Das Kinderspiel

Von

Heiß ist es im Klassen­z­im­mer, obwohl die Sonne bere­its unterge­ht hin­ter der Sky­line des benach­barten Indus­trieparks. Sie taucht die über­großen Papier­buch­staben, den Bun­de­spräsi­den­ten und das Kruz­i­fix an der son­st so kahlen Wand in malerisches Orange-Rosa. Auf den viel zu kleinen Volkss­chul­stühlen haben sieben schwitzende Erwach­sene Platz genom­men, zwei Eltern­paare und drei Müt­ter. Im Gang draußen haben sie noch gescherzt, gelacht und iro­nisch mit den Schul­tern gezuckt: Nein, wir wis­sen auch nicht, was da genau passiert ist. Nein, unser Kind hat uns jeden­falls nichts von irgen­deinem Vor­fall erzählt. Ja, wir hät­ten auch Besseres zu tun!

Die Eltern ken­nen einan­der flüchtig. Sie haben Seite an Seite selb­st­ge­back­e­nen Kuchen verkauft und Kinder­pun­sch aus­geschenkt bei Schulfesten. Sie haben in den Wohnz­im­mern der jew­eils anderen gesessen, an Kaf­fee­tassen genippt und übrigge­bliebene Torten­stücke gegessen, während die Kinder im Hin­terz­im­mer noch zehn Minuten, bitte, nur zehn Minuten noch!, die brand­neuen Spielzeuge des Geburt­stagskindes zer­legten. Ihre Kinder gehen schon das vierte Jahr gemein­sam in eine Volkss­chulk­lasse, und ein wenig wehmütig denken die Eltern daran, dass sie in ein paar Monat­en schon getren­nte Wege gehen sollen, in unter­schiedliche Gym­nasien oder, Gott behüte, Neue Mit­telschulen. Wenn die Eltern einan­der zufäl­lig im Super­markt begeg­nen, lächeln sie fre­undlich und wech­seln ein paar Worte.

Jet­zt sitzen sie still, die unan­genehm spitzwin­kli­gen Knie unter den tiefen Tis­ch­plat­ten zusam­mengepfer­cht. Sie haben aufge­hört zu scherzen und sind wieder kinderklein gewor­den, Jesus und der Bun­de­spräsi­dent blick­en voll Mis­strauen auf sie herab. Herr und Frau Wotawa tip­pen zwar noch geschäftig auf ihren Smart­phones herum, die gesenk­ten Köpfe aber wirken demütig. Frau Ram­sl hat am Fen­ster Platz genom­men und stre­ichelt die Hand­tasche auf dem Schoß wie eine Katze, mit gerührter Mine betra­chtet sie den Son­nenun­ter­gang. Frau Herz­er strickt, während Herr Herz­er einzu­nick­en dro­ht, er ist bere­its im Ruh­e­s­tand, sie höch­stens fün­fzig. Ihre Jüng­ste geht in diese Klasse, ein richtiges „Nachzügerl“, sie haben bere­its Enkelkinder von den Älteren. In der ersten Rei­he Mitte hockt sehr stre­ber­haft aufrecht und aufmerk­sam die Eltern­sprecherin Frau Kon­rad und ganz hin­ten im Eck Frau Jagov­ič. In Frau Jagov­ičs Wohnz­im­mer hat noch nie jemand gesessen mit übrig gebliebe­nen Geburt­stagstorten­stück­en, auch an keinem Schul­verkauf­s­stand hat sie sich jemals beteiligt. Jet­zt sitzt sie leicht vorne über gebeugt und star­rt sie die Tis­ch­plat­te an, wobei das schwarze Haar ihr sträh­nig übers Gesicht fällt wie ein Schleier.

Dann tritt die Lehrerin ein. Die Lehrerin ist eine gut­mütige Per­son mit­tleren Alters, was die Eltern bish­er als Glücks­fall betra­chtet haben: Der erste päd­a­gogis­che Ide­al­is­mus ist bei ihr schon lange verk­lun­gen, allerd­ings ist sie zu jung, um in unmit­tel­bar­er Erwartung ihrer baldigen Pen­sion­ierung voll­ständig zu resig­nieren. Sie hat den Ruf, in unwichti­gen Belan­gen manch­mal ein wenig klein­lich zu sein, aber die Kinder kön­nen sie alle recht gut lei­den.
Die Eltern unter­drück­en gemein­schaftlich den Impuls, aufzuste­hen und im Chor „Guten Mor­gen“ zu leiern. Die Lehrerin grüßt mit fre­undlichem, aber ern­stem Gesicht. Dann fal­tet sie die Hände vor ihrem Bauch und räus­pert sich, um gle­ich in medias res zu gehen.

Es habe einen unan­genehmen Vor­fall gegeben, erzählt sie, und dieser Vor­fall betr­e­ffe Paul Wotawa (die Wotawas blick­en schuld­be­wusst von ihren Smart­phones auf, an denen sie sich fes­tkrallen wie an Hal­te­grif­f­en in der Straßen­bahn), Claris­sa Ram­sl (Frau Ram­sl zuckt zusam­men, aus irgen­deinem Traum erwacht), Vik­to­ria Herz­er (Frau Herz­er stößt Her­rn Herz­er besorgt den Ell­bo­gen in die Seite, er ächzt), Ben­jamin Kon­rad (Frau Kon­rad nickt mit schamvollem und gle­ichzeit­ig ein wenig kampfes­lustigem Blick) und Kevin Jagov­ič (Frau Jagov­ič rührt sich nicht). Die Lehrerin stockt, dann lässt sie sich auf dem Stuhl hin­ter ihrem Lehrerpult nieder. Sie ist die einzige Per­son im ganzen Raum, die ergonomisch kor­rekt wie eine Erwach­sene sitzen darf, auf ein­er Lin­ie mit Jesus und dem Bun­de­spräsi­den­ten. Diese Posi­tion gibt ihr die endgültige Sicher­heit, die es braucht, um schwierige The­men anzus­prechen.

Der Holo­caust, sagt die Lehrerin langsam und gedehnt, indem sie sich zurück­lehnt, der Holo­caust sei ohne Frage ein schwieriges The­ma. Aber man müsse bedenken, dass die meis­ten Kinder dieser Klasse schon sehr bald ein Gym­na­si­um besuchen wür­den.

Das Wort „Gym­na­si­um“ spricht sie aus, als wäre es etwas Heiliges. Frau Kon­rad nickt mit vor Betrof­fen­heit ganz weit hin­un­terge­zo­ge­nen Mund­winkeln, während die Wotawas erle­ichtert ihre Köpfe über die Smart­phonebild­schirme senken, denn was mit dem „Holo­caust“ zu tun hat, kann nichts mit ihnen oder ihrem Paul zu tun haben.

Die Lehrerin räus­pert sich erneut, dann begin­nt sie wieder zu sprechen: Sie habe in der großen Pause ein Spiel beobachtet. Es sei ein Spiel zwis­chen Paul, Claris­sa, Vik­to­ria, Ben­jamin und Kevin gewe­sen. Im ersten Moment habe sie es für ein harm­los­es Räu­ber-und-Gen­darm-Äquiv­a­lent gehal­ten, denn manche der Kinder seien Jäger, andere Gejagte gewe­sen, so haben sie einan­der durch den Pausen­hof getrieben. Dann allerd­ings sei sie ein wenig näher­ge­treten und habe gehört, wie die Jäger nach „Juden­schweinen“ sucht­en, während die Gejagten sich vor den „Nazis“ ver­steck­ten.
Frau Kon­rad in der ersten Rei­he japst vor Schreck, irgend­je­mand stöh­nt, Frau Jagov­ič taucht für einen Augen­blick vor dem Haar­vorhang auf, nur um gle­ich wieder darin zu ver­schwinden. Natür­lich habe sie da sofort einge­grif­f­en und das Spiel unter­brochen, sagt die Lehrerin schnell und in beschwichti­gen­dem Ton­fall. Sie habe die betrof­fe­nen Kinder zur Seite genom­men und ihnen ruhig, aber bes­timmt erk­lärt, dass die Ver­gan­gen­heit kein Spielplatz und die Ver­brechen des Nation­al­sozial­is­mus nichts, aber wirk­lich gar nichts seien, worüber man spaße. Die Kinder haben mit großen Augen genickt und alle­samt sehr ein­sichtig gewirkt.

Na also, mur­rt Herr Wotawa.

Nur lei­der habe sich der trau­rige Vor­fall wieder­holt, fährt die Lehrerin etwas strenger fort. Einen Tag darauf sei näm­lich das ganz gle­iche Spiel zu beobacht­en gewe­sen. Natür­lich habe sie rasch reagiert und wieder haben die Kinder genickt, aber dies­mal mit nicht ganz so großen Augen und fast mech­a­nisch. Und am darauf­fol­gen­den Tag habe die Lehrerin zu Beginn der großen Pause schon so drin­gend auf die Toi­lette gemusst, dass sie ein paar Minuten später als son­st am Schul­hof erschienen sei. Da habe sie gese­hen, was mit denen passiere, die erwis­cht wor­den seien.

Frau Ram­sl ist blass um die Nase gewor­den und blickt drein, als würde sie im Kino einen Thriller ver­fol­gen.
…Was denn?, haucht sie mit aufgeregt heis­er­er Stimme.

Nun, die Lehrerin räus­pert sich wieder und ste­ht auf, nun wird es ihr doch noch unbe­haglich auf ihrem Stuhl, sie wan­dert hin­ter dem Lehrerpult hin und her.

Die, nun ja, „Nazis“, haben die, nun ja, „Juden“, in, nun ja, „Konzen­tra­tionslager“ ges­per­rt, murmelt sie, ohne die Eltern anzuse­hen.

Was heißt das?, qui­etscht Frau Ram­sl.

Die Gefan­genen seien in einen Lehrmit­telschrank gesteckt wor­den, zum Beispiel, antwortet die Lehrerin.

Haben wir doch auch gemacht, raunt Herr Wotawa sein­er Frau zu, während er auf seinem Mobil­tele­fon online ein Aktien­paket kauft und wieder verkauft, wir haben’s natür­lich anders genan­nt, aber Mitschüler in den Lehrmit­telschrank steck­en, das schon…

Frau Ram­sl jedoch drückt sich eine Hand aufs Herz und bekommt fast keine Luft mehr bei der Vorstel­lung ihrer kleinen, blonden Claris­sa in einem düsteren Lehrmit­telschrank.

Was heißt hier: Zum Beispiel, was denn noch, was denn noch alles?, zetert sie, und Frau Kon­rad springt auf, um ihrer Rolle als Eltern­sprecherin gerecht zu wer­den. Allerd­ings weiß sie dann nicht recht, worüber sie sprechen soll und zupft schließlich nur unbe­haglich an ihrer Bluse herum.

Die alten, grauen Herz­ers schüt­teln ihre alt­back­e­nen Köpfe.

Die Lehrerin atmet tief durch.

Sie habe den Schülern und Schü­lerin­nen immer wieder erk­lärt, dass dieses The­ma kein Spaß sei, ver­sichert sie, dann aber wird sie nach­den­klich.

Allerd­ings habe sie auch nicht das Gefühl, dass die Kinder es für einen Spaß hiel­ten, sagt sie nach ein­er kurzen Sprech­pause. Im Gegen­teil, sie hät­ten es sog­ar sehr ernst genom­men. Jeden Tag wieder­holten sie ihr Spiel, aber nicht aus Spaß, son­dern … zwang­haft.

Die Lehrerin ist am Fen­ster ste­henge­blieben und blickt in die Däm­merung hin­aus, während sie mit der recht­en Hand die Perlen ihrer Hals­kette durch die Fin­ger laufen lässt. Sie hat es noch nie so aus­for­muliert, nicht ein­mal in Gedanken, aber nun scheint ihr die krankhafte Besessen­heit, die diesem Spiel zu Grunde liegt, unüberse­hbar.

Schreck­lich, murmelt Frau Kon­rad.

Meine arme Claris­sa!, heult Frau Ram­sl.

Da kommt plöt­zlich Leben in Frau Wotawa, die bish­er still und ele­gant an der Seite ihres Gat­ten gesessen und mit dem Handy abwech­sel­nd Mem­os von ihrem Chef und Fra­gen von ihrer Babysit­terin beant­wortete. Es hätte eigentlich ihr freier Abend wer­den sollen und spätestens, seit sie den zerknüll­ten Zettel mit der ziem­lich nach­drück­lichen Ein­ladung zum außeror­dentlichen Eltern­abend aus Pauls Schul­tasche gefis­cht hat, brodelt in ihr ein unüber­wind­bar­er Frust. Dass dieser Frust bei irgen­deinem nichti­gen Anlass aus ihr hin­aussprudeln würde, hat Frau Wotawa geah­nt, nur hätte sie darauf wet­ten kön­nen, dass es ihren Mann tre­f­fen würde. Herr Wotawa hält sich für den Ehe­mann des Jahres, nur weil er hier neben ihr sitzt, und die Umstände scheinen ihm Recht zu geben, denn außer ihm ist von allen Vätern nur Herr Herz­er gekom­men, und der zählt nicht, der ist Pen­sion­ist. Ihre Pflicht ist seine gute Tat, denn Frau Wotawa weiß, wie schnell ihrem Mann eine Ausrede einge­fall­en wäre, wenn sie ihm vorgeschla­gen hätte, er sollte doch allein zum Eltern­abend gehen. Er hätte so etwas gesagt wie: Ach, Schatz, du weißt doch, du kannst diese Dinge viel bess­er!, ein als Kom­pli­ment getarn­ter Befehl, denn mit „diese Dinge“ meint er die alleinige Ver­ant­wor­tung für das gemein­same Kind. Aber als Bei­w­erk sitzt er gern daneben, einzig und allein für die Bewun­derung der anderen Müt­ter. Was für ein Pech für Frau Ram­sl, dass Frau Wotawas Frust zufäl­lig ger­ade in diesem Moment überkocht.

Frau Wotawas Augen funkeln böse, während sie zu Frau Ram­sl hinüberzis­cht: Ihre arme Claris­sa? Wer sagt denn, dass Ihre Claris­sa kein­er von den Nazis gewe­sen ist?

Herr Wotawa, von der plöt­zlichen Hitzigkeit sein­er Frau völ­lig über­rumpelt, prustet los.

Und Frau Ram­sl geht nun endgültig in Trä­nen auf. Sie weint, weil sie sich die möglichen Lei­den ihrer kleinen Claris­sa vorstellt und mehr noch wegen der Ehren­belei­di­gung und am aller­meis­ten aus Neid. Nei­disch ist sie auf Frau Wotawa mit ihrem gutausse­hen­den Ehe­mann, der sie nicht nur auf den Eltern­abend begleit­et, son­dern jede infan­tile Garstigkeit auch noch mit einem Lachen hon­ori­ert. Wäre Frau Ram­sl so gemein zu ein­er anderen, würde ihr eigen­er Mann sie zurechtweisen, und er würde sie auch zurechtweisen, wenn sie nicht gemein wäre. Nie macht sie etwas richtig in seinen Augen, und sie kann sich gar nicht daran erin­nern, von ihm jemals eine emo­tionale Unter­stützung bekom­men zu haben, die ver­gle­ich­bar ist mit dem bel­len­den Lachen Her­rn Wotawas. Wenn nicht Claris­sa wäre und ihr kleines Brüderchen, aber sie sind und darum muss Frau Ram­sl bleiben und deshalb ist es ja in Wahrheit ganz gut, dass ihr Mann sich für nichts inter­essiert und sie nur sel­ten irgend­wohin begleit­et. Trotz­dem kriegt sie sich jet­zt nicht mehr ein, vor lauter Schluchzen dro­ht sie zu hyper­ven­tilieren, und endlich hat Frau Kon­rad etwas zu tun. Sie eilt zu Frau Ram­sl hinüber und legt den Arm um sie, aber nicht müt­ter­lich, eher staatsmän­nisch.

Jet­zt sehen Sie, was Sie angerichtet haben!, faucht sie in Rich­tung Frau Wotawa, aber diese hat sich ganz erle­ichtert und befriedigt schon wieder ihrem Smart­phone zuge­wandt.

Indessen ist die Lehrerin nervös gewor­den, sie blickt hil­fe­suchend um sich und ent­deckt ihren Erwach­se­nen­stuhl, auf den set­zt sie sich wieder.

Es solle hier doch auch gar nicht um Anschuldigun­gen gehen, haspelt sie während­dessen, son­dern einzig und allein um Lösungsan­sätze!

Herr Herz­er lächelt schief, durch Frau Wotawas unge­wohnte Aufmüp­figkeit ist er aus sein­er schläfrigen Lethargie erwacht. Wenn er nur dreißig Jahre jünger wäre, denkt er, oder vielle­icht wären auch zwanzig genug. Abge­se­hen vom attrak­tiv­en Anblick der Frau Wotawa hält er diesen ganzen Eltern­abend näm­lich für eine große Zeitver­schwen­dung. Und hat diese Frau Lehrerin nicht so ein gewiss­es Renom­mee, die kle­in­sten Dinge aufzubauschen? Er glaubt sich daran erin­nern zu kön­nen, dass Vicky ein­mal Strafauf­gaben bekom­men hätte wegen ein­er ver­bo­ge­nen Füllfed­er, ein­er stumpfen Bleis­tift­spitze oder ein­er ähn­lichen Lap­palie. Und dann fällt ihm ein, dass es gar keine Strafauf­gaben gewe­sen sein kön­nen, weil die heutzu­tage nicht mehr erlaubt sind. Irgen­det­was anderes hat Vicky bekom­men, aber Strafe war es keine, denn die jun­gen Leute heutzu­tage dür­fen ja über­haupt nicht mehr bestraft wer­den, und dann wun­dert man sich, dass sie in den Pausen eigene Spiele erfind­en, um Zucht und Ord­nung herzustellen. Nicht, dass er das gut find­en würde, aber wun­dern darf man sich wirk­lich nicht.

Sehr gut, sagt Herr Herz­er sarkastisch und zieht die Lip­pen noch schiefer, und wie stellen Sie sich einen Lösungsvor­satz vor, so ganz ohne Anschuldigun­gen?

Ach!, ruft Frau Herz­er und klatscht die Hände vorm Gesicht zusam­men, als hätte ihr Mann ger­ade dazu ange­set­zt, einen schweinis­chen Witz zu erzählen, aber einen ziem­lich guten. Dann erhält Herr Herz­er jedoch Zus­pruch von ganz über­raschen­der Seite: Aus­gerech­net Frau Kon­rad springt ihm bei, sie lässt die schluchzende Ram­sl links liegen und ste­ht plöt­zlich direkt hin­ter den Herz­ers.

Das will ich aber auch wis­sen!, verkün­det sie mit fes­ter Stimme, ganz die Recht­san­wältin, die sie außer­halb dieses Klassen­z­im­mers ist. Frau Kon­rad kann stolz auf sich sein: Sie zieht ihren Ben­jamin allein groß und neben­her hat sie studiert und auch noch das Anwalt­sex­a­m­en gemacht. Sie betont häu­fig, wie stolz sie auf sich sein kann und ist überzeugt davon, dass dieser Umstand sie zur Fem­i­nistin macht. Allerd­ings ver­achtet sie die meis­ten anderen Frauen, Frau Ram­sl zum Beispiel für ihre Gluck­en­haftigkeit, Frau Wotawa für das über­triebene und Frau Herz­er für das nicht vorhan­dene Make-up im Gesicht, und im Beson­deren ver­achtet sie momen­tan die Lehrerin. Hin­ter dem gut­müti­gen Gesicht glaubt Frau Kon­rad eine vor päd­a­gogis­ch­er Kor­rek­theit erstar­rte Wurschtigkeit zu wit­tern, schlim­mer noch, eine an Täter-Opfer-Umkehr gren­zende Tol­er­anz und auch son­st alles, was die schlechte Welt von heute schlecht macht.

Frau Herz­er hüstelt ein wenig, Kon­flik­te schla­gen ihr immer auf die Atemwege.

Es ist, weil wir die Kinder viel zu früh mit so etwas belas­ten, murmelt sie, nicht wahr, wir erzählen ihnen Dinge, die sie noch nicht ver­ste­hen kön­nen. Was sollen die Zehn­jähri­gen denn auch mit dem Holo­caust anfan­gen, und genau­so ist es mit dem Sex­u­alun­ter­richt…

Sie blickt scheu auf ihren Schoß hin­unter, wo das Strickzeug liegt, der Anfang eines Pullovers für Vicky, den diese niemals anziehen wird. Der ist uncool, Mama, wird sie sagen, oder ihn ein­fach in die hin­ter­ste Ecke des Klei­der­schranks stopfen und dort vergessen. Frau Herz­er ver­ste­ht ihr Kind nicht mehr. Bei den Älteren ist es anders gewe­sen, natür­lich hat es auch da manch­mal Prob­leme gegeben, aber Frau Herz­er hat immer das Gefühl gehabt, zumin­d­est in der­sel­ben Welt wie sie zu leben. Vicky lebt nicht in der­sel­ben Welt. Sie sagt Wörter, die Frau Herz­er nicht ver­ste­ht, hängt sich Bilder von Stars an die Wände, von denen Frau Herz­er noch nie etwas gehört hat und manch­mal blickt sie ein­fach starr vor sich hin, dann kann Frau Herz­er noch nicht ein­mal ahnen, woran sie ger­ade denkt. Sog­ar ihre Peri­ode hat Vicky schon bekom­men, obwohl sie doch erst zehn Jahre alt ist. Es ist das Inter­net, denkt Frau Herz­er, das Inter­net und die Handys und der Sex­u­alun­ter­richt und der Holo­caust. Alles zu früh, alles nur dazu erfun­den, um ihr ihr kleines Mäd­chen zu entreißen. Sie nimmt die Strick­nadeln wieder zur Hand und denkt an die Zeit zurück, als Vicky noch ein Baby gewe­sen ist, das beruhigt sie immer.

Frau Kon­rad scheint sie gar nicht gehört zu haben, oder sie ignori­ert sie absichtlich, aber Frau Herz­er ist das gewohnt.
Um etwas unternehmen zu kön­nen, müssen wir doch wis­sen, wer die Täter sind!, reklamiert Frau Kon­rad mit schar­fer Stimme, es kann doch nicht ange­hen, dass hier Nazis und Juden in einen Topf gewor­fen wer­den ...

Aber bitte, bitte! ruft Herr Wotawa ent­nervt dazwis­chen, bevor die Lehrerin noch das Wort ergreifen kann: Hier geht es doch gar nicht um echte Nazis und Juden, ver­dammt noch ein­mal, das ist doch nur ein blödes Spiel unter Kindern!
Frau Kon­rad keucht aufge­bracht: So fängt es eben an, so fängt es eben an, im Kleinen!

Wir haben’s damals eben Cow­boy-und-Indi­an­er genan­nt, echauffiert sich Herr Wotawa, war das vielle­icht poli­tisch kor­rekt?, und Frau Kon­rad kreis­cht kampfes­lustig: Whataboutism, das ist ein ganz gemein­er Whataboutism!

Herr Wotawa schafft es übri­gens, sich ganz rou­tiniert und fast ohne echte Emo­tion in Rage zu reden, nicht ein­mal sein Smart­phone muss er dafür zur Seite leg­en. Er hat als junger Mann an der Börse gear­beit­et und ist nun Abteilungsleit­er in ein­er Invest­ment­fir­ma, die erfol­gre­ich genug ist, um brül­lende Män­ner in Anzü­gen noch zu schätzen zu wis­sen.

Ach was, schre­it er Frau Kon­rad an und fühlt sich dabei fast schon gelang­weilt, spätestens jet­zt muss doch sog­ar so eine Links-Grüne wie Sie zugeben, dass man die Ver­gan­gen­heit endlich get­rost ruhen lassen kann, weil die wirk­lich Bösen, die sitzen ja drüben in Rus­s­land…

Die Lehrerin häm­mert richter­lich mit der Faust auf das Lehrerpult und mah­nt zur Ruhe.

Frau Jagov­ič schweigt.

Hin­ter­her, am Gang draußen, sind alle wieder per Du und lächeln einan­der ver­legen an, als wären sie ger­ade zufäl­lig aufeinan­dergestoßen und nun verpflichtet, Höflichkeit­en auszu­tauschen. Nur Frau Jagov­ič fehlt in der Runde, sie ist sofort, nach­dem der Eltern­abend offiziell been­det wor­den ist, aufge­sprun­gen und mit gesenk­tem Kopf aus dem Klassen­z­im­mer ger­an­nt.

Die Lehrerin ist ste­hend nun wieder auf Augen­höhe mit den Eltern, sie scheint sich ein wenig zu genieren dafür und lächelt beson­ders hart­näck­ig. Sie ist tat­säch­lich stand­haft geblieben, hat keine Täter- oder Opfer­na­men ver­rat­en und immer wieder darauf hingewiesen, dass man gemein­same Lösungsan­sätze find­en müsse, gemein­same.

Auch wenn heute keine Lösungsan­sätze gefun­den wor­den seien, erk­lärt die Lehrerin nun, während sie sich ihren leicht­en Som­mer­man­tel um die Schul­tern legt, sei es doch gut und wichtig gewe­sen, über den Vor­fall gesprochen zu haben.

Die Eltern nick­en kollek­tiv.

Schon komisch, murmelt Frau Ram­sl, deren Trä­nen längst getrock­net sind, schon irgend­wie komisch, diese Frau Jagov­ič.

Sie kommt vom Balkan, wirft Frau Wotawa ein, als würde das etwas erk­lären.

Die ist psy­chisch nicht ganz in Ord­nung, behauptet Herr Wotawa, das sieht man auf den ersten Blick.

Und Kevin ist ja auch kein Name, son­dern eine Diag­nose, sagt Frau Kon­rad und unter­drückt ein Kich­ern.

Kevin Jagov­ič, lacht Herr Herz­er, was für eine Diag­nose!

Kein Wun­der, dass es mit so einem Prob­leme gibt, seufzt Frau Herz­er.

Alle stim­men ihr zu.

Die Lehrerin schweigt.