal wur­den die Töne lauter, das Mäd­chen redete deut­lich und bes­timmt, sie sagte, wie auf der Klippe gegenüber eine Kirche ste­he. Lenz sah auf und sie saß mit weit­geöffneten Augen aufrecht hin­ter dem Tisch, und der Mond warf sein stilles Licht auf ihre Züge, von denen ein unheim­lich­er Glanz zu strahlen schien; zugle­ich schnar­rte die Alte, und über diesem Wech­seln und Sinken des Lichts, den Tönen und Stim­men schlief endlich Lenz tief ein.

Er erwachte früh, in der däm­mern­den Stube schlief Alles, auch das Mäd­chen war ruhig gewor­den, sie lag zurück­gelehnt, die Hände gefal­tet unter der linken Wange; das Geis­ter­hafte aus ihren Zügen war ver­schwun­den, sie hat­te jet­zt einen Aus­druck unbeschreib­lichen Lei­dens. Er trat ans Fen­ster und öffnete es, die kalte Mor­gen­luft schlug ihm ent­ge­gen. Das Haus lag am Ende eines schmalen, tiefen Thales, das sich nach Osten öffnete, rothe Strahlen schossen durch den grauen Mor­gen­him­mel in das däm­mernde Thal, das im weißen Rauch lag, und funkel­ten am grauen Gestein und trafen in die Fen­ster der Hüt­ten. Der Mann erwachte, seine Augen trafen auf ein erleuchtet Bild an der Wand, sie richteten sich fest und starr darauf, nun fing er an die Lip­pen zu bewe­gen und betete leise, dann laut und immer lauter. Indem kamen Leute zur Hütte here­in, sie war­fen sich schweigend nieder. Das Mäd­chen lag in Zuck­un­gen, die Alte schnar­rte ihr Lied und plaud­erte mit den Nach­barn. Die Leute erzählten Lenzen, der Mann sei vor langer Zeit in die Gegend gekom­men, man wisse nicht woher; er ste­he im Ruf eines Heili­gen, er sehe das Wass­er unter der Erde und könne Geis­ter beschwören, und man wall­fahre zu ihm. Lenz erfuhr zugle­ich, daß er weit­er vom Steinthal abgekom­men, er ging weg mit eini­gen Holzhauern, die in die Gegend gin­gen. Es that ihm wohl, Gesellschaft zu find­en; es war ihm jet­zt unheim­lich mit dem gewalti­gen Men­schen, von dem es ihm manch­mal war, als rede er in entset­zlichen Tönen. Auch fürchtete er sich vor sich selb­st in der Ein­samkeit.

Er kam heim. Doch hat­te die ver­flossene Nacht einen gewalti­gen Ein­druck auf ihn gemacht. Die Welt war ihm helle gewe­sen, und er spürte an sich ein Regen und Wim­meln nach einem Abgrunde, zu dem ihn eine uner­bit­tliche Gewalt hin­riß. Er wühlte jet­zt in sich. Er aß wenig; halbe Nächte im Gebet und fieber­haften Träu­men. Ein gewalt­sames Drän­gen, und dann erschöpft zurück­geschla­gen; er lag in den heißesten Thrä­nen, und dann bekam er plöt­zlich eine Stärke und erhob sich kalt und gle­ichgiltig, seine Thrä­nen waren ihm dann wie Eis, er mußte lachen. Je höher er sich aufriß, desto tiefer stürzte er hin­unter. Alles strömte wieder zusam­men. Ahnun­gen von seinem alten Zus­tande durchzuck­ten ihn und war­fen Strei­flichter in das wüste Chaos seines Geistes. Des Tags saß er gewöhn­lich unten im Zim­mer; Madame Ober­lin ging ab und zu, er zeich­nete, malte, las, griff nach jed­er Zer­streu­ung, Alles hastig von einem zum andern. Doch schloß er sich jet­zt beson­ders an Madame Ober­lin an, wenn sie so da saß, das schwarze Gesang­buch vor sich, neben ein­er Pflanze, im Zim­mer gezo­gen, das jüng­ste Kind zwis­chen den Knieen; auch machte er sich viel mit dem Kinde zu schaf­fen. So saß er ein­mal, da wurde ihm ängstlich, er sprang auf, ging auf und ab. Die Thüre halb offen, da hörte er die Magd sin­gen, erst unver­ständlich, dann kamen die Worte:

Auf dieser Welt hab‘ ich kein‘ Freud‘,
Ich hab‘ mein Schatz, und der ist weit.

Das fiel auf ihn, er verg­ing fast unter den Tönen. Madame Ober­lin sah ihn an. Er faßte sich ein Herz, er kon­nte nicht mehr schweigen, er mußte davon sprechen. „Beste Madame Ober­lin, kön­nen Sie mir nicht sagen, was das Frauen­z­im­mer macht, dessen Schick­sal mir so cent­ner­schw­er auf dem Herzen liegt?“ – „Aber Herr Lenz, ich weiß von nichts“. –

Er schwieg dann wieder und ging hastig im Zim­mer auf und ab; dann fing er wieder an: Sehen Sie, ich will gehen; Gott, Sie sind noch die einzi­gen Men­schen, wo ich‘s aushal­ten kön­nte, und doch – doch, ich muß weg, zu ihr – aber ich kann nicht, ich darf nicht. – Er war heftig bewegt und ging hin­aus.

Gegen Abend kam Lenz wieder, es däm­merte in der Stube; er set­zte sich neben Madame Ober­lin. „Sehn Sie“, fing er wieder an, „wenn sie so durchs Zim­mer ging, und so halb für sich allein sang, und jed­er Tritt war eine Musik, es war so eine Glück­seligkeit in ihr, und das strömte in mich über, ich war immer ruhig, wenn ich sie ansah, oder sie so den Kopf an mich lehnte, und Gott! Gott – ich war schon lange nicht mehr ruhig. … Ganz Kind; es war, als wär‘ ihr die Welt zu weit, sie zog sich so in sich zurück, sie suchte das eng­ste Plätzchen im ganzen Haus, und da saß sie, als wäre ihre ganze Seligkeit nur in einem kleinen Punkt, und dann war mir’s auch so; wie ein Kind hätte ich dann spie­len kön­nen. Jet­zt ist es mir so eng, so eng, sehen Sie, es ist mir manch­mal, als stieß‘ ich mit den Hän­den an den Him­mel; o ich ersticke! Es ist mir dabei oft, als fühlt‘ ich physis­chen Schmerz, da in der linken Seite, im Arm, wom­it ich sie son­st faßte. Doch kann ich sie mir nicht mehr vorstellen, das Bild läuft mir fort, und dies martert mich; nur wenn es mir manch­mal ganz hell wird, so ist mir wieder recht wohl“. – Er sprach später noch oft mit Madame Ober­lin davon, aber meist in abge­broch­enen Sätzen; sie wußte wenig zu antworten, doch that es ihm wohl.

Unter­dessen ging es fort mit seinen religiösen Quälereien. Je leer­er, je käl­ter, je ster­ben­der er sich inner­lich fühlte, desto mehr drängte es ihn, eine Gluth in sich zu weck­en, es kamen ihm Erin­nerun­gen an die Zeit­en, wo Alles in ihm sich drängte, wo er unter all seinen Empfind­un­gen keuchte; und jet­zt so todt! Er verzweifelte an sich selb­st, dann warf er sich nieder, er rang die Hände, er rührte Alles in sich auf; aber todt! Dann fle­hte er, Gott möge ein Zeichen an ihm thun, dann wühlte er in sich, fastete, lag träu­mend am Boden. Am drit­ten Hor­nung hörte er, ein Kind in Fou­day sei gestor­ben, er faßte es auf, wie eine fixe Idee. Er zog sich in sein Zim­mer und fastete einen Tag. Am vierten trat er plöt­zlich ins Zim­mer zu Madame Ober­lin, er hat­te sich das Gesicht mit Asche beschmiert und forderte einen alten Sack; sie erschrak, man gab ihm, was er ver­langte. Er wick­elte den Sack um sich, wie ein Büßen­der, und schlug den Weg nach Fou­day ein. Die Leute im Thale waren ihn schon gewohnt; man erzählte sich aller­lei Selt­sames von ihm. Er kam ins Haus, wo das Kind lag. Die Leute gin­gen gle­ichgiltig ihrem Geschäfte nach; man wies ihm eine Kam­mer, das Kind lag im Hemde auf Stroh, auf einem Holztisch.

Lenz schaud­erte, wie er die kalten Glieder berührte und die hal­bgeöffneten gläser­nen Augen sah. Das Kind kam ihm so ver­lassen vor, und er sich so allein und ein­sam; er warf sich über die Leiche nieder; der Tod erschreck­te ihn, ein heftiger Schmerz faßte ihn an, diese Züge, dieses stille Gesicht soll­ten ver­we­sen, er warf sich nieder; er betete mit allem Jam­mer der Verzwei­flung, daß Gott ein Zeichen an ihm thue, und das Kind beleben möge, wie er schwach und unglück­lich sei; dann sank er ganz in sich und wühlte all‘ seinen Willen auf einen Punkt; so saß er lange starr. Dann erhob er sich und faßte die Hände des Kindes und sprach laut und fest: „Ste­he auf und wan­dle!“ Aber die Wände hall­ten ihm nüchtern den Ton nach, daß es zu spot­ten schien, und die Leiche blieb kalt. Da stürzte er halb wahnsin­nig nieder, dann jagte es ihn auf, hin­aus ins Gebirg. Wolken zogen rasch über den Mond; bald Alles im Fin­stern, bald zeigten sie die nebel­haft ver­schwindende Land­schaft im Mond­schein. Er ran­nte auf und ab. In sein­er Brust war ein Tri­umphge­sang der Hölle. Der Wind klang wie ein Tita­nen­lied, es war ihm, als könne er eine unge­heure Faust hin­auf in den Him­mel ballen und Gott her­beireißen und zwis­chen seinen Wolken schleifen; als kön­nte er die Welt mit den Zäh­nen zer­mal­men und sie dem Schöpfer ins Gesicht speien; er schwur, er lästerte. So kam er auf die Höhe des Gebirges, und das ungewisse Licht dehnte sich hin­unter, wo die weißen Stein­massen lagen, und der Him­mel war ein dummes blaues Auge, und der Mond stand ganz lächer­lich drin, ein­fältig. Lenz mußte laut lachen, und mit dem Lachen griff der Athe­is­mus in ihn und faßte ihn ganz sich­er und ruhig und fest. Er wußte nicht mehr, was ihn vorhin so bewegt hat­te, es fror ihn, er dachte, er wolle jet­zt zu Bette gehn, und er ging kalt und uner­schüt­ter­lich durch das unheim­liche Dunkel – es war ihm Alles leer und hohl, er mußte laufen und ging zu Bette.

Am fol­gen­den Tage befiel ihn ein großes Grauen vor seinem gestri­gen Zus­tande, er stand nun am Abgrunde, wo eine wahnsin­nige Lust ihn trieb, immer wieder hineinzuschauen und sich diese Qual zu wieder­holen. Dann steigerte sich seine Angst, die Sünde und der heilige Geist stand vor ihm.

Einige Tage darauf kam Ober­lin aus der Schweiz zurück, viel früher, als man es erwartet hat­te. Lenz war darüber betrof­fen. Doch wurde er heit­er, als Ober­lin ihm von seinen Fre­un­den im Elsaß erzählte. Ober­lin ging dabei im Zim­mer hin und her und pack­te aus, legte hin. Dabei erzählte er von Pfef­fel, das Leben eines Landgeistlichen glück­lich preisend. Dabei ermah­nte er ihn, sich in den Wun­sch seines Vaters zu fügen, seinem Berufe gemäß zu leben, heimzukehren. Er sagte ihm: Ehre Vater und Mut­ter, und der­gle­ichen mehr. Ueber dem Gespräch geri­eth Lenz in heftige Unruhe; er stieß tiefe Seufz­er aus, Thrä­nen drangen ihm aus den Augen, er sprach abge­brochen. Ja, ich halt‘ es aber nicht aus; wollen Sie mich ver­stoßen? Nur in Ihnen ist der Weg zu Gott. Doch mit mir ist‘s aus! Ich bin abge­fall­en, ver­dammt in Ewigkeit, ich bin der ewige Jude. Ober­lin sagte ihm, dafür sei Jesus gestor­ben, er möge sich brün­stig an ihn wen­den, und er würde Theil haben an sein­er Gnade.

Lenz erhob das Haupt, rang die Hände und sagte: Ach! ach! göt­tlich­er Trost. Dann frug er plöt­zlich fre­undlich, was das Frauen­z­im­mer mache. Ober­lin sagte, er wisse von nichts, er wolle ihm aber in Allem helfen und rathen, er müsse ihm aber Ort, Umstände und Per­son angeben. Er antwortete nichts, wie gebroch­ene Worte: ach sie ist todt! Lebt sie noch? du Engel, sie liebte mich – ich liebte sie, sie war‘s würdig, o du Engel! Ver­fluchte Eifer­sucht, ich habe sie auf­geopfert – sie liebte noch einen Andern – ich liebte sie, sie war‘s würdig, – o gute Mut­ter, auch die liebte mich. Ich bin ein Mörder. Ober­lin ver­set­zte, vielle­icht lebten alle diese Per­so­n­en noch, vielle­icht vergnügt; es möge sein, wie es wolle, so könne und werde Gott, wenn er sich zu ihm bekehrt haben würde, diesen Per­so­n­en auf sein Gebet und Thrä­nen soviel Gutes erweisen, daß der Nutzen, den sie als­dann von ihm hät­ten, den Schaden, den er ihnen zuge­fügt, vielle­icht über­wiegen würde. Er wurde darauf nach und nach ruhiger und ging wieder an sein Malen.

Den Nach­mit­tag kam er wieder, auf der linken Schul­ter hat­te er ein Stück Pelz und in der Hand ein Bün­del Gerten, die man Ober­lin neb­st einem Briefe für Lenz mit­gegeben hat­te. Er reichte Ober­lin die Gerten mit dem Begehren, er sollte ihn damit schla­gen. Ober­lin nahm die Gerten aus sein­er Hand, drück­te ihm einige Küsse auf den Mund und sagte: dies wären die Stre­iche, die er ihm zu geben hätte, er möchte ruhig sein, seine Sache mit Gott allein aus­machen, alle möglichen Schläge wür­den keine einzige sein­er Sün­den tilgen; dafür hätte Jesus gesorgt, zu dem möchte er sich wen­den. Er ging.

Beim Nacht­essen war er wie gewöhn­lich etwas tief­sin­nig. Doch sprach er von aller­lei, aber mit ängstlich­er Hast. Um Mit­ter­nacht wurde Ober­lin durch ein Geräusch geweckt. Lenz ran­nte durch den Hof, rief mit hohler, har­ter Stimme den Namen Friederike, mit äußer­ster Schnelle, Ver­wirrung und Verzwei­flung aus­ge­sprochen, er stürzte sich dann in den Brun­nen­trog, patschte darin, wieder her­aus und her­auf in sein Zim­mer, wieder herunter in den Trog, und so einige Mal, endlich wurde er still. Die Mägde, die in der Kinder­stube unter ihm schliefen, sagten, sie hät­ten oft, inson­der­heit aber in sel­biger Nacht, ein Brum­men gehört, das sie mit nichts als mit dem Tone ein­er Haberpfeife zu ver­gle­ichen wußten. Vielle­icht war es sein Win­seln, mit hohler, fürchter­lich­er, verzweifel­nder Stimme.

Am fol­gen­den Mor­gen kam Lenz lange nicht. Endlich ging Ober­lin hin­auf in sein Zim­mer, er lag im Bett ruhig und unbe­weglich. Ober­lin mußte lange fra­gen, ehe er Antwort bekam; endlich sagte er: Ja, Herr Pfar­rer, sehen Sie, die Langeweile! die Langeweile! o! so lang­weilig, ich weiß gar nicht mehr, was ich sagen soll, ich habe schon alle Fig­uren an die Wand geze­ich­net. Ober­lin sagte ihm, er möge sich zu Gott wen­den; da lachte er und sagte: ja wenn ich so glück­lich wäre, wie Sie, einen so behaglichen Zeitvertreib aufzufind­en, ja man kön­nte sich die Zeit schon so aus­füllen. Alles aus Müßig­gang. Denn die Meis­ten beten aus Langeweile, die Anderen ver­lieben sich aus Langeweile, die Drit­ten sind tugend­haft, die Vierten laster­haft, und ich gar nichts, gar nichts, ich mag mich nicht ein­mal umbrin­gen: es ist zu lang­weilig:

O Gott! in Deines Licht­es Welle,
In Deines glüh‘nden Mit­tags Helle,
Sind meine Augen wund gewacht.
Wird es denn niemals wieder Nacht?

Ober­lin blick­te ihn unwillig an und wollte gehen. Lenz huschte ihm nach und, indem er ihn mit unheim­lichen Augen ansah: Sehn Sie, jet­zt kommt mir doch was ein, wenn ich nur unter­schei­den kön­nte, ob ich träume oder wache; sehn Sie, das ist sehr wichtig, wir wollen es unter­suchen, – er huschte dann wieder ins Bett. Den Nach­mit­tag wollte Ober­lin in der Nähe einen Besuch machen; seine Frau war schon fort; er war im Begriffe wegzuge­hen, als es an seine Thüre klopfte, und Lenz here­in­trat mit vor­wärts gebo­gen­em Leib, nieder­wärts hän­gen­dem Haupt, das Gesicht über und über und das Kleid hie und da mit Asche bestreut, mit der recht­en Hand den linken Arm hal­tend. Er bat Ober­lin, ihm den Arm zu ziehen, er hätte ihn ver­renkt, er hätte sich zum Fen­ster herun­tergestürzt; weil es aber Nie­mand gese­hen, wollte er es auch Nie­mand sagen. Ober­lin erschrack heftig, doch sagte er nichts, er that, was Lenz begehrte; zugle­ich schrieb er an den Schul­meis­ter in Belle­foße, er möge herun­terkom­men, und gab ihm Instruk­tio­nen, dann ritt er weg. Der Mann kam. Lenz hat­te ihn schon oft gese­hen und hat­te sich an ihn attachirt. Er that, als hätte er mit Ober­lin etwas reden wollen, wollte dann wieder weg. Lenz bat ihn zu bleiben, und so blieben sie beisam­men. Lenz schlug noch einen Spazier­gang nach Fou­day vor. Er besuchte das Grab des Kindes, das er hat­te erweck­en wollen, kni­ete zu ver­schiede­nen Malen nieder, küßte die Erde des Grabes, schien betend, doch mit großer Ver­wirrung, riß Etwas von den auf dem Grabe ste­hen­den Blu­men ab, als ein Andenken, ging wieder zurück nach Wald­bach, kehrte wieder um und Sebas­t­ian mit. Bald ging er langsam und klagte über große Schwäche in den Gliedern, dann ging er mit verzweifel­nder Schnel­ligkeit; die Land­schaft beängstigte ihn, sie war so eng, daß er an Alles zu stoßen fürchtete. Ein unbeschreib­lich­es Gefühl des Mißbe­ha­gens befiel ihn, sein Begleit­er ward ihm endlich lästig, auch mochte er seine Absicht erra­then und suchte ihn zu ent­fer­nen. Sebas­t­ian schien ihm nachzugeben, fand aber heim­lich Mit­tel, seinen Brud­er von der Gefahr zu benachrichti­gen, und nun hat­te Lenz zwei Auf­se­her, statt einen. Er zog sie weit­er herum; endlich ging er nach Wald­bach zurück, und da sie nahe an dem Dorfe waren, kehrte er wie ein Blitz wieder um und sprang wie ein Hirsch gen Fou­day zurück. Indem sie ihn in Fou­day sucht­en, kamen zwei Krämer und erzählten ihnen, man hätte in einem Hause einen Frem­den gebun­den, der sich für einen Mörder aus­gäbe, aber gewiß kein Mörder sein könne. Sie liefen in dies Haus und fan­den es so. Ein junger Men­sch hat­te ihn auf sein ungestümes Drän­gen in der Angst gebun­den. Sie ban­den ihn los und bracht­en ihn glück­lich nach Wald­bach, wo Ober­lin indessen mit sein­er Frau zurück­gekom­men war. Er sah ver­wirrt aus, da er aber merk­te, daß er liebre­ich und fre­undlich emp­fan­gen wurde, bekam er wieder Muth, sein Gesicht verän­derte sich vortheil­haft, er dank­te seinen bei­den Begleit­ern fre­undlich und zärtlich, und der Abend ging ruhig herum. Ober­lin bat ihn inständig, nicht mehr zu baden, die Nacht ruhig im Bette zu bleiben, und wenn er nicht schlafen könne, sich mit Gott zu unter­hal­ten. Er versprach‘s und that es so die fol­gende Nacht; die Mägde hörten ihn fast die ganze Nacht hin­durch beten. –

Den fol­gen­den Mor­gen kam er mit vergnügter Miene auf Oberlin‘s Zim­mer. Nach­dem sie Ver­schiedenes gesprochen hat­ten, sagte er mit aus­nehmender Fre­undlichkeit: Lieb­ster Herr Pfar­rer, das Frauen­z­im­mer, wovon ich Ihnen sagte, ist gestor­ben, ja gestor­ben, der Engel. – „Woher wis­sen Sie das?“ – Hiero­glyphen, Hiero­glyphen – und dann zum Him­mel geschaut und wieder: ja gestor­ben – Hiero­glyphen. – Es war dann nichts weit­er aus ihm zu brin­gen. Er set­zte sich und schrieb einige Briefe, gab sie dann Ober­lin mit der Bitte, einige Zeilen dazu zu set­zen. Siehe die Briefe.

Sein Zus­tand war indessen immer trost­los­er gewor­den. Alles, was er an Ruhe aus der Nähe Oberlin‘s und aus der Stille des Thales geschöpft hat­te, war weg; die Welt, die er hat­te nutzen wollen, hat­te einen unge­heuern Riß; er hat­te keinen Haß, keine Liebe, keine Hoff­nung – eine schreck­liche Leere und doch eine folternde Unruhe, sie auszufüllen. Er hat­te Nichts. Was er that, that er mit Bewußt­sein, und doch zwang ihn ein inner­lich­er Instinct. Wenn er allein war, war es ihm so entset­zlich ein­sam, daß er beständig laut mit sich redete, rief, und dann erschrack er wieder, und es war ihm, als hätte eine fremde Stimme mit ihm gesprochen. Im Gespräche stot­terte er oft, eine  unbeschreib­liche Angst befiel ihn, er hat­te das Ende seines Satzes ver­loren; dann meinte er, er müsse das zulet­zt gesproch­ene Wort behal­ten und immer sprechen, nur mit großer Anstren­gung unter­drück­te er diese Gelüste. Es beküm­merte die guten Leute tief, wenn er manch­mal in ruhi­gen Augen­blick­en bei ihnen saß und unbe­fan­gen sprach, und er dann stot­terte, und eine unaussprech­liche Angst sich in seinen Zügen malte, er die Per­so­n­en, die ihm zunächst saßen, krampfhaft am Arme faßte und erst nach und nach wieder zu sich kam. War er allein, oder las er, war‘s noch ärg­er, all seine geistige Thätigkeit blieb manch­mal in einem Gedanken hän­gen; dachte er an eine fremde Per­son, oder stellte er sie sich leb­haft vor, so war es ihm, als würde er sie selb­st, er ver­wirrte sich selb­st, und dabei hat­te er einen unendlichen Trieb, mit Allem um ihn im Geiste willkür­lich umzugehn; die Natur, Men­schen, nur Ober­lin ausgenom­men, – Alles trau­mar­tig, kalt; er amüsirte sich, die Häuser auf die Däch­er zu stellen, die Men­schen an- und auszuk­lei­den, die wah­n­witzig­sten Pos­sen auszusin­nen. Manch­mal fühlte er einen unwider­stehlichen Drang, das Ding, das er ger­ade im Sinne hat­te, auszuführen, und dann schnitt er entset­zliche Fratzen. Einst saß er neben Ober­lin, die Katze lag gegenüber auf einem Stuhl. Plöt­zlich wur­den seine Augen starr, er hielt sie unver­rückt auf das Thi­er gerichtet; dann glitt er langsam den Stuhl hin­unter, die Katze eben­falls, sie war wie beza­ubert von seinem Blick, sie geri­eth in unge­heure Angst, sie sträubte sich scheu, Lenz mit den näm­lichen Tönen, mit fürchter­lichem, entstell­tem Gesichte; wie in Verzwei­flung stürzten Bei­de aufeinan­der los, da endlich erhob sich Madame Ober­lin, um sie zu tren­nen. Dann war er wieder tief beschämt. Die Zufälle des Nachts steigerten sich auf‘s Schreck­lich­ste. Nur mit der größten Mühe schlief er ein, während er zuvor noch die schreck­liche Leere zu füllen ver­sucht hat­te. Dann geri­eth er zwis­chen Schlaf und Wachen in einen entset­zlichen Zus­tand; er stieß an etwas Grauen­haftes, Entset­zlich­es, der Wahnsinn pack­te ihn, er fuhr mit fürchter­lichem Schreien, in Schweiß gebadet, auf, und erst nach und nach fand er sich wieder. Er mußte dann mit den ein­fach­sten Din­gen anfan­gen, um wieder zu sich zu kom­men. Eigentlich nicht er that es, son­dern ein mächtiger Erhal­tungstrieb; es war als sei er dop­pelt, und der eine Theil suche den andern zu ret­ten, und riefe sich selb­st zu; er erzählte, er sagte in der heftig­sten Angst Gedichte her, bis er wieder zu sich kam.

Auch bei Tage bekam er diese Zufälle, sie waren dann noch schreck­lich­er; denn son­st hat­te ihn die Helle davor bewahrt. Es war ihm dann, als exi­s­tire er allein, als bestünde die Welt nur in sein­er Ein­bil­dung, als sei nichts, als er; er sei das ewig Ver­dammte, der Satan, allein mit seinen foltern­den Vorstel­lun­gen. Er jagte mit rasender Schnel­ligkeit sein Leben durch, und dann sagte er: con­se­quent, con­se­quent; wenn Jemand etwas sprach: incon­se­quent, incon­se­quent; es war die Kluft unret­tbaren Wahnsinns, eines Wahnsinns durch die Ewigkeit. Der Trieb der geisti­gen Erhal­tung jagte ihn auf, er stürzte sich in Oberlin‘s Arme, er klam­merte sich an ihn, als wolle er sich in ihn drän­gen; er war das einzige Wesen, das für ihn lebte, und durch den ihm wieder das Leben offen­bart wurde. Allmäh­lig bracht­en ihn Oberlin‘s Worte dann zu sich, er lag auf den Knieen vor Ober­lin, seine Hände in den Hän­den Oberlin‘s, sein mit kaltem Schweiße bedeck­tes Gesicht auf dessen Schooß, am ganzen Leibe bebend und zit­ternd. Ober­lin emp­fand unendlich­es Mitleid, die Fam­i­lie lag auf den Knieen und betete für den Unglück­lichen, die Mägde flo­hen und hiel­ten ihn für einen Besesse­nen. Und wenn er ruhiger wurde, war es wie der Jam­mer eines Kindes, er schluchzte, er emp­fand ein tiefes, tiefes Mitleid mit sich selb­st; das waren auch seine selig­sten Augen­blicke. Ober­lin sprach von Gott. Lenz wand sich ruhig los und sah ihn mit einem Aus­druck unendlichen Lei­dens an und sagte endlich: aber ich, wär‘ ich allmächtig, sehen Sie, wenn ich so wäre, ich kön­nte das Lei­den nicht ertra­gen, ich würde ret­ten, ret­ten; ich will ja nichts als Ruhe, Ruhe, nur ein wenig Ruhe, um schlafen zu kön­nen. Ober­lin sagte, dies sei eine Pro­fa­na­tion. Lenz schüt­telte trost­los mit dem Kopfe. Die hal­ben Ver­suche zum Entleiben, die er indeß fortwährend machte, waren nicht ganz Ernst. Es war weniger der Wun­sch des Todes – für ihn war ja keine Ruhe und Hoff­nung im Tode, – es war mehr in Augen­blick­en der fürchter­lich­sten Angst oder der dumpfen, ans Nicht­sein gränzen­den Ruhe ein Ver­such, sich zu sich selb­st zu brin­gen durch physis­chen Schmerz. Augen­blicke, worin sein Geist son­st auf irgend ein­er wah­n­witzi­gen Idee zu reit­en schien, waren noch die glück­lich­sten. Es war doch ein wenig Ruhe, und sein wirrer Blick war nicht so entset­zlich, als die nach Ret­tung dürs­tende Angst, die ewige Qual der Unruhe! Oft schlug er sich den Kopf an die Wand oder verur­sachte sich son­st einen hefti­gen physis­chen Schmerz.

Den 8. Mor­gens blieb er im Bette, Ober­lin ging hin­auf; er lag fast nackt auf dem Bette und war heftig bewegt. Ober­lin wollte ihn zudeck­en, er klagte aber sehr, wie schw­er Alles sei, so schw­er, er glaube gar nicht, daß er gehen könne, jet­zt endlich empfinde er die unge­heure Schwere der Luft. Ober­lin sprach ihm Muth zu. Er blieb aber in sein­er früh­ern Lage und blieb den größten Theil des Tages so, auch nahm er keine Nahrung zu sich. Gegen Abend wurde Ober­lin zu einem Kranken nach Belle­foße gerufen. Es war gelin­des Wet­ter und Mond­schein. Auf dem Rück­wege begeg­nete ihm Lenz. Er schien ganz vernün­ftig und sprach ruhig und fre­undlich mit Ober­lin. Der bat ihn nicht zurück zu gehen; er versprach‘s; im Weggehn wandte er sich plöt­zlich um und trat wieder ganz nahe zu Ober­lin und sagte rasch: Sehen Sie, Herr Pfar­rer, wenn ich das nur nicht mehr hören müßte, mir wäre geholfen. – „Was denn, mein Lieber?“ – Hören Sie denn nichts, hören Sie denn nicht die entset­zliche Stimme, die um den ganzen Hor­i­zont schre­it, und die man gewöhn­lich die Stille heißt. Seit­dem ich in dem stillen Thale bin, hör ich‘s immer, es läßt mich nicht schlafen, ja Herr Pfar­rer, wenn ich wieder ein­mal schlafen kön­nte! Er ging dann kopf­schüt­tel­nd weit­er. Ober­lin ging zurück nach Wald­bach und wollte ihm Jemand nach­schick­en, als er ihn die Stiege hin­auf in sein Zim­mer gehen hörte. Einen Augen­blick darauf platzte etwas im Hofe mit so starkem Schalle, daß es Ober­lin unmöglich von dem Falle eines Men­schen herzukom­men schien. Die Kinds­magd kam todt­blaß und ganz zit­ternd. …

Er saß mit kalter Res­ig­na­tion im Wagen, wie sie das Thal her­vor nach West­en fuhren. Es war ihm ein­er­lei, wohin man ihn führte; mehrmals wo der Wagen bei dem schlecht­en Wege in Gefahr geri­eth, blieb er ganz ruhig sitzen; er war vol­lkom­men gle­ichgiltig. In diesem Zus­tande legte er den Weg durchs Gebirg zurück. Gegen Abend waren sie im Rheinthale. Sie ent­fer­n­ten sich allmäh­lig vom Gebirge, das nun wie eine tief­blaue Krys­tall­welle sich in das Aben­droth hob, und auf deren warmer Fluth die rothen Strahlen des Abends spiel­ten; über die Ebene hin am Fuße des Gebirgs lag ein schim­mern­des, bläulich­es Gespinnst. Es wurde fin­ster, jemehr sie sich Straßburg näherten; hoher Voll­mond, alle fer­nen Gegen­stände dunkel, nur der Berg neben bildete eine scharfe Lin­ie; die Erde war wie ein gold­en­er Pokal, über den schäu­mend die Gold­wellen des Mon­des liefen. Lenz star­rte ruhig hin­aus, keine Ahnung, kein Drang; nur wuchs eine dumpfe Angst in ihm, je mehr die Gegen­stände sich in der Fin­stern­iß ver­loren. Sie mußten einkehren, da machte er wieder mehrere Ver­suche, Hand an sich zu leg­en, war aber zu scharf bewacht. Am fol­gen­den Mor­gen, bei trübem, reg­ner­ischem Wet­ter, traf er in Straßburg ein. Er schien ganz vernün­ftig, sprach mit den Leuten; er that Alles wie es die Andern that­en; es war aber eine entset­zliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Ver­lan­gen, sein Dasein war ihm eine noth­wendi­ge Last. – – So lebte er hin. …