Wunder erzählt man sich von ihr viele, festgehalten sind nur wenige, woran sich die jeweils Ältesten von Generation zu Generation erinnern, die das meiste schon vergessen haben, das sie an die Jüngsten weitergeben, die das Halbe nicht verstehen. Das rächt sich. Später kann man nicht mehr wissen, ob es simple Vorgänge waren, aus denen sich vor lauter Erinnerungslücken und Unverständnis Wunder ergeben haben, oder Vorgänge, die sich jeder Vorstellungskraft entziehen, wie das Barbarazweigwunder: Man reißt bei der Flucht vor seinen Verfolgern einen Zweig ab, bewahrt ihn auf, wird aufgegriffen, geköpft und der Zweig beginnt zu blühen. Ohne Baum, ohne danach etwas tragen zu können. Ein Wunder, das sich seit damals mit einem eigenen abgeschnittenen bei sich zu Hause eingewässerten Obstbaumast zwischen Anfang und Ende Dezember nach 20 Tagen jederzeit wiederholen lässt.
Oder das Wunder der Barbara-Kanonendurchschlagskraft: Die Kanonen treffen, bewirken aber nichts. Erst mit ihrer Anrufung stürzen die Befestigungsmauern der maurischen Städte ein und bekehren sich ihre Bewohner angesichts dieses Wunders zum Christentum. Ein Wunder, das viele Male nachgemacht wurde und sich bis heute wiederholt. An Hauswänden, Gartenmauern, Umzäunungen von Sanatorien, Spitälern, Schulen, Kindergärten oder Wohnungen. Schauspiel ist so etwas natürlich keines, nur nicht zu erklären.
Barbara, die Kopflose. Barbara, die Schutzpatronin der Artillerie. Barbara, der Notausgang der letzten Ersatzölung, an die man denkt, wenn man noch zum Denken kommt und keine Zeit mehr zum Holen eines Priesters bleibt. Barbara, die Heilige der Verschütteten, wenn keine Aussicht auf Licht in Reichweite ist. Barbara, die Nothelferin der Überlebenden der Entschärfungsdienste und der Sprengmeister, die alles aus dem Weg räumen, was im Weg ist, Barbara auf den beiden Seiten, auf der von denen, die schießen und Sprengfallen legen und auf der von denen, die es trifft.
Von alleine kommt nichts und schon gar nicht aus heiteren Himmel: Eingesperrt vom Vater, in ihrer großen Schönheit reserviert für einen nach dem anderen, die sie alle nicht will, versteckt auf der Flucht in einem Felsen, der sich für sie geöffnet hat, verraten und vom eigenen Vater geköpft, den daraufhin der Blitz erschlägt. Ausführlichere Quellen beschreiben ihre seelischen und körperlichen Qualen ausführlicher, weniger ausführlichere weniger, sie ändern aber an ihrem Lebensweg nichts, der einmal von Entsagung, ein anderes Mal von ihrer Verweigerung und wieder ein anderes Mal als Leidensweg gekennzeichnet ist.
Die einen Quellen sagen, sie hat dann gelebt und dort, die anderen sagen, dort und dann, wieder andere sagen, sie hat nie gelebt, sie kommt von nirgendwo, nichts davon ist wahr, nichts nachgewiesen. Nur ihr Schutz, ihre Wundertätigkeit, ihre Nothilfe. Nur die Orte mit Barbara-Verehrungen, mit Barbara-Salutschüssen, mit Barbara-Artilleristen- und Kanonen-Taufen, mit Barbara-Veteranen-Artilleristen-Essen oder mit Barbara-Geschenkzweigen.
Jeder Ort hat seine eigenen Barbara-Gewohnheiten und Barbara-Eigenheiten, eine gestiftete Barbara-Kapelle oder eine der Heiligen Großmärtyrerin gewidmete Kirche, eine Barbara-Reliquie mit Spuren der Einwirkung von Gewaltanwendung, je nachdem, ob sie in einer Erzählung vor ihrer nicht nachgewiesenen Enthauptung in ihrer nicht nachgewiesenen Existenz stärker oder weniger stark gefoltert worden ist.