Drei Prager

Von

Ich habe so lang geschlafen wie nie zuvor in meinem Leben. Der Traum war zu inter­es­sant, um aufzuwachen. Es war eine unruhige Unwirk­lichkeit, aus der ich spät am Mor­gen erwachte.

Im Traum habe ich drei Män­ner gese­hen und reden gehört, die ich immer – nicht nur für die größten Prager, son­dern – für die größten Öster­re­ich­er gehal­ten habe.
Es war ein gesit­tetes Gespräch, das von gegen­seit­igem Inter­esse und Respekt getra­gen wurde. Dieses Gefühl habe ich noch jet­zt, wenn ich an die Stun­den, vielle­icht waren es auch nur Minuten, wer weiß, zurück­denke, in denen ich geträumt haben muss.
Hier möchte ich die Unter­hal­tung der drei Her­ren, die diesen Titel ver­di­enen, näm­lich Her­ren, so getreu wie nur möglich pro­tokol­lieren. Doku­men­tieren und notieren. Nach­schreiben. Es ste­ht ihnen zu. Naturgemäß und natür­lich wird es mir nicht gelin­gen, den hehren Ton dieser Geis­tes­gi­gan­ten auch nur im Ansatz zu tre­f­fen. Ich muss mich ein­fach mit der sin­ngemäßen Wieder­gabe beschei­den.
Ich schreibe diesen Traum sofort nieder, weil ich denke, dass dadurch weniger ver­loren geht als mit einem hil­flosen soge­nan­nten Akten­ver­merk, den ich nach Stun­den oder gar Tagen anfer­tige und mir gle­ich­sam aus den Fin­gern sauge. Lieber sauge ich mir die Reste der Erin­nerung aus dem Hirn. Um wenig­stens etwas festzuhal­ten. An die Sprache der Her­ren komme ich so oder so nicht her­an. Ich ver­suche es nicht ein­mal, son­dern gebe es an dieser Stelle unumwun­den zu. Alles andere wäre unehrlich und unglaub­würdig und unmöglich. Also und, und, und.
Meine Traumerin­nerung besagt, dass die Her­ren form­sich­er und gepflegt ihre Mei­n­un­gen aus­ge­tauscht haben. Immer durfte der älteste anfan­gen, gefol­gt vom zweitäl­testen, der jüng­ste Herr run­dete die Geschicht­en dann ab. Ich weiß nicht mehr, wie viele Run­den das Gespräch tat­säch­lich hat­te, jeden­falls mehr als ich an dieser Stelle ehrlich wiedergebe. Vielle­icht wird mir später noch Näheres oder bess­er gesagt Genaueres ein­fall­en. Das wäre allen­falls möglich. Beziehungsweise kön­nte das noch der Fall sein. Meine Erfahrung sagt mir näm­lich, dass mir später noch irgendwelche Traum­fet­zen gewär­tig wer­den kön­nen, was nicht zum ersten Mal passieren würde.
Jet­zt finde ich es bemerkenswert, dass die Her­ren auf­fäl­lig aus­ge­sucht und vornehm gek­lei­det waren. Alle hat­ten eine Krawat­te umge­bun­den, der älteste trug sog­ar eine Weste, der jüng­ste war noch der modis­chste. Soweit meine Erin­nerung zurück­re­icht, waren die Gesten sparsam, die Rede­laut­stärke dem Zim­mer angepasst und die Sitzhal­tung den Gesprächspart­nern gegenüber achtungsvoll. Zum Sitzen standen den Her­ren ein Canapé, ein Fau­teuil und ein Ohrens­es­sel zur uneingeschränk­ten Ver­fü­gung. Davor stand ein hölz­ernes und dunkel gebeiztes Tis­chchen, darauf ein hal­b­voller Wasserkrug und fünf Gläs­er, alles aus böh­mis­chem Kristall, drei Gläs­er waren fast zur Gänze gefüllt. In der Erin­nerung war der Salon, und es war ein solch­er, in ein Grau-in-Grau getaucht. Alles hat­te – trotz des mas­si­gen Mess­inglus­ters – etwas Düsteres, Trübes, fast Dür­res – doch im Traum ver­schieben sich die Tat­sachen und Wirk­lichkeit­en erhe­blich. Die Natur wird zu etwas fast Schwammigem. Sie wird weich. Sie wird – durch die Ein­bil­dungskraft – reich. Als hätte sie eine Dichter­gabe, die einem ver­liehen wird. (Nur bei hohem Fieber bor­det die Einge­bung noch mehr über.)
Wie auch immer. Die Traum­fet­zen gehen fol­gend.

Rilke sagte zu Kelsen und Kaf­ka gle­icher­maßen, mit der öster­re­ichis­chen Lit­er­atur könne man zufrieden sein. In jüng­ster Zeit habe man es zu zwei Lit­er­aturnobel­preisträgern gebracht. Das sei nicht wenig. Elfriede und Peter hät­ten es geschafft. Friederike sei zu Tode ent­täuscht gewe­sen.
Kelsen replizierte, was sein­er noblen Pro­fes­sion angemessen war, auch Thomas hätte den Preis gewollt, obwohl er immer gegen Ausze­ich­nun­gen, Orden und Preise gewet­tert habe, um dann selb­st alles anzunehmen, vor allem wenn es mit klin­gen­der Münze ver­bun­den gewe­sen sei und er sich sein erstes, britis­chgrünes Autochen kaufen habe kön­nen.
Kaf­ka lächelte mild und sagte dezi­diert, jed­er, der diesen Preis haben wolle, solle ihn doch bekom­men. Nur der, der den Preis nicht ergat­tern wolle, habe die Prü­fung bestanden.
Rilke meinte, ihm sei es nie um Preise gegan­gen. Es gehe doch nur um Lit­er­atur. Denn das Schöne ist nichts/ als des Schreck­lichen Anfang, den wir noch grade ertragen,/ und wir bewun­dern es so, weil es gelassen verschmäht,/ uns zu zer­stören.1
Hier musste Kelsen sog­ar rekur­ri­eren. Öster­re­ich beken­nt sich zur umfassenden Lit­er­atur,2 kon­sta­tierte er. Zum Schö­nen als des Wun­der­baren Beginn. Wir seien anders. So sind wir nicht3, sagte er. Unsere Lit­er­at­en wür­den sich nicht zer­stören lassen. Wer kön­nte das schon begehren… Unsere Dich­terin­nen und Dichter wür­den nichts zer­set­zen. Möge ihnen der eine und andere Abge­ord­nete, der die Gesellschaft vertrete, auch ger­ade dies zur Last leg­en.
Kaf­ka antwortete ein­er Sphinx gle­ich. Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe ges­pan­nt ist, son­dern knapp über dem Boden.4
Lieber, lieber Franz, sagte Kelsen, und set­zte fort, so niedrig dürfe er das Niveau der öster­re­ichis­chen Lit­er­atur kein­mal anset­zen. Öster­re­ich habe Schrift­stel­lerin­nen und Schrift­steller von größter Güte. Es sei doch eine Übertrei­bung, wie sie Thomas man­isch gepflegt habe, wenn heute lukullisch behauptet werde, in der Frit­taten­suppe feiere die Prov­inz ihre Tri­umphe5. Solche Aus­sagen, wider­legte Kelsen mit ruhigem Ton, wür­den nur Geschöpfe tre­f­fen, die die Kun­st des Urteils6 nicht beherrscht­en. Die sich in prov­inzieller Weise im Recht fühlen wür­den, obwohl sie den Geschmack der Haupt­stadt nie getrof­fen hät­ten. Öster­re­ich habe mehr aus­geze­ich­nete Dich­terin­nen und Dichter als jedes andere Land der Welt. Man möge doch nur nach Prag blick­en.
Kaf­ka gab ihm in sein­er milden Art sofort recht und meinte doch, Das Gute ist in einem gewis­sen Sinne trost­los.7
Der etwas ungeduldig gewor­dene Rilke wollte nun wis­sen, wer denn die Aus­geze­ich­neten und Guten seien.
Kelsen fing langsam an aufzuzählen. Da sei Ilse gewe­sen, aus Wien, die kon­nte schreiben, Inge­borg aus Kla­gen­furt habe er weniger geschätzt, meinte er, bei ihr folge er dem deutschen Lit­er­aturkar­di­nal mit dem Dop­pel­na­men, der gemeint habe, ihre Lit­er­atur tauge am besten für die Blät­ter, die bei Friseuren aufliegen wür­den.
Kaf­ka wiegelte ab und forderte, doch gerecht zu sein, obwohl es Gerechtigkeit nicht gäbe.
Rilke ver­langte von Kelsen mit den Worten „Lieber Hans“ vehe­ment weit­ere Befunde und Gutacht­en.
Kelsen, in solchen Sachen geschult, set­zte fort und sagte, Wolf­gang, der radikale Büh­ne­nau­tor aus Graz, habe ihm schon ziem­lich gefall­en, weniger der glaubensstarke Alois, an dem wohl ein vatikanisch-katholis­ch­er Priester ver­lorenge­gan­gen sei.
Kaf­ka meinte dazu, man habe einen Lit­er­aturnobel­preisträger der jün­geren Ver­gan­gen­heit, den man taxfrei zur öster­re­ichis­chen Lit­er­atur zählen dürfe, ein­fach vergessen. Das könne er nicht überge­hen und überse­hen.
Rilke, jet­zt hell­hörig, bestätigte, dass Elias eine große Num­mer sei und er vor allem seine Tage­büch­er schon sehr schätze.
Kelsen berichtigte nobel und ohne Verzug mit der Frage, ob er die Aufze­ich­nun­gen meine.
Kaf­ka mis­chte sich plöt­zlich ein und erwiderte – für seine Ver­hält­nisse – streng, Elias habe hier ein biss­chen nach seinen Tage­büch­ern gear­beit­et und im Übri­gen lehne er eines sein­er Werke, das ihn auch zum Nobel­preis geführt hätte, ein­deutig ab. Der andere Prozeß8, den er als Briefe an Felice tit­uliert habe, hätte mit ihm nichts, aber schon gar nichts zu tun.
Lieber Franz, sagte Rilke jet­zt, sie, näm­lich die drei Her­ren, dürften auf per­sön­liche Befind­lichkeit­en keine Rück­sicht nehmen. Ange­bracht sei Objek­tiv­ität. Und er sel­ber schätze in der Lyrik vor allem Paul. Das sei der Lyrik­er des zwanzig­sten Jahrhun­derts, der Meis­ter aus Öster­re­ich. Auch Erich schätze er, denn dieser wisse, es sei, was es sei. Und die Lavant­ta­lerin Chris­tine, die ein Jaun­taler Dorfholzschnitzer so verehrt habe. Aber, forderte er den Juris­ten in Kelsen auf, doch in der Rechts­find­ung fortz­u­fahren.
Ja, sagte Kelsen, Fritz von und Ödön von und Robert von seien auch Kaliber. Nicht zu ver­acht­en. Oder viel später der große Julian, der unsere deutsche Sprache so zise­lieren könne. Nicht beson­ders bewun­dert habe er Ger­hard, der viel über die Steier­mark geschrieben habe. Seine Sprache sei ihm zu ein­fach und seine Geschicht­en zu bil­lig gewe­sen. Und dann der unerträgliche Bienen­fum­mel. Nein, danke, da gäbe es andere.
Kaf­ka bestätigte ihn und sagte, ihm habe Hans, der Schrift­steller und Kri­tik­er, den ein­mal eine Schaus­pielerin kräftig geohrfeigt hätte, wofür sie später verurteilt wor­den wäre, gut gefall­en. Der habe Die Lei­den der jun­gen Wörter9 begrif­f­en.
Rilke pochte auf Qual­ität und forderte, nicht alles abzuhak­en und anzuerken­nen. Nicht alles sei von erster Güte. Beileibe nicht.
Kelsen replizierte, er sei unbe­d­ingt für Qual­ität und müsse daher auf Josef aus Kärn­ten ver­weisen, der für seine kom­pro­miss­losen Werke schon den Preis, der nach Georg Büch­n­er benan­nt sei, zuge­sprochen bekom­men habe, und das sei knapp unter dem Lit­er­aturnobel­preis, jeden­falls nicht meilen­weit ent­fer­nt.
Mit einem Zwis­chen­ruf forderte ihn Rilke auf, doch nicht zu übertreiben, und im Übri­gen kenne man nicht Peters Mei­n­ung zu diesem The­ma. Diese wäre inter­es­sant.
Kaf­ka, jet­zt an der Rei­he, streute ein, weil man ger­ade bei Kärn­ten sei, dass Janko, der sich seit Jahrzehn­ten mit ihm beschäftige, auch nicht wisse, was er wolle, er sei ein­er­seits Rechtswis­senschaftler und ander­er­seits Kafkologe, daneben Lit­er­atur­pro­fes­sor, Schrift­steller und was weiß man son­st noch. Ein Men­sch solle sich auf zwei Dinge beschränken, die Rechtswis­senschaft und das Schreiben, dann habe man ohne­hin die ganze Welt gewon­nen.
Jet­zt sagte Rilke noch irgen­det­was …

Doch in diesem Augen­blick erwachte ich spät am Mor­gen aus ein­er unruhi­gen Unwirk­lichkeit, der öster­re­ichis­chen Lit­er­atur.

Klagenfurt/Celovec, im April 2022

* * *

1 Rain­er Maria Rilke: Duineser Elegien. Die erste Elegie.
2 Bun­des-Ver­fas­sungs­ge­setz. Artikel 9a, Abs (1), erster Teil­satz.
3 Alexan­der Van der Bellen: Rede an die Nation. Wien, am 21. Mai 2019.
4 Franz Kaf­ka: Die Zürauer Apho­ris­men. Frank­furt am Main 2006, S. 13.
5 Vgl. d. Har­ald Schmidt: In der Frit­taten­suppe feiert die Prov­inz ihre Tri­umphe. Thomas Bern­hard. Eine kuli­nar­ische Spuren­suche. Wien 2022.
6 Janko Ferk: Die Kun­st des Urteils. Wien-Berlin 2019.
7 Franz Kaf­ka: Die Zürauer Apho­ris­men. Frank­furt am Main 2006, S. 40.
8 Elias Canet­ti: Der andere Prozeß. Briefe an Felice. München 1969.
9 Hans Weigel: Die Lei­den der jun­gen Wörter. Ein Anti­wörter­buch. Graz – Wien 1989.