Szenen einer Revolution

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Blas­musik unterm Balkon, rote Käp­pis weiße Jack­en, zugeknöpft bis oben hin, Schat­ten schief im Gle­ich­schritt, sechs in ein­er Rei­he in sechs Rei­hen, vorn der Staffel­stab, stoßwärts die Stan­darte, Schat­ten wie Tor­nister am Rück­en, Stech auf Schritt, eins zwei, eins zwei drei vier. Die Musik hält inne, bleibt ste­hen, pausiert. Sechs weiße Rei­hen, rot­gepunk­tet, und tol­lende Kinder, ein Junge erwach­sen mit Mütze und Stolz, Mäd­chen mit Hum­meln im Hin­tern spie­len Him­mel und Hölle, andere laufen mit anderen vor­bei, aus der Stille set­zt sich Ord­nung in Bewe­gung, schau was für eine Schau, sechs Tuben, auf der Straße, auf rechteck­ig behaue­nen Steinen, sechs mal sechs Stiefel fügen sich zum Bild, eins und zwei und, tra­gen es hin­weg, eins zwei drei vier, die Bläs­er lauter als der Jubel, hin­ter den Stößen Kadet­ten, bei Kräften, gym­nas­tiku­ni­formiert. Eine Nach­barin tritt hin­aus auf den Balkon nebe­nan, ein Netz über strup­pigem Haar, graue Sträh­nen und Weck­gläs­er aufgestapelt um sie herum. Ein Pauken­schlag, ein Magen­schlag, Augen blitz und herum, die Far­ben ver­wis­cht, Paare ohne Stiefel, fünf Instru­mente und eine Stolper­tu­ba, die Hosen zer­ris­sen, die Käp­pis im Graben, drei vier eins, zwei dazwis­chen, der Staffel­stab ein Gum­miknüp­pel, alles zer­läuft, ein zweit­er Pauken­schlag, alles hechelt und het­zt, die Arme blutver­schmiert bricht ein junger Mann unterm Balkon zusam­men, ein Angriff, gegen …?

sie ist hinge­fall­en, wie andere um sie herum, her­beigeströmt aus allen Rich­tun­gen, mit aufgescheuerten Lip­pen. In ein­er Seit­en­gasse „Brot“, in ein­er Neben­straße „Krieg“, auf dieser Allee „nieder, nieder mit …“. Jemand deutet in die Höhe, oben Gewehre, unten Schreiköpfe und fuchtel­nde Arme, die Maschi­nengewehre hus­ten trock­en wie Ster­ben­skranke, die Men­schen bieten den Däch­ern die Stirn, vom Him­mel auf die Erde, vom Dach aufs Pflaster, Schüsse, fall­en sich die Engel, Schüsse, tot. Vor ihr ein Hotel, hell leuch­t­end, durch die zer­broch­enen Fen­ster flat­tern Samt­portiere. Der Mann, der ihr Ein­lass gewährt, trägt Voll­bart und eine Pfört­neruni­form. Von der Decke hän­gen Kro­n­leuchter an herald­is­chen Fäden, Zwill­ing Drilling Git­ter. Sie schwin­gen wie Kirchen­glock­en, klir­ren mit Zäh­nen aus Kristall. Ein Blitz, schwarz, ein Blitz, schwarz auf schwarz, Kugeln zer­fet­zen den Bezug der Fau­teuils. Sie kriecht hin­ter die Theke der Rezep­tion, dort hock­en einige Verängstigte, in ihren Augen kein Rat, hin­ter ihrem Rück­en eine blu­mige Tapete. Ein Servier­wa­gen mit Creme­torten rollt über den Mar­mor, bedächtig, als werde er geschoben von einem Kell­ner mit einem entspan­nten Ange­bot auf den Lip­pen. Eine der Torten fällt zu Boden, ein Teller zer­birst, ein Kän­nchen purzelt gegen eine Säule und Milch ergießt sich über den Boden, rin­nt einem toten Offizier in den offe­nen Mund. Ein Rekrut rammt sein Bajonett in die Mahag­o­ni-Täfelung. Die Klinge spiegelt den Kro­n­leuchter, bevor er zu Boden kracht und sie in Ohn­macht.

sie wird umarmt von Frem­den, als werde zum allerersten Mal gefeiert, „unsere Helden“ schre­it jemand und wieder eine Umar­mung. Gesichter, die zu lange gle­ich­mütig getra­gen wur­den, abgenutzte, aus­ge­mergelte Gesichter, die ins Leben bersten, weil es endlich taut. Die Men­schen tanzen, zum Rhyth­mus ihrer Euphorie, endlich hat Hoff­nung keinen bit­teren Nachgeschmack. Auf jedem Pflaster­stein, vor jedem Gebäude und an jed­er Ecke unter­hal­ten sich die Leut’. Ban­ner verkün­den den Gen­er­al­streik. Ein Wort, das nach Plan und Pla­nung anmutet. Es treibt sie hin­aus auf einen Platz, wie ein See voller Baden­der, die sich gegen­seit­ig erzählen, was sie heute nicht arbeit­en wer­den. Sie teilen einan­der mit, was sie nicht pro­duzieren wer­den, was unerledigt bleiben wird. Und weil es so viele sind und weil sie sich gegen­seit­ig mit ihren Beschrei­bun­gen anstacheln, köchelt es gewaltig auf diesem Platz. Ein Druck­er­meis­ter hat sich einen Buch­staben auf die Hand gemalt, ein schönes großes A. „Bezahlt wer­den wir nach Buch­staben.“ „Klingt gerecht?“ „Mit­nicht­en.“ „Wieso denn nicht?“ „Was ist mit den Zeichen?“ „Welche Zeichen?“ „Die Zeichen zwis­chen den Halb­sätzen und am Ende der Sätze.“ „Ach, du meinst die Frageze­ichen?“ „Ja, die meine ich, aber auch die Binde­striche und die Beistriche …“ „Und die Aus­rufeze­ichen, nicht? Wie jet­zt! Wie hier!“ „Genau, du hast es kapiert, ein Aus­rufeze­ichen macht genau so viel Arbeit wie ein K oder ein M, aber nichts kriegen wir dafür.“ Die Met­al­lar­beit­er, erwart­bar vielzäh­lig, nick­en ver­ständ­nisvoll. Was sie heute nicht gießen und schweißen, das kann sich im Groben jede und jed­er vorstellen, die Details inter­essieren eh nie­mand, sie schweigen lieber, über­lassen das Reden den Chauf­feuren in ihren pol­ster­ar­ti­gen Uni­for­men, die allen anderen ver­sich­ern, beim Gen­er­al­streik arbeit­eten sie mehr als im Dienst, denn da ste­hen sie über­wiegend herum, meist an der kalten Luft und warten, rauchen eine Zigarette nach der anderen, „wir ver­rauchen die Zeit, Genossen, mehr ist nicht zu sagen“. „In Trans­port machen wir auch“, sagen die Eisen­bah­n­er, „weniger elitär als ihr, weniger ete­petete!“ „Ach was, Durch­fall kriegt doch ein jed­er.“ „Ja, schon, aber nicht jed­er kriegt was Ver­dor­benes zum Essen.“ Sie grin­sen einan­der zu und wun­dern sich, dass auch Bankangestellte unter ihnen sind, die sich die Hand­schuhe reiben, weil sie keine Scheine zählen müssen, keine Wech­sel ausstellen. Als wären diese Tüten­kle­ber des Kap­i­tals nicht exo­tisch genug auf dem Platz der vie­len Zeichen, mis­chen sich auch einige Paradiesvögel des kaiser­lichen Bal­letts unter die Ver­weiger­er. „Was denn kaiser­lich, es hat sich aus­gekaisert!“ „Kön­nt ihr nicht mal hüpfen und sprin­gen fürs Volk?“ „Kön­nen wir, sog­ar einen Spa­gat machen für das Pro­le­tari­at kön­nen wir, und eine Hebe­fig­ur“, worauf eine junge Frau ihre Arme zu ein­er zit­tri­gen Siegessäule spreizt und die Verkäuferin­nen und Schaffn­er, die Näherin­nen und Hafe­nar­beit­er eifrig applaudieren. „Das ist sehr behände“, sagt ein Mann, offen­hörig ein geübter Red­ner, „das ist höchst ele­gant, aber wisst ihr, was wir – unsere kleine Gruppe hier – ger­ade nicht tun? Wir sitzen nicht im Gericht, wir ver­han­deln keinen Fall für unsere Man­dan­ten und die da, die haben wir mit­geschleppt, wisst ihr, wer die sind? Das sind die Geschwore­nen, und die hören sich keine Beweise an und die bilden sich kein Urteil, weil wir uns alle miteinan­der weigern, einen anderen Fall zu ver­han­deln als den Fall … der Monar­chie!“ Gebrüll allerorten, als die Aus­sage des schrul­li­gen Anwalts weit­er­ge­tra­gen wird, von Mund zu Ohr, die Arbeit ruht, das Blut in den Adern der Stadt fließt ander­srum. Mit einem Mal Unruhe unter den Ver­sam­melten. Män­ner zu Ross am äußer­sten Ende des Platzes, unüberse­hbar viele, Kaval­lerie – die Kosak­en –, Gewalt im Trab. Oder doch nicht? Die Reit­er lächeln den Demon­stri­eren­den zu, die Menge jubelt, wann hat sich je ein Kosak im Sat­tel ver­beugt vor einem Gen­er­al­streik. Als die Polizei anrückt, zieht der Kom­man­deur der Berit­te­nen dro­hend seinen Säbel, die anderen machen es ihm nach, die Gefahr ist geban­nt, der Gen­er­al­streik dehnt sich aus, Stunde um Stunde, bis zu einem Wortwech­sel zweier Unbekan­nter: „Was hast du in der Hand, Genosse?“ „Schmirgel­pa­pi­er.“ „Wozu denn das?“ „Um unsere Wörter zu schleifen. Je rauer, desto bess­er.