Das war gestern, das war heute

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Auf dem Bild­schirm erscheint plöt­zlich das Mäd­chen im pink­far­be­nen Anorak, vielle­icht acht oder neun Jahre alt: In der Warte­halle des Bahn­hofs von Kram­a­torsk sitzt sie auf einem der vie­len Gepäck­stücke, die um sie herum abgestellt sind, sie selb­st hat ihre Schul­tasche umge­hängt, mit müden, trau­ri­gen Augen blickt sie in die Kam­era. Hat jemand zu ihr gesagt: Sieh her! oder: Wie heißt du?, und ist schnell weit­erge­gan­gen? Man erfährt: Am Mor­gen wurde die Schule im Zen­trum von Kram­a­torsk bom­bardiert – am Tag 41 des Krieges, das war am 5. April. Noch fahren Züge, mit denen man die Stadt ver­lassen kann.

Dann ist das Bild auch schon ver­schwun­den, als wäre es selb­st nur eine Flüchtigkeit gewe­sen. Während seit Jahren jene sepi­agetönte, halb schon verblasste Fotografie auf meinem Schreibtisch liegt, ein Bild aus einem anderen, längst ver­gan­genen Krieg. Man sagt das so leicht: Wie sich Geschichte wieder­holt!, wenn Bilder von damals und heute einan­der ähneln, als würde über die Zeit­en hin­weg immer das Gle­iche geschehen. Auf die Rück­seite hat jemand geschrieben: „10. Feb­ru­ar 1915 / in Lun­den­burg / auf der Flucht“. Da waren sie schon seit Wochen da, in ein­er der kurzfristig ein­gerichteten Unterkün­fte, ver­mut­lich einem Schul­ge­bäude, behelf­s­mäßig, in den Klassen­räu­men hat­te man Stroh aufgeschüt­tet. Hätte ein Reporter sie damals befragt, sie hät­ten von zu Hause erzählt, wie es war, ihr Leben, bevor das rus­sis­che Mil­itär nach Gal­izien kam. Im Novem­ber hat­ten sie auch Jasło beset­zt, eine Kle­in­stadt, unbe­deu­tend, irgend­wo zwis­chen Krakau und Lem­berg, im Vor­land der Karpat­en. Die Öster­re­ich­er zogen sich schnell zurück, die Beamten, und mit ihnen die Juden flo­hen aus der Stadt, weil sie wussten, was ihnen passiert, wenn die Sol­dat­en des Zaren kom­men.

Auf dem Bild Wochen später, aufgenom­men in einem Fotoate­lier in Lun­den­burg (heute ein tschechis­ch­er Gren­zort), ist vom Grauen des Krieges nichts zu bemerken, oder sollte man Angst und Schreck­en den Gesichtern anse­hen kön­nen? Ein Fam­i­lien­bild, wie es so viele damals, vorher und nach­her wieder, gegeben hat. Man zog die Kinder hüb­sch an, ging im Son­ntags­ge­wand ins Ate­lier und nahm vor einem fan­tastis­chen Hin­ter­grund Platz, ein­er unwirk­lichen Land­schaft, um das, was man war, für die Ewigkeit festzuhal­ten. Nicht viel mehr als ein Büh­nen­bild mit Fam­i­lie. Und was bedeutet schon ewig?

Über­haupt hat­ten sie sich zum ersten Mal fotografieren lassen, als Flüchtlinge in ein­er frem­den Stadt, wo sie nie­man­den kan­nten und nie­mand sie gekan­nt hat. So vieles geschieht in einem Krieg zum ersten Mal. Dabei ist nicht zu erken­nen, dass sie Geflo­hene sind, Fremde, die nicht hier­herge­hören. Chaim und Cha­ja Sil­ber, bei­de aufrecht sitzend, er im schwarzen Anzug, eine Jar­mulke auf dem Kopf, sie in hochgeschlossen­er, spitzenbe­set­zter Bluse und boden­langem Rock, den recht­en Arm ein wenig steif über die Hüfte gelegt. Zwis­chen ihnen der Jüng­ste, Sala­m­on, ein dreivier­tel Jahr alt. Links außen Wolf, den sie Wowek nan­nten. Auch er auf einem Stuhl, die Beine selb­st­be­wusst übere­inan­dergeschla­gen; er trägt einen Hut wie ein Erwach­sen­er, aber da war er erst sieben. Hin­ter ihm Yitzhak, der Ältere, zwölf oder dreizehn. Rechts die Töchter, Rachel und Git­ka. Die eine fast schon eine junge Frau, obwohl sie erst vierzehn ist, sie ste­ht kerzenger­ade hin­ter einem run­den Tisch, auf dem Tisch eine Vase mit Blu­men. Vor ihr sitzt Git­ka, den recht­en Arm auf den Tisch aufgelegt. Sie ist zehn, trägt Schul­mäd­che­nuni­form, im geflocht­e­nen Haar eine weiße Schleife. Ganz vorne in der Mitte Aron, er hat eine Matrosen­mütze auf, die Hände wie ein klein­er Sol­dat an der Hosen­naht, in einem Monat wird er drei Jahre alt. Wird er sich später noch an den Augen­blick erin­nern?

Als sie nach Jasło zurück­kehrten, war die halbe Stadt zer­stört. Zu Pes­sach, ja, zu Pes­sach, hat­ten sie gesagt, da sind wir wieder zu Hause! Sie kamen mit den ersten Schwal­ben. Und erschrak­en. Leere, demolierte Häuser warteten auf sie, nack­te Wände. Die Russen hat­ten alles, was sie tra­gen kon­nten, mitgenom­men, und was sie nicht plün­derten, zer­schlu­gen und zer­tram­pel­ten sie. Zum Beispiel das ird­ene Geschirr in der Küche, es lag zer­schla­gen auf dem Boden. Warum nur, warum? Aber ist das nicht immer so im Krieg? Und wie sah es erst in der Schule aus! Die Türen und Fen­ster her­aus­geris­sen, sog­ar die Dachspar­ren fehlten. Man blick­te sich um in der Stadt, vor allem die Häuser der Juden waren zer­stört, und die, die geblieben waren, erzählten, was sie täglich erdulden mussten. Sie wur­den beschimpft, geschla­gen, bestohlen auf offen­er Straße. Und wäre es nur das gewe­sen. Von eini­gen hat­te man nichts mehr gehört, nur dass die Russen sie ver­schleppt hät­ten, als Geiseln mitgenom­men wie den Rab­bi Mendel (er ist nie mehr zurück­gekehrt). Gibt es ein Bild von ihm? Weiß man, wie auch die anderen aus­ge­se­hen haben, die in diesem Krieg ver­schwan­den?

Nach mehr als hun­dert Jahren weiß man immer­hin: Das waren die Sil­ber, das sind sie gewe­sen. Auch wenn es nur eine Zufäl­ligkeit war, denn die Fotografie hätte genau­so gut irgend­wann später ver­loren gehen kön­nen, so lange dauert die Ewigkeit. In dieser Ewigkeit blick­en sie ernst, aber nicht bedrückt zum Fotografen. Der übliche Gesicht­saus­druck und die ein wenig steife Kör­per­hal­tung auf bürg­er­lichen Fotografien. Nur im Gesicht von Git­ka und Wowek ist der Anflug eines kleinen Lächelns zu erken­nen – oder ist das Unsicher­heit? Git­ka, die mich jet­zt an das Mäd­chen auf dem Bahn­hof von Kram­a­torsk erin­nert – das ganz ähn­liche Gesicht, die fast gle­ichen Augen –, wenn nur das Mäd­chen in Kram­a­torsk auch lächeln kön­nte, denke ich, sie weiß doch, dass sie fotografiert wird. Stattdessen der ver­weinte Blick. Offen­bar war im Foto­stu­dio von Lun­den­burg die Verzwei­flung schon aus den Gesichtern gewichen, man war am Leben geblieben und hat­te die Hoff­nung, alles werde wieder gut. Vielle­icht ist es diese schein­bare Gelassen­heit, die Zuver­sicht, die den Betra­chter über­rascht. Aber ist es so? Die Auf­nahme sagt: Hier sind wir – wir, die Geflüchteten, Geretteten –, seht her. Als bräuchte es in solchen Sit­u­a­tio­nen ein Bild, das alles, was jet­zt und noch geschieht, über­dauert. Etwas, das von den Men­schen bleibt.

Später gab es dazu offen­bar keinen Anlass mehr. Die Fotografie von 1915, an einem frem­den Ort aufgenom­men, ist das einzige Bild, auf dem man die gesamte Fam­i­lie zusam­men sieht. Ist das nicht merk­würdig? Vielle­icht weil die Augen­blicke so rar sind, wo alle in einem Bild zusam­men­rück­en, um sich der Erin­nerung zu über­lassen. Im Sep­tem­ber 1939 flo­hen die Sil­ber noch ein­mal – es gibt keine Garantie, dass einem im Leben nur ein Krieg wider­fährt. Eine Auf­nahme, die sie alle noch ein­mal zeigt, wurde nicht mehr gemacht, auch keine zum Abschied. Die Flucht ging dies­mal nach Osten, und jed­er weiß: Osten war ungewiss, doch es gab nur diese eine Rich­tung. Im Osten ver­loren sie sich, ver­schwan­den, ver­löscht­en, wie all die anderen auch. Aber das ist wieder eine eigene Geschichte, eine noch dun­klere, und sie wird vom gle­ichen Elend einge­holt, das das Gewe­sene hier noch schw­er­er macht.

Das war gestern, das war heute. Die Augen­blicke geschehen schnell. Auf dem Bahn­hof von Kram­a­torsk, wo sich die Flüch­t­en­den zusam­men­drän­gen, großteils Frauen und Kinder, wird nichts von ihnen bleiben als dieses und jenes Bild, von einem Presse­fo­tografen einge­fan­gen im Vor­beige­hen und Minuten später hochge­laden für unseren Blick. Man braucht keine Beschrei­bun­gen, man muss nicht ein­mal genau hin­se­hen, und nach­her wird sich ohne­hin nie­mand mehr umdrehen kön­nen nach dem, was zurück­blieb. Bleibt denn etwas zurück, wenn man geht?

An dem Tag, an dem das rus­sis­che Mil­itär auch den Bahn­hof angreift, haben sich ein paar Tausend hier aufge­hal­ten, haben auf ihre Evakuierung gewartet, darauf, dem Krieg zu entkom­men. Auf einem der Bilder später sieht man Leichen auf dem Vor­platz des Bahn­hofs liegen, not­dürftig zugedeckt. Daneben aus­ge­bran­nte Autos. Auf einem anderen Bild ste­hen, liegen einzelne Kof­fer herum, ver­waist, die nun nie­man­dem mehr gehören, da und dort Kinder­spielzeug, wie hingestreut oder ein­fach liegen geblieben, vergessen wor­den zwis­chen dem eingetrock­neten Blut. Jemand hat auch die Trüm­mer ein­er Rakete fotografiert, darauf kann man auf Rus­sisch noch lesen: „Für unsere Kinder“.

Man schreibt jet­zt Kom­mentare über das Töten und den Zynis­mus, mit dem das Töten bedacht wird. Das sagt man so ein­fach, und irgend­wann wird es fast selb­stver­ständlich, und die Bilder von Flucht und Vertrei­bung und Schmerz, von Ver­wun­de­ten und all den frem­den toten Kör­pern, die in Hin­ter­höfen ver­schar­rt oder ein­fach so auf der Straße liegen, wer­den aus­tauschbar. Wie jedes Wort. Und sie wer­den – so wie die Bilder der Geretteten – irgend­wann die Aufmerk­samkeit ver­lieren, die wir ihnen schulden.

Weil Bilder flüchtig sind, auch die, die man nicht mehr loswird. Einen Augen­blick sieht man noch die junge Frau, die ihr Kind im Arm hält und den kleinen Kör­p­er fest an sich drückt, während sie mit der anderen Hand eine Strähne aus ihrem Gesicht stre­icht. Ein unschein­bar­er Moment, in dem der Fotograf auf den Aus­lös­er drückt. Man notiert den Tag 44.