Lügen

Eine Erzählung

Von

Wie sie da ste­ht, den Rück­en an die küh­le Wand des Flurs gelehnt, blass wie das blasse Som­merkleid und die Lid­er gesenkt, ist sie ganz für sich. Ein Strauß Gräs­er und Schaf­garbe hängt ihr aus der Hand wie vergessen und sie sieht nicht auf, wenn sich eine Tür öffnet und ein Pfleger oder Ange­höriger an ihr vor­bei auf die Glastür zuge­ht, die diese Abteilung von anderen tren­nt.

Sie, Mar­i­on, wartet. Am Mor­gen, im Büro, hat sie ver­sucht, sich ein Bild des Ster­ben­den zu machen. Der Kopf wird haar­los sein, der Kör­p­er ble­ich und abgemagert, was sie nicht schreckt, denn so oder ähn­lich haben Fotos und Filme es gezeigt und die Romane beschrieben. Auch ist sie nicht gekom­men, um Abschied zu nehmen, dazu hat sie kein Recht. Sie möchte kurz danken. Wofür, hat er gewiss vergessen, ihr jedoch huschte die Szene jedes­mal durch den Kopf, wenn sie ihn sah. Lange genug hat sie damit gelebt, jet­zt kann sie durch ein paar Worte vielle­icht davon loskom­men, schw­er zu find­ende Worte, zugegeben, aber doch irgend­wie schon im Mund. Wie hat die vom recht­en Weg abgewich­ene Angeli­na gezit­tert, als sie zur ster­ben­den Mut­ter gerufen wurde und selb­st der kalt­blütige John bebte beim Anblick seines kaum noch atmenden Vaters. Trotz­dem haben sie und viele andere die Worte gefun­den, die ihr, der Leserin, würdig und richtig schienen. Ver­söh­nun­gen fan­den statt, Verge­bung wurde erlangt und anderes mehr, so dass im let­zt­möglichen Augen­blick Gut­sein und Güte leuchteten wie kaum erhofft.

Die Güte des Ster­ben­den, zu dem sie, Mar­i­on, sich auf den Weg gemacht hat, leuchtete schon im Leben. Insofern ist ihre Geschichte eine andere und sie muss das gute Ende mit eige­nen Wörtern aus­drück­en. Im Kino und in den Büch­ern spielt der Tod eine Rolle, manch­mal am Anfang, meis­tens am Ende, häu­fig wie bestellt, manch­mal über­raschend, und dass auch ihr, der Leserin, im eige­nen Leben und nicht erst im Ster­ben ein Licht auf­scheinen möge, hat sie nicht nur ein­mal gewün­scht. Aber als es erschien, blieb sie stumm.

Erst als sie erfuhr, dass der Kranke aus dem Kranken­haus ins Hos­piz ver­legt wurde, begann sie bei den abendlichen Spaziergän­gen am Fluss über einen Besuch nachzu­denken. Zu jedem Zeit­punkt kann ja der Tod ins Leben ein­brechen, er fol­gt kein­er Regel, und wer lebt oder liest, muss von Anfang an wis­sen, dass er sich zwis­chen Ver­schon­ten befind­et. Auch mich wird es tre­f­fen, denkt sie, und am besten, wenn es plöt­zlich und staunenswert geschieht nach einem so lang­weili­gen Leben. Bist immer da, blöder Tod, und genau genom­men kön­nten wir lebenslang in Schwarz herumge­hen und die Nase in schwarze Büch­er steck­en, aber ander­er­seits nein, so nicht.

Spazieren geht sie im Nor­den der Stadt, wo der Fluss ein paar Wiesen streift. Kön­nte sie einen Hund hal­ten, würde sie ihn dort aus­führen und anderen Hun­de­hal­tern begeg­nen, sie würde gegrüßt und kön­nte zurück grüßen: der erträumte Beginn ein­er schö­nen Erzäh­lung. So, ohne Hund, ern­tet sie manch­mal ein Kopfnick­en, einen Blick, wird aber nicht ange­sprochen, auch weil sie nach unten auf die Füße schauen muss, wegen der Hun­de­haufen. Über­all ist es eng und anstren­gend, ob auf dem von Gärten begren­zten Wiesenpfad oder im Bus, im Büro oder zuhause. Oft ver­flucht sie die Enge, manch­mal spürt sie ihre Hil­fe. Ich bin ger­ing, ich sehe zu kurz, ich gehe zu langsam, ich spreche zu zaghaft, ich brauche nahe Wände. Am lieb­sten wohnte ich in einem Kästchen und wäre