Sowjetische Witze

Von

Mari­nas Hand hielt dunkel­blaue Früchte ver­bor­gen. Die Hand­fläche war klein, klein­er als die Hand­flächen ander­er Neun­jähriger, und sie wurde in der Schule aus­gelacht, weil sie immer noch Kinder­gartenkindfin­ger hat­te. Sie war über­haupt klein gewach­sen und hat­te etwas Elen­des, Ver­dreht­es an sich, zart wie eine Elfe und lächer­lich wie ein Gnom. Sie war es gewohnt, sich vor dem Stief­vater weg zu duck­en, bevor er noch die Hand erhob, der Stief­mut­ter zu Dien­sten zu sein, bevor sie die Wün­sche aussprechen kon­nte. Ihre Grund­stim­mung war eine gut aus­ge­wo­gene Mis­chung aus Angst und Dankbarkeit, und den Witz, den ihr Stief­vater brül­lend vor Lachen ger­ade erzählt hat­te, der Witz, der die Stief­mut­ter ble­ich vor Entset­zen über die Fol­gen wer­den ließ (eine Blässe, die Mari­na auf sich bezo­gen inter­pretiert hat­te) schien ihr wed­er witzig noch ang­ster­re­gend, er beschrieb ihr Sein in sehr konkreter Art und Weise.

„Was emp­fan­den die Tschuk­tschen vor der großen Okto­ber­rev­o­lu­tion?“ grölte er in den Abend­him­mel über der Veran­da vor ver­sam­melten Nach­barn und Mit­be­wohn­ern der Som­mer­datscha, ein holzvertäfeltes Haus mit geschnitzten Fen­ster­rah­men und Türöff­nun­gen, weiß gestrichen. Die Veran­da war fast ver­fall­en, Moos wucherte über die Stufen und die Wände ent­lang. Knar­rende Holzdie­len. Schöne helle Leinen­vorhänge in den Fen­stern. Eine große Schale mit wilden Hei­del­beeren in ein­er Emailschüs­sel am Veran­datisch, ein Krug mit Milch daneben, die die Ver­mi­eterin jeden Mor­gen eigen­händig aus den rosa Eutern der Tiere drück­te. „Ein Gefühl von Kälte, Fin­ster­n­is und Hunger.“
„Igor,“ sagte die Stief­mut­ter leise und hielt sich am geschnitzten Holzträger der Datscha fest, wie um sich davon abzuhal­ten, ihre Hände über seinen Mund zu leg­en. „Bitte.“
„Und was empfind­en sie jet­zt?“
Er machte eine the­atralis­che Pause und sah tri­um­phierend in die Runde. Mari­na kan­nte nur die Nach­barn von gegenüber, das waren diesel­ben, die schon let­ztes Jahr zur sel­ben Zeit in dem kleinen Dör­fchen in der Nähe Leningrads namens Ore­cho­vo aufge­taucht waren. Alle Städter wie ihre Stiefel­tern.
„Ein Gefühl von Hunger, Kälte, Fin­ster­n­is und tiefer Dankbarkeit.“
Er lachte laut. Nie­mand lachte mit. Ihre Stief­mut­ter zog die Schul­tern hoch. Er sah das und ver­s­tummte, Mari­na sah den Zorn unter sein­er Schädeldecke zusam­men­brauen, unter der wie poliert glänzen­den Glatze, zwis­chen den rötlichen Back­en­bar­den, in sein­er Kehle, bald würde er her­vor­brechen, zwis­chen den Goldzäh­nen und dem dicht­en Bart. Sie stellte sich diesen Zorn vor wie eine dun­kle Wolke, oder, kor­rigierte sie sich gle­ich darauf, wie einen entwe­ichen­den heißen Dampf, der alles ver­bran­nte, was ihm in den Weg kam. Sie wollte ihm nicht in den Weg kom­men. Sie trat den Fluchtver­such an, ohne sich abzuwen­den, sie ging rück­wärts, vor­sichtig, als ob sie sich wie der Neffe des Oberg­ericht­srats Drosselmeier in einen Nussknack­er ver­wan­deln kön­nte. Den Nussknack­er hat­te sie mit ihrer Stief­mut­ter und ein­mal im The­ater gese­hen, und das Schaus­piel hat­te sie so beein­druckt, dass sie noch tage­lang von der Auf­führung träumte. Träumte von den Kostü­men, den inten­siv­en Far­ben des Büh­nen­bildes, schon damals waren Far­ben für sie so wichtig wie für andere vielle­icht Buch­staben oder Zahlen, man kon­nte in ihnen lesen, man kon­nte Formeln auf­stellen, die Naturge­set­ze trans­portierten, jeden­falls ihre eige­nen Naturge­set­ze. Der Stief­vater sah es nicht gerne, dass sie ihre Zeit mit einem Mal­block ver­brachte, und die kleine Palette, die sie sich zum 8. Geburt­stag gewün­scht hat­te, neigte sich bere­its dem Ende zu, die Farb­döschen waren kaum noch gefüllt, man sah den weißen Plas­tik­bo­den durch­scheinen, und sie stellte sich angstvoll vor, wie das wohl wäre, wenn sich eines Tages nicht ein­mal mehr ein klein­er Rest mit gespitztem Pin­sel aus den Ver­tiefun­gen her­auss­chälen ließe. Dann wäre sie stumm, blind. Dann wäre sie allein. Zum Neu­jahr, das im kom­mu­nis­tis­chen Rus­s­land das tra­di­tionelle Wei­h­nachts­fest abgelöst hat­te, kön­nte sie noch Glück haben, wenn Väterchen Frost, der den Wei­h­nachts­mann genau so ver­drängt hat­te, wie das Neu­jahrs­fest den Christ­tag, sich doch noch erbar­men würde, noch ein einziges Mal. Aber jet­zt stand der Som­mer noch in voller Hitze über den Feldern, die Wälder fie­len erst spätabends in tiefe Schat­ten, und die Ferien hat­ten ger­ade erst begonnen.
Sie schlich sich vor­sichtig weg, Schritt für Schritt, bis sie die Veran­da ver­lassen hat­te, erst da wagte sie es, sich umzu­drehen, und die bre­ite Holztreppe Gesicht voran hin­abzusteigen, den Blick in die in ein Feuer­w­erk aus Far­ben explodieren­den Blu­men im Garten des Ferien­haus­es.
In kurzen Hosen auf den Stufen saß er da, mit aufgeschla­ge­nen, schon verkrus­ten­den Knien, dunkel­braun getön­ten Beinen, glatt, wie aus einem Guss. Neben der Veran­da lehnte an der Haus­fas­sade sein ver­rostetes rotes Kinder­fahrrad mit einem plat­ten Reifen. Mari­na ver­ließ zöger­lich das Haus, stellte sich neben den Auf­gang, tat so, als hätte sie dort etwas zu tun, als hätte sie etwas bei ihm ver­loren, so, wie sie das heute noch tat.
Niedergeschla­gene Augen, kurzes helles Som­merkleid, plöt­zliche Hitze im Bauch. Er blick­te hoch und lächelte, sie sah ihn an und blieb vol­lkom­men ernst. Ihre dun­klen Augen, seine so hell wie der Bade­te­ich hin­ter dem Haus. Er kniff die Augen­lid­er zusam­men, das sah nicht böse aus, nur lustig.
„Ich bin Mark. Wer bist du?“ sagte er. „Ich hab dich hier noch nie gese­hen.“
Alles begann in diesem ersten Hin­blick­en, seinem Lächeln, und der Frage.
„Wer bist du?“.

Vielle­icht war es ein­fach diese Frage. Vielle­icht hat­te sie das noch nie zuvor gehört. Vielle­icht wusste sie keine Antwort darauf, und spürte, dass er ihr die Antwort geben kon­nte. Mit seinen zer­schla­ge­nen Knien. Mit seinem plat­ten Reifen am Kinder­fahrrad. Mit den hellen Härchen auf dunkel gebräun­ten Schul­tern, die noch etwas Mäd­chen­haftes hat­ten, damals, eben­so wie sein Gesicht. Er war ein wenig wie sie und er war ganz und gar nicht wie sie, und er war dort, wo er war, für immer in Sicher­heit.
Während sie die Geduldete war, die Aus­ge­hal­tene, die unwillig Aufgenommene. Die latente Gefahr als Echo ihrer gar nicht latent, son­dern sehr konkret gefährlich gewor­de­nen Eltern, die mit ihren Eigen­willigkeit­en nicht nur sich selb­st, nicht nur ihr Kind, son­dern auch die umgebende Ver­wandtschaft in Gefahr gebracht hat­ten, als der Blick auf sie fiel, den Mari­na inner­lich und seit sie im West­en lebte, immer mit dem im Her­rn der Ringe beschriebe­nen Auge ver­glich, das Auge, das wieder weit geöffnet Fleisch, Stein und Erde durch­drang auf der Suche nach etwas, das ihm bedrohlich hätte wer­den kön­nen: Stal­ins Blick, der sich über sein unkon­trol­liert verzweigen­des und immer neu­ver­net­zen­des Sicher­heitssys­tem in viele, viele Augen ver­wan­delt hat­te und in viele Ohren, seine Furcht war eine Hydra gewor­den, deren Köpfe nicht nachzuwach­sen bracht­en: kein­er wagte es, sie abzuschla­gen.
Nichts­destotrotz wur­den es mehr und mehr Köpfe, mehr und mehr Augen, mehr und mehr Ohren. „Stelle dir nur vor, sie verehrten früher Gott genau­so wie Stal­in,“ flüsterte ein­mal die WG-Nach­barin der Stief­mut­ter zu. An ihre Eltern kon­nte Mari­na sich nicht erin­nern, ver­mut­lich waren sie liebevoll gewe­sen, ver­mut­lich auch rechtschaf­fene Leute. Etwas anderes war aus ihrer Tante nicht her­auszubekom­men, die sie über­nom­men hat­te, damit Mari­na in kein Kinder­heim und in kein Umerziehungslager gebracht wurde. Ihr Brud­er war ein guter, aber ver­rück­ter Mann gewe­sen, und seine Frau hat­te diese Entwick­lung noch beschle­u­nigt, wie Papi­er, das man zu einem glosenden Lager­feuer legte, bevor die Kartof­feln hin­ter­hergelegt wer­den kon­nten. Ihre Eltern waren das Feuer und das Papi­er gewe­sen, die Kartof­fel, die man erst viel später und nach abkühlen des Bran­des aus der Asche klauben kon­nte, war Mari­na. Die Tante fürchtete sehr, sich die Fin­ger an Mari­na zu ver­bren­nen, aber sie war so rechtschaf­fen wie ihr Brud­er. Ver­mut­lich.
Sie hat­te es nicht übers Herz gebracht, das ein­jährige Mäd­chen einem recht wahrschein­lichen Tod in ein­er Kleinkinder­heim­szener­ie zu über­lassen und hat­te ihm ein Dach über dem Kopf gegeben. Wenn sie weinte, so weinte sie heim­lich. Mari­na hat­te sie oft schweigend am Tisch sitzen sehen, wenn der Onkel schon längst schlafen gegan­gen war, um den anstren­gen­den näch­sten Arbeit­stag zu bewälti­gen. Die Arbeit als Kranken­schwest­er war sicher­lich nicht leichter. Den­noch fand Mari­na die Tante immer wieder mit­ten in der Nacht, wenn sie auf die Toi­lette ging, zusam­menge­sunken über ein­er Tasse erkalteten Tees, bei­de Ell­bo­gen in die Plas­tik­tis­chdecke mit den roten Kirschen gebohrt. Die Beziehung zum Brud­er war eng gewe­sen, aber sie wagte es nicht, auch nur Nach­forschun­gen anzustellen, wo er sich befind­en kon­nte, ob er noch am Leben war. Oder aber sie wusste es und schwieg aus falsch ver­standen­er Rück­sicht dem Kind gegenüber, ließ es in trügerisch­er Ungewis­sheit, vielle­icht tröstete sie sich selb­st mit der Vorstel­lung, Mari­nas Eltern kön­nten eines Tages zurück­kom­men und ein neues Leben würde anbrechen. Für das Kind und für alle.

Als Mari­na ihn sah, wusste sie, dieses still ver­sproch­ene neue Leben war ange­brochen. Als sie ihn später an diesem Tag das erste Mal berührte, Fin­gerkuppe auf Schul­ter. Aber er wusste es noch nicht, und ihn musste sie unbe­d­ingt darauf hin­weisen.
Die hölz­erne Veran­da­treppe im here­in­brechen­den Abend mit­ten im rus­sis­chen Som­mer blieb ihr Heimat für die näch­sten 45 Jahre. Dieses Land. Dieses Dorf. Diese Veran­da. Auch, nach­dem sie all das längst hin­ter sich gelassen und sich die Wurzeln mit der Entschlossen­heit eines wilden Tieres abgeris­sen hat­te, das sich nur durch das Abtren­nen der gefan­genen Pfote aus der Falle befreien kann.
Dieses Ankom­men, neben ihm sitzend. Die Beine hochge­zo­gen, Ober­schenkel an Ober­schenkel, Hei­del­beeren in der Hand. Mit­ten im wohltem­perierten rus­sis­chen Som­mer. Die opti­male Tem­per­atur für ihre Haut, für Wald­him­beeren und Hei­del­beeren, für Moos­beeren, deren oranges Leucht­en nur den nordis­chen Län­dern vor­be­hal­ten ist. Ihre Fam­i­lien wür­den sich später anfre­un­den, vor allem die Frauen. Sie waren froh, jeman­den gefun­den zu haben, der ihnen Gesellschaft leis­tete. Die Män­ner ver­bracht­en den Urlaub beim Spir­i­tu­osenkiosk des Dör­fchens oder beim Angeln am See. So kam es, dass die Kinder immer wieder gemein­sam auf Urlaub fuhren. Im Som­mer und bald auch im Win­ter, der ein grünes ver­wun­sch­enes Schim­mern über den Schneewe­hen für Mari­na und Mark aus­bre­it­ete.
Dieses win­ter­lich grüne Licht, das sie später in Nor­we­gen erwartete, hat­te sie so oft mit ihm geteilt, als sie noch klein waren. Bei Aus­flü­gen auf Langlauf­schiern, erst in Begleitung der Tante oder sein­er Eltern, später allein, erst aufgeregt und dann rou­tiniert. In dem ersten Win­ter lachte er, als sie nach sein­er Hand greifen wollte, und sagte: „In einem Jahr weiß ich bes­timmt gar nicht mehr, wer du bist.“ Sie sagte nichts darauf und biss auf ihre Lippe, aber sie dachte: „Aber ganz bes­timmt weisst du es“, und sie behielt recht.