Drei-Minuten-Roman

Von

Als ich ein­undzwanzig war, ließ ich mir mein Erbteil auszahlen, ging damit nach Paris und brachte es ohne beson­dere Mühe in ganz kurz­er Zeit an die Frau. Mein lei­t­en­der Gedanke bei dieser Hand­lungsweise war: ich wollte das Leben aus der Per­spek­tive eines eige­nen Wagens, ein­er Opern­loge, eines unge­heuer teuren Bettes gese­hen haben. Hier­von ver­sprach ich mir lit­er­arische Vorteile. Bald stellte sich aber ein Irrtum her­aus. Es nutzte mir näm­lich nichts, daß ich alles besaß: ich fuhr fort, es mir zu wün­schen. Ich führte das sin­nen­starke Dasein wie in einem Traum, worin man weiß, man träume, und nach Wirk­lichkeit schmachtet. Ich schritt an der Seite ein­er chiken, ring­sum begehrten, mir gnädi­gen Dame nur wie neben den zer­fließen­den Schleiern mein­er Sehn­sucht…

Wenige Tausende lagen noch in mein­er Brief­tasche, da öffnete ich sie unvor­sichtiger­weise eines Nachts auf einem öffentlichen Ball unter den Augen eines jun­gen Mäd­chens. Sie lud mich ein und ich fol­gte ihr weitab in ein kel­leriges Haus mit schlüpfrigen Trep­pen und mit Wän­den, von denen es troff. Ich hat­te soeben meinen Rock über einen Stuhl gehängt, da klappte der Bettvor­leger, auf dem ich stand, mit­samt einem Stück Diele nach unten, und ich rutschte in einen Schacht hinein. Er war ziem­lich weit. Ein Vor­sprung ermöglichte es mir, drei oder vier Fuß unter­halb des soeben ver­lasse­nen Zim­mers einen Aufen­thalt zu nehmen und der Freude ein­er weib­lichen und ein­er männlichen Stimme über meine Hin­ter­lassen­schaft beizu­wohnen … Auch das war eine Per­spek­tive. Es war nicht jene ober­weltliche, der zuliebe ich nach Paris gekom­men war. Es war eine aus traum­fremder, aus traum­schlim­mer Tiefe. Aber ihr eignete etwas Stil­len­des.

Damals blieb mir kaum noch Drang, wieder ans Licht zu steigen. Übri­gens ging die Klappe in die Höhe. Ich schloß die Augen und ließ mich weit­er hin­un­ter­gleit­en. Wider Erwarten brach ich nicht den Hals, son­dern entkam durch einen Kanal. Entkam bis nach Flo­renz — wo ich mir wün­schte, den gepud­erten Pier­rot zu lieben, der in ein­er Pan­tomime des Teatro Pagliano jeden Abend vor einem Hauben­stock in die Knie sank, weil er zu schüchtern war, es vor sein­er Ange­beteten zu tun; der sie bekam, bet­rog, arm machte; der spielte, stahl, und dem seine kindlich hingetän­del­ten Ver­brechen immer schmelzen­dere Kreise um seine unschuldigen Sün­der­au­gen zogen. Zulet­zt starb er, am Schluß eines etwas frosti­gen April­t­ages, in all sein­er rosi­gen Verderbtheit, zu den leicht­en Trä­nen ein­er schlanken, biegsamen Musik … Ich wün­schte mir, ihn zu lieben. Nur war er, wenn er die Bühne ver­ließ, eine bedeu­tende Cour­tisane und kostete allein den Con­te Sound­so im Monat tausend Lire, was in Flo­renz sehr, sehr viel Geld ist. Ich ging also zu ihrem Coif­feur und gab ihm meinen let­zten Kassen­schein dafür, daß er mich anlernte und mit Schminken und Pud­er zu ihr in die Garder­obe schick­te. Meine Dien­ste befriedigten sie nicht immer; und die erste Berührung ihrer schö­nen, vollen und spitzen Hand erfuhr ich in meinem Gesicht. Eines Abends, als ich ihr eine neue Per­rücke auf­pro­bieren sollte, wagte ich mich mit allem her­aus und ward von ihr ent­lassen. Ich wün­schte mir weit­er, sie zu lieben…

Unsere Beziehun­gen entwick­el­ten sich jäh. Der Con­te Sound­so, von dem sie tausend Lire bekam, zog sich plöt­zlich und unter Protest von ihr zurück. Er hat­te bere­its den größten Teil sein­er Fam­i­lie unglück­lich gemacht: durch ihre Schuld, wie er vor­gab. Auch andere erk­lärten sich für geschädigt in ihrem Besten, dank ihr. Nun ward sie selb­st von allen ent­lassen, wie sie mich ent­lassen hat­te; auch von ihrem Direk­tor. Bald mußte sie, gepfän­det, dem Hos­pi­tal ent­laufen, ver­achtet und umherge­jagt, sich beg­nü­gen mit dem, was auf der Straße zu find­en ist. Und so oft sich noch ein­er von diesen durch sie ins Verder­ben ziehen ließ, erlitt sie selb­st dabei die unsin­nig­sten Schmerzen … Dies war der Zeit­punkt, wo sie mir erlaubte, ihr ein Lager aufzuschla­gen in mein­er Dachkam­mer am Ende der engen und volkre­ichen Via dell’ Agno­lo. Da lag sie nun in den Mond­nächt­en, den Kopf an der dunkeln Wand, nur die Hände immer unter­wegs zu geis­ter­haft grellen Schlichen und Win­dun­gen, wie kranke, lau­nis­che Blu­men, die nach Insek­ten schnap­pen. Ich saß am Tisch bei ein­er Tal­gk­erze und schrieb. Es war eine hal­lende, glitzernde, stahlblaue Stille in der Weite; und der junge Pier­rot war mondgepud­ert und ster­bens­müd aus seinen Sün­den­fahrten her­ge­taumelt, grad’ in mein Zim­mer. Wie ich mir wün­schte, ihn zu lieben! … Sie schlug den Blick auf, schmelzend von san­ftem Erstaunen über das Schick­sal. Sie ließ sich wider­willig pfle­gen von mir, suchte dabei immer mit den Augen in mir. Sie ver­achtete mich, weil ich noch bei ihr aushielt. Sie begehrte mich, weil sie mich nicht begriff. Sie hat­te manch­mal Grauen, manch­mal stür­mis­ches Ver­lan­gen, manch­mal Haß. Sie quälte mich, ganz glück­lich, noch ein wenig böse sein zu dür­fen, noch einen Schat­ten von Rache zu haben für das, was mit ihr geschah. Dann weinte sie an mein­er Schul­ter. Und wieder sucht­en ihre Augen in mir: warum ich sie noch liebe. Eine Antwort bekam sie nicht. Hat­te ich sie doch niemals geliebt; ich wün­schte es mir nur…

In ein­er dieser Nächte starb sie. Ich stieg darauf zur Straße hinab; und die leere Via dell’ Agno­lo ent­lang und die kleinen rinnsteinar­ti­gen Neben­gassen ent­lang weinte ich in der Fin­ster­n­is Trä­nen, auf die ich namen­los stolz war, und deren Ver­siegen ich nicht erleben wollte … Sie dauerten nicht viel weniger als eine Stunde: die Stunde, die in mein­er Erin­nerung das beste, wahrste, schön­ste Stück meines Lebens umfaßt … Aber ich ward schon matt; — und inmit­ten der Scham und des Zornes über mein Ver­sagen fand ich ganz bequem dazu Muße, um mein Leben zu ban­gen, weil vor meinem Hause zwei verdächtige Gesellen standen. Ich ging auf sie los, aus Furcht davor, ihnen den Rück­en zuzukehren. Der eine hat­te eine zer­quetschte Nase, Kalmück­e­nau­gen, einen viereck­i­gen Oberkör­p­er, kurze, krumme Beine. Der andere, in einem dün­nen Jäckchen und mit etwas Schwarzem um den Hals, war schlank, dunkel, außeror­dentlich schön. Er set­zte sich in Bewe­gung, kam mit der Hand in der inneren Brust­tasche und den andern neben sich, mir ent­ge­gen. Er hat­te den Gang der Toten! … Ich tat geban­nt und doch mit fliegen­den Sin­nen noch zwei Schritte. Aus seinem blassen, dick­lip­pi­gen Gesicht — ihrem Gesicht — sah ich schon die Wim­pern schwarz her­ausstechen. Das Heft des Messers erschien in sein­er Faust am Rande des Jäckchens. Mein Tod stand beschlossen auf seinem Gesicht. Auf dem der Toten. Sie hat­ten nur eines, denn er war ihr Brud­er. Er war mit einem Kumpa­nen in die Stadt gekom­men, um sie von mir zu befreien; weil er der Mei­n­ung war, daß sie im Getän­del mit mir ihr Geschäft ver­säume und darum den Eltern und ihm kein Geld mehr schicke.

Auf ein­mal — fast berührte ich mich schon mit ihrem Brud­er — wichen die zwei mir im Bogen aus, gaben den Weg frei, ver­leugneten mich und ver­schwan­den. Ich kon­nte, halb ohn­mächtig, nicht mehr beurteilen, was vorg­ing. Dann erst hörte ich den Trab eines Drit­ten, der aus dem Dunkel her­vor, dazwis­chenge­treten war. Es war ein schmächtiger Men­sch mit einem Röckchen über dem Arm, und hat­te es sehr eilig, weit­erzukom­men. Aus Dankbarkeit, aus Kopflosigkeit, aus Gemein­schafts­ge­fühl machte ich zwei lange Sätze hin­ter ihm her. Er rück­te geäng­stet die linke Schul­ter, fing an zu laufen. Er lief davon vor mir; er hielt mich für etwas anderes als ich war. Auch ihr Brud­er hat­te mich ver­wech­selt. Und ich habe das Gefühl, als sei der Verkehr von Men­schen immer so ein rat­los­es und grausames Durcheinan­der von Irrtümern, wie diese nächtliche Szene an der Ecke der Via dell’ Agno­lo…

In Mai­land, mein­er Heimat­stadt, ließ ich mir etwas Geld geben für das, was ich geschrieben hat­te in den frag­würdi­gen Nächt­en gegenüber ein­er Kranken, die ich nicht liebte. Eine hochste­hende, begabte Dame warf sich aus diesem Anlaß auf mich. Sie sagte, sie suche, seit sie lebe; ihre Exis­tenz sei tragisch; und den, der dies geschrieben habe, müsse sie lieben. Ich fand im stillen, das gehe nicht mich an, und war höflich. Ich schulde ihr Dank, behauptete sie; denn nie­mand auf der Welt werde mich je ver­ste­hen wie sie. Das gab ich nicht zu, sträubte mich und erkan­nte meine Schuld nicht an. Ihre Exis­tenz sei tragisch, wieder­holte sie, und ein Sturz vom Felsen von Leukos werde sie enden. Ich war entrüstet, geschme­ichelt und befremdet. Wie kam ich zu solchen Din­gen? Ich wollte nichts von ihnen wis­sen. Nie­man­dem erteilte ich das Recht, meine Ein­samkeit zu brechen. Die chiken, ring­sum begehrten, mir gnädi­gen Damen mein­er Jugend waren nur mit zer­fließen­den Schleiern an mir hingestreift. Pier­rot war mondgepud­ert gestor­ben, wie ein Reflex. Und ein Kör­p­er wollte nun hinein zu mir? Wollte mich heilen? Mir Wirk­lichkeit ver­lei­hen? Mir mein Lei­den fortlieben? Aber alles Inter­esse an mir selb­st hing ab für mich von diesem Lei­den! Jedes kranke Gesicht ist vornehmer als jedes gesunde. Ich war nicht geneigt, zu sinken. Ich ver­suchte ihr nahe zu brin­gen, daß sie sich wider­spreche, wenn sie mich für meine Büch­er lieben wolle: denn dies hebe meine Büch­er auf. Es kam ihr nicht nahe; sie wollte ja glück­lich sein, also glück­lich machen. Was waren ihr Büch­er. Ich fand sie schließlich nur noch dumm und mißhan­delte sie dafür, entschlossen, aber mit dem Vor­be­halt, mich dieses Stück­es Seele zu schä­men, wenn einst Zeit dazu wäre, und Kun­st zu machen aus der Scham…

Als ihre Kri­sis über­standen war und sie anf­ing, sich loszulösen, holte ich sie zurück und nötigte sie, meine Fre­undin zu sein. Es befriedigte mich, sie als einen Beweis mein­er unge­broch­enen Ein­samkeit vor Augen zu haben…

Diese Ein­samkeit gle­icht ein­er jähen Wind­stille vor der Aus­fahrt. Eben klet­tern noch eine Menge Matrosen rast­los umher an Mas­ten und Schiff­swän­den, heben Anker, binden Segel los, span­nen sie aus. Im näch­sten Augen­blick fall­en die Segel schlaff zusam­men, das Schiff rührt sich nicht, die Leute rutschen herab, ste­hen und sehen sich an … Auf diesen Seit­en haben sich wohl ungewöhn­liche Sachen ereignet? Meine Lebensstim­mung aber ist kahl, als sei nie etwas eingetrof­fen. Sind hier etwa die Mit­glieder eines her­vor­ra­gen­den Var­iétés, dem Pub­likum zu heftiger­er Unter­hal­tung, sämtlich wahnsin­nig gewor­den? Ich meinesteils sitze, scheint mir, die ganze Zeit vor einem Grau-in-Grau-Stück, wo lebenslänglich auf lang­weilige Art gestor­ben wird. Was ist Wirk­lichkeit.

Wirk­lich waren vielle­icht die Trä­nen, die ich einst die leere Via dell’ Agno­lo ent­lang und die kleinen rinnsteinar­ti­gen Neben­gassen ent­lang geweint habe, in ein­er Nacht, fast eine Stunde. Die Stunde war wirk­lich. Von einem Leben fast eine Stunde. Oder wenig­stens die erste halbe Stunde war wirk­lich. Vielle­icht … Aber es ist nicht ganz sich­er.