Atemlos ausgeklinkt

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Mein Sohn will sich das Leben nehmen, der Gedanke schießt in meinen Kopf, hakt sich fest, bohrt sich tief in mein Hirn, dun­kle Novem­ber-Coro­na-Nacht, ich sitze auf der Ter­rasse, Rauchkringel über dem Rotwe­in­glas, das Leben ist schon seit langem nur mehr mit viel Rotwein zu ertra­gen, wobei Coro­na in diesem Jahr mein ger­ing­stes Prob­lem war und ist, seit Sep­tem­ber spüre ich die Wolken der Depres­sion, die über ihn, meinen Sohn Ari­an, here­inziehen, anfangs noch luftig und licht­grau, später dichter und dunkel­grau, jet­zt schwarz und schw­er, ich habe ihm ange­boten, in meinem Haus zu wohnen, so wie im Früh­ling und im Som­mer, als das Leben zuerst bleis­chw­er war und dann, plöt­zlich, wie durch ein Wun­der, aber es war ein Wun­der der Tech­nik, schw­ere­los wurde, fed­er­le­ichte Som­mer­abende und Lachen beim Wer­be­fernse­hen, ich habe ihn gebeten, mich anzu­rufen und mir Bescheid zu geben, ob er mein Ange­bot annehmen wolle, denn es ist nicht gut, dass der Men­sch allein sei, und es ist schon gar nicht gut, dass der depres­sive Men­sch allein sei, aber er hat nicht angerufen, und am näch­sten Tag kon­nte er sich nicht erin­nern, dass ich ihn darum gebeten hat­te, er kon­nte sich an gar nichts erin­nern, außer vielle­icht an seine eigene Trauer und seine Schuldge­füh­le, alles ver­schlossen hin­ter einem ver­siegel­ten Mund, schar­fkantige Bilder von Ari­an und Selb­stver­let­zung kriechen in meinen Kopf, warum gehe ich nicht ein­fach hin­unter in sein Haus und schaue nach dem Recht­en, aber da ist sie wieder, diese immer­währende Gren­zlin­ie, auf der ich mich bewege, diese schmale Schwe­be­balken­lin­ie, Zirkus­seillinie, von der man so leicht abstürzen kann, die Lin­ie zwis­chen Schutz, Ari­an nen­nt es Kon­trolle, und Freilassen, ich kann doch einen über 50-jähri­gen Mann nicht bemut­tern als wäre er ein kleines Kind, das hat er mir schon viel zu oft vorge­wor­fen im Lauf seines Lebens, aber darf ich ihn freilassen, wenn ich spüre, dass das in seinen Fre­itod führen kön­nte, wobei … frei …, ich bete zu irgen­deinem undefinierten Gott, er möge Ari­an diese Nacht über­ste­hen lassen, und mor­gen würde ich ihn unter irgen­deinem Vor­wand in mein Haus lock­en und nicht mehr gehen lassen, mor­gen, denke ich, hof­fentlich ist es dann nicht zu spät, noch ein Glas Rotwein, noch zwei Zigaret­ten, ich bin ein Idiot, warum tue ich nichts, ich stiere ins Rotwe­in­glas, es ist leer, ich fülle es nach, zum wieviel­ten Mal, mein Oberkör­p­er schwankt, in so einem Zus­tand kann ich nicht in Ari­ans Haus gehen, vielle­icht bilde ich mir alles nur ein, vielle­icht schläft er und ich würde ihn nur unnötig beun­ruhi­gen, oder ich würde aus­flip­pen und mit ihm stre­it­en, ich habe in den let­zten Monat­en zu viel Kraft ver­braucht, mein Akku ist leer, ich sollte ihn anders auf­füllen als mit Rotwein, Rotwein im Kör­p­er ist ein leicht ent­flamm­bar­er Brennstoff. (...)

Dabei hat das Jahr 2020 geschäftlich sehr gut begonnen, im Jän­ner und Feber hat­ten wir mehr Besuch­er als im sel­ben Zeitraum des Vor­jahres und waren voller Hoff­nung auf ein erfol­gre­ich­es Kino­jahr, was mir allerd­ings Sor­gen bere­it­ete war, dass Ari­an extrem anges­pan­nt und angestrengt wirk­te, er saß an der Kinokas­sa mit ständig gerun­zel­ter Stirn, sprach mit zu hoher Stressstimme, jede Kleinigkeit brachte ihn aus der Fas­sung, automa­tisierte Hand­griffe, die er früher wie im Schlaf erledigt hat­te, fie­len ihm so schw­er, als würde er sie jedes Mal neu erfind­en.

Und dann ste­ht mit einem Mal alles still, ein Virus, aus Chi­na, weit weg zunächst, dann immer näherk­om­mend, schließlich auch bei uns, schließlich über­all, Virus, Shut­down, Lock­down, Pan­demie, Wörter, die wir nie zuvor gebraucht haben, wer­den Teil der All­t­agssprache, das Kino muss schließen, geplante Lesun­gen wer­den abge­sagt, Tochter und Schwiegersohn arbeit­en im Home­of­fice, die Enkelkinder sind im Dis­tance-Learn­ing und über­haupt auf dis­tance, Kon­tak­te zu den Enkelkindern sind ver­boten, vor allem, um die Großel­tern zu schützen, nie­mand fragt mich, ob ich geschützt wer­den will, ich bin über 70, ich habe die beste aller Wel­ten erlebt, ich kann gehen, wenn es sein muss. (...)

Ich ver­folge die Coro­na-News im TV, solange bis mir Hören und Sehen verge­ht, werde zunächst immer skep­tis­ch­er den Fal­lzahlen gegenüber, beson­ders den Todes­fal­lzahlen, Mel­dun­gen wie: „94-Jähriger mit Vor­erkrankun­gen plöt­zlich und uner­wartet mit Coro­na ver­stor­ben“ lassen mir die verbliebe­nen grauen Haare zu Berge ste­hen, wenn ich an die Gewin­ner dieser Krise, Inter­netriesen, Phar­makonz­erne, Plas­tikin­dus­trie denke, wird mir speiü­bel, eine Zeit­lang glaube ich Sprüche wie: Wo aber Gefahr wächst, wächst das Ret­tende auch – und so, kaufe Klopa­pi­er, nicht so viel wie die anderen, aber doch mehr als son­st, wenn die Lage beschissen ist, kaufen die Men­schen Klopa­pi­er, immer­hin bess­er als Waf­fen, ich räume wochen­lang mein Haus auf, entsorge Ton­nen von Alt­pa­pi­er in der Alt­pa­pier­tonne, schreibe Hun­derte von E-Mails, halte Video-Lesun­gen, gebe Video-Inter­views, schnei­de die Rosen, pflege den Garten, putze ein biss­chen in Ari­ans Haus herum, er hat im Klo nicht ein­mal die Wasser­spülung betätigt, ich backe Brot, mache Bär­lauch­pesto, mein Mann und mein Sohn helfen mir dabei, Ari­an ist nicht fähig, den Bär­lauch fein zu hack­en, ich mache witzige Fotos zu ver­ball­horn­ten Filmtiteln, die sich gle­ichzeit­ig auch auf den Shut­down beziehen, für den Kinoschaukas­ten und fürs Face­book, damit nicht immer nur die trock­ene Mel­dung „Wegen Coro­na geschlossen“ dort auf­scheint, was wenig attrak­tiv ist und schließlich zu einem völ­li­gen Desin­ter­esse führen würde, die Post­ings wer­den von den Kino­fans hun­dert­fach geliked, manche schreiben witzige Kom­mentare dazu, wie: Welch­er Ver­leih? Wie lange ist die Spielzeit? Kann ich Karten bestellen?, Ari­an schaut auf allen diesen Fotos anges­pan­nt und angestrengt aus, obwohl er sich die größte Mühe gibt zu lächeln, ich hat­te so sehr gehofft, dass er sich in den Wochen des Shut­downs entspan­nen und erholen würde, aber nichts der­gle­ichen geschieht, er scheint mir mit jedem Tag noch angestrengter zu sein, als stünde er unter Dauer­stress, ich kann es mir nicht erk­lären, oder eher will ich es mir nicht erk­lären, denn tief in meinem Inneren schwelt der Ver­dacht, dass mit seinem Kopf wieder etwas nicht in Ord­nung ist, dass wir wieder auf die Via Dolorosa zuge­hen, die sehr lang und sehr steinig ist.

Mitte April habe ich den Gen­er­alputz been­det, das Kino­face­book ist am Laufen, Ari­an schaut immer angestrengter aus, meine Nächte sind von Schlaflosigkeit und Äng­sten geprägt, die ich mit meinem Mann zu teilen ver­suche, ein Ver­such, der kläglich scheit­ert, sein einziger Kom­men­tar ist, Ari­an sei deshalb so niedergeschla­gen und lust­los, weil ich ihm alles vorschreibe und weil ich sowieso und über­haupt viel zu dom­i­nant sei, ich hat­te gehofft, dass mein Mann und ich uns in der Zeit des Still­stands wieder annäh­ern wür­den, aber die Ent­frem­dung wird immer größer, ich beschließe, ihm nichts Wichtiges mehr zu sagen, eines Tages hört Ari­an auf, mir E-Mails zu schreiben, bish­er hat er mir trotz aller Anges­pan­ntheit fast täglich ein mehr oder weniger witziges Mail geschickt, da begin­nen sämtliche Alarm­sire­nen in meinem Kopf zu schrillen, die Erin­nerung an frühere Kop­f­op­er­a­tio­nen öff­nen sich, alle zugle­ich, Ari­an als Baby, nach der ersten Oper­a­tion mit einem völ­lig ver­schrumpel­ten Kopf, Ari­an als Erwach­sen­er, nach der acht­en Kop­f­op­er­a­tion in ein­er schw­eren post­op­er­a­tiv­en Depres­sion, monate­langes dumpfes Schweigen und in mir ein Aggres­sion­spegel, der nicht einen Mil­lime­ter hätte höher steigen dür­fen, son­st wäre es zu ein­er fatal­en Explo­sion gekom­men. (...)

Als er auf­ste­ht, wankt er, und als er dann am Ter­rassen­tisch sitzt, dro­ht er plöt­zlich vom Ses­sel zu fall­en, ich darf ihn nicht mehr allein lassen, es ist viel zu gefährlich gewor­den, mor­gen muss ich auf der Neu­rochirur­gis­chen Sta­tion im AKH anrufen und einen Ter­min für ihn aus­machen, ich habe es in der ver­gan­genen Woche schon zig­mal pro­biert, hing aber nur stun­den­lang in der Warteschleife, nie­mand hob ab, nicht ein­mal zu den angegebe­nen Anmeldezeit­en, ich richte meinem alten Kind ein Bett im Gästez­im­mer her, Ari­an geht früh schlafen, ich schlafe nicht, sehe Bilder von bluti­gen Köpfen, denke an den Kopf meines Sohnes, den acht­mal aufgesägten und wieder zusam­menge­flick­ten Kopf, an diese heimtück­ische unheil­bare Krankheit, zu viel Gehirn­flüs­sigkeit, die kün­stlich abgeleit­et wer­den muss, und wenn das Ven­til nicht funk­tion­iert und der Über­druck steigt, kann Ari­an nicht ein­mal die ein­fach­sten Dinge tun, dann ver­liert er völ­lig die Ori­en­tierung, find­et kaum vom Nach­bar­dorf nach Hause, weiß nicht mehr, wie man von einem Rad absteigt, und irgend­wann kann er nicht mehr gehen, nicht ste­hen, nicht sitzen, nicht essen, nicht trinken, nur schlafen.

Am Mor­gen ist sein Zus­tand unverän­dert, wir früh­stück­en, er will mir Kaf­fee ein­schenken, trifft die Tasse nicht, der Kaf­fee ver­sick­ert im Tis­chtuch, ich rufe im AKH an, bin völ­lig über­rascht, als sich nicht das Ton­band, son­dern eine leib­haftige Men­schen­stimme meldet. ( ...) Die Diag­nose ist ein­deutig, das Ven­til im Kopf ist kaputt, es habe sowieso sehr lange gehal­ten, meint der Arzt, mein Sohn habe Glück gehabt, 18 Jahre, das sei eine lange Zeit, nor­maler­weise halte es besten­falls 15 Jahre, beim Ein­gang zur Bet­ten­sta­tion wird ein Coro­nat­est gemacht, ich muss mich von Ari­an ver­ab­schieden, ich werde ihn auch nach der Oper­a­tion nicht besuchen dür­fen, keines­falls aber werde ich nach Hause fahren, ich werde in der Wiener Woh­nung bleiben, auch wenn ich Ari­an nicht besuchen darf, falls irgen­det­was passiert, bin ich zur Stelle, die Woh­nung in Gehdis­tanz zum AKH, ein kalter Wind bläst, die Straßen men­schen­leer und dreck­ig, Geschäfte, Restau­rants und Cafés geschlossen, meine beste Fre­undin liegt seit fast 20 Jahren auf dem Her­nalser Fried­hof, als sie starb, war sie kaum älter als mein Sohn jet­zt ist, ich wollte, ich kön­nte sie anrufen. (...)

Ari­ans Zus­tand hat sich in den let­zten zwei Tagen mas­siv ver­schlechtert, (...) ich muss es ihm sagen, ihn aufs Schlimm­ste vor­bere­it­en, ich habe den Spi­tal­skof­fer gepackt, Ari­an nickt … Wir haben bei­de unsere Rüs­tun­gen aus Stahl ange­zo­gen … nur mein Mann besitzt keine … ich habe ihn schon lange nicht mehr so verzweifelt gese­hen, und dann, am näch­sten Tag, das tech­nis­che Wun­der, das Kopfven­til wird umgestellt, mit­tels eines Mag­neten, von außen, ohne neuer­liche Oper­a­tion, ohne dass Ari­an noch ein­mal der Schädel aufgesägt wird, Kopf­druck weg, Kopf­schmerzen weg, Müdigkeit weg, alle neu­rol­o­gis­chen Funk­tio­nen sind mit einem „Dreh“ wieder da, von diesem Augen­blick an ist Ari­an wie ver­wan­delt, ein Wun­der, das wir auch am näch­sten Tag, als wir eine stun­den­lange Wan­derung durch die Stadt machen, kaum fassen kön­nen.

Nach ein paar guten Tagen zu Hause bekommt er eine schwere Dar­m­grippe, die ihn wieder für drei Wochen aufs Kranken­bett wirft und sieben Kilo Gewicht kostet, während dieser ganzen Zeit (vor und nach Ari­ans Wiederge­burt) haben wir in wochen­langer Arbeit den durch einen Wasser­schaden völ­lig morschen Fuß­bo­den des Kinosaals ren­oviert, 100 Kinoses­sel wer­den abgeschraubt und zwis­chen den ste­henge­bliebe­nen Rei­hen ver­staut, der Tep­pich­bo­den wird abgelöst, der morsche Holzun­ter­grund bis zur Beton­grund­plat­te abge­tra­gen, der Schutt entsorgt, ein neuer Holzun­ter­grund aufge­baut, ein neuer Tep­pich­bo­den darübergelegt, die Ses­sel wer­den wieder angeschraubt, das klingt nach einem Spazier­gang, ist aber eine lang­wierige, müh­same und sehr staubige tour de force, die pur­purroten Ses­sel von ein­er dick­en Staub­schicht bedeckt, ros­t­grau, ich habe die Bauar­beit­en koor­diniert und beauf­sichtigt, Ari­an hat teil­nahm­s­los am Rande zugeschaut, wenn er über­haupt dazu fähig war, und als alles fer­tig war, habe ich drei­hun­dert Kinoses­sel geputzt und alles andere auch, und sah danach sel­ber ros­t­grau aus, nach monate­lan­gen zähen Ver­hand­lun­gen hat sich schließlich die Ver­sicherung gnädig bere­it erk­lärt, den Großteil des Schadens zu bezahlen.

Irgend­wie schaf­fen wir es, Anfang Juli das Kino wieder zu eröff­nen, es war schwierig, das erste Pro­gramm zu erstellen, nach dieser lan­gen Absti­nenz, aus den Face­book­post­ings habe ich ein Büch­lein gestal­tet und druck­en lassen, ein Bilder­buch von mir ist in ein­er mehrsprachi­gen Aus­gabe erschienen und in Deutsch­land aus­geze­ich­net wor­den, bei­de Büch­er stellen wir bei der Eröff­nungs­feier vor, die Kinobe­such­er ver­sich­ern uns immer wieder, wie froh sie über die Wieder­eröff­nung sind, es ist ein son­niger Tag, leb­haft und bunt, vor dem Kino spielt eine Tromm­ler­gruppe, Men­schen­men­gen wogen auf der Straße, Ari­an ist gesund, der Lock­down ist vor­bei, alles wird gut, Nach­mit­tage am Pool, kinofreie Som­mer­abende auf der Ter­rasse, wir haben die Anzahl der Spielt­age reduziert, Ari­an muss eine bessere Work-Life-Bal­ance bekom­men, jahre­lang hat er sieben Tage die Woche gear­beit­et, ohne Pause, ohne Ruhetag, kaum ein Urlaub, aber jet­zt eine angenehme Reduk­tion und ein Pro­gramm wie ein Art­house-Kino, wahrschein­lich das beste, das wir jemals hat­ten, mit den wenig­sten Besuch­ern, die wir in einem Juli oder August jemals hat­ten, den­noch schwebt eine Leichtigkeit über diesem Som­mer, diesem Som­mer mit Ari­an, sein Lachen malt Son­nenkringel ins Wohnz­im­mer, seine Kom­mentare machen das Wer­be­fernse­hen zum Kabarett, meine Tochter, die Enkelkinder, Fre­unde kom­men uns besuchen, man kann sich endlich frei bewe­gen, es find­en auch wieder Lesun­gen statt, mein Mann und Ari­an begleit­en mich, ein biss­chen Nor­mal­ität, und wenig­stens jet­zt ein biss­chen Erhol­ung, wenn sie uns in der Zeit des Shut­downs schon nicht vergön­nt war. (...)

Und jet­zt sitze ich da, in dieser dun­klen Novem­ber­nacht, Ari­an will sich das Leben nehmen, ein Gedanke, so scharf und spitz wie ein feingeschlif­f­enes Küchen­mess­er mit Dia­man­tk­linge, habe ich Ari­an zu viel zuge­mutet, hätte er nach der Oper­a­tion eine län­gere Auszeit gebraucht, ist ihm die Arbeit im Kino ganz ein­fach zu viel, ist er aus­ge­bran­nt, war er in seinem Leben immer über­fordert, habe ich ihn über­fordert? (...)

Nach der dun­klen Novem­ber­nacht gelingt es mir, Ari­an mit einem guten Aben­dessen in mein Haus zu lock­en, wir essen schweigend, räu­men schweigend den Tisch ab, dann sitzen wir auf der Ter­rasse, Ari­ans Mund noch immer ver­siegelt, ich rede auf ihn ein, ich komme mir vor wie ein Gran­it­bohrer, stoße auf undurch­dringlich­es Gestein, Ari­an schweigt, schweigt behar­rlich, als könne er nie wieder auch nur einen einzi­gen Satz sprechen, ich spüre, wie eine unbändi­ge Wut in mir auf­steigt, ich darf die Beherrschung nicht ver­lieren, ich gebe auf, da öff­nen sich seine Lip­pen, zaghaft, mühevoll, und stoßweise und in winzi­gen Häp­pchen gibt Ari­an preis, was ihn in den let­zten Tagen beschäftigt hat und bedrückt, Ideen, die seinen Kopf völ­lig kolo­nial­isiert haben und jeden vernün­fti­gen Gedanken unmöglich machen, ich erfahre, nach Stun­den, dass er ver­sucht hat, sich mit einem Schal den Hals zuzuschnüren, hat er tat­säch­lich gedacht, er kön­nte sich selb­st erdrosseln, ich erfahre, dass er sich in ein­er dieser schon sehr kalten Novem­bernächte auf den nack­ten Beton­bo­den seines Balkons gelegt hat, in der Hoff­nung, er würde ein­schlafen und erfrieren, ich bin erschüt­tert, mein Sohn hat tat­säch­lich daran gedacht, sich das Leben zu nehmen, mein Gefühl hat mich nicht getäuscht, Gott sei Dank hat Ari­an es so stüm­per­haft gemacht, dass die Ver­suche nicht geglückt sind, aber grell­rote Alar­mze­ichen sind sie alle­mal, genau­so sieht das auch der Arzt (...), als wir gehen, sagt er: „Wenn ich nicht wüsste, dass er bei Ihnen gut aufge­hoben ist, würde ich Ihren Sohn sta­tionär aufnehmen, man darf ihn in diesem Zus­tand keines­falls allein lassen.“ (...)

Der Feber und der März scheinen mich für die Stra­pazen des let­zten Jahres entschädi­gen zu wollen, eine franzö­sis­che Über­set­zung eines mein­er Büch­er wird gemacht, der WDR sendet eine szenis­che Lesung eines mein­er Texte, ich bekomme einen neuen Bilder­buchauf­trag, mein Mann und ich gestal­ten ein kleines Tanzpro­jekt, eine Arbeit, die uns wieder näher­bringt, der ORF macht einen Bericht darüber, Inter­views, Pod­casts und Hör­büch­er gehen online, und das größte Geschenk: Ari­an lächelt, Ari­an lacht, seit Monat­en zum ersten Mal.

Ich atme auf, ich atme durch.

Ari­an entrüm­pelt sein Haus, zum ersten Mal seit er dort wohnt, macht er es sich zu eigen, gestal­tet es nach seinen Wün­schen, mein Mann und Ari­an machen täglich einen lan­gen Spazier­gang und kom­men einan­der so nah wie noch nie zuvor.

Ruhe ist eingekehrt. Endlich.
Von mir aus kann der Lock­down noch lange dauern, für mich hat er eben erst begonnen.

Wie es weit­erge­hen wird?
Manch­mal denke ich, dass ich zu einem nor­malen Leben wie in Vor-Coro­n­azeit­en nicht mehr fähig bin, dass ich diese Hek­tik nicht mehr aushalte, dass ich nicht ständig einges­pan­nt sein will in den Kreis­lauf tausender Pflicht­en, dass ich nicht mehr im Kino werde arbeit­en kön­nen, ich habe alles ver­lernt und vergessen, der Megas­tress des let­zten Jahres hat 90 Prozent mein­er Kopf­dateien gelöscht, alles ist ver­loren, jeden Hand­griff werde ich wieder müh­sam neu ler­nen müssen, ich kann den Com­put­er nicht mehr hand­haben, kann keinen Film mehr laden, ich kann wahrschein­lich nicht ein­mal mehr die Pop­corn­mas­chine bedi­enen, ich habe mich im let­zten Jahr, mit Aus­nahme der vier Monate, in denen wir das Kino geöffnet hat­ten, nicht mehr mit neuen Fil­men beschäftigt, auch habe ich das Gefühl, dass Ari­an sehr gut ohne Kino leben kann, dass er endlich ein wenig Frei­heit erlebt, ich weiß nicht, ob er sich noch jemals vor diesen Kinokar­ren span­nen wird, iro­nis­cher­weise jet­zt, wo alles repari­ert, ren­oviert und auf den neuesten tech­nis­chen Stand gebracht ist, jet­zt, wo wir vielle­icht zum ersten Mal seit Jahren ein­wand­frei funk­tion­ierende Pro­jek­toren haben, aber durch diese lange Zeit des Still­stands, so dankbar ich wegen Ari­an dafür bin, er und auch ich haben diesen Still­stand drin­gend gebraucht, ist die Energie ver­pufft, das Feuer bren­nt nicht mehr, ich weiß nicht, ob wir das noch auf uns nehmen wollen, dass wir immer auf die Uhr schauen müssen, von jedem Fam­i­lien­fest wegren­nen müssen, zu jed­er anderen Kul­turver­anstal­tung nur allein gehen kön­nen oder uns müh­sam freimachen/freikaufen müssen, den Stress von nicht funk­tion­ieren­den Com­put­ern, Maschi­nen, Heizun­gen etc. haben wollen, den Stress von fast leeren Kinosälen, man ste­ht den ganzen Tag herum, ist am Abend hun­demüde, hat das Leben ver­säumt, für nichts, schon nach dem ersten Lock­down gin­gen die Besucherzahlen um zwei Drit­tel oder fast drei Vier­tel zurück, und was wird jet­zt sein, nach diesem riesig lan­gen Lock­down, wo allen schon alles wurscht gewor­den ist, wo man die ganze Energie ver­loren hat und den Glauben, dass alles wieder gut wird, jet­zt, wo man sich fragt: Wie lange wird die Krise noch dauern? Wer­den sich die Leute ins Kino trauen? Und wer­den sie das Kino über­haupt noch brauchen, nach­dem sie ein Jahr lang sehr viel Zeit vor dem Fernse­her ver­bracht haben, fast jed­er die Dien­ste eines Stream­ing­di­en­stes in Anspruch nimmt und das Leben ins­ge­samt mehr dig­i­tal als real gewor­den ist?

Die Big Play­er sind die großen Gewin­ner dieser Krise.
Sie sind die Gewin­ner in der Krise, sie wer­den die Gewin­ner nach der Krise sein.
Die kleinen gehen unter in dem Spiel.
Die Kul­tur ist sowieso nicht „sys­tem­rel­e­vant“.
Sys­tem­rel­e­vant sind Essen, Trinken, Hygiene, ärztliche Ver­sorgung, Post und Bank, Tabak, Zeitun­gen, Fernse­hen und Stream­ing­di­en­ste, Friseure und Hun­de­sa­lons.
Wir kön­nten also das sys­tem-irrel­e­vante Kino zus­per­ren, die let­zte ständi­ge Kul­turein­rich­tung in unserem Dorf, das sich „Stadt“ nen­nt.
Dann wird es vor­bei sein – mit guten Fil­men, Begeg­nun­gen mit Men­schen, mit gemein­samem Lachen und Weinen im Kinosaal, mit Lesun­gen, Diskus­sio­nen, Konz­erten, The­ater, Kabarett … Dann muss man Kul­tur tat­säch­lich müh­sam mit dem Auto er-fahren oder ganz darauf verzicht­en.
Und was geschieht mit Ari­an, wenn er seinen bish­eri­gen Lebenssinn ver­liert?
Und was geschieht mit unseren frisch ren­ovierten Ruinen?

Die zweit­größte Kinokette in den USA wird nicht mehr auf­sper­ren.

Der Gesund­heitsmin­is­ter ist zurück­ge­treten.