Bühnenerfahrung

Von

Frau X wird auf die Bühne gehoben. Im ersten Moment ken­nt sie sich nicht aus. Wo sie ist und warum. Aber, let­ztlich hebt man sie auf die Bühne. Hun­derte Hände. Ist kurz zuvor hin­ten ges­tanden, am Rand der Menge, ein wenig abseits. Frau X legt keinen Wert auf Gedränge, nie. Im Gedränge, find­et sie, sieht man nichts. Oder nur Teile des Ganzen. Einen Musik­erkopf. Eine in die Luft geschwun­gene Gitarre. Bei anderen Anlässen anderes: Schei­t­el, Nasen, ver­huschte Bewe­gung. Die großen Bild­schirme links und rechts der Büh­nen, diese aufgewür­fel­ten Mon­i­tore, sind nicht bess­er.
Frau X achtet immer auf Abstand, seit jeher. Bei Konz­erten, poli­tis­chen Kundge­bun­gen, in der Bäck­erei, in Buch­hand­lun­gen, im Schwimm­bad, auf Demon­stra­tio­nen, die sie besucht, um teilzunehmen. Um sich durch die Teil­nahme vom Gefühl der Hil­flosigkeit zu dis­tanzieren. Was gelingt, wenn rund um sie Raum ist. Wenn die Men­schen fre­undlich bleiben und andere Men­schen dazu brin­gen, aus Fen­stern zu winken. Freude und Wut, gemein­sam for­muliert: Frau X ist dur­chaus imstande, Protest­gesänge anzus­tim­men. Sie kann auf zwei Fin­gern pfeifen und tut es manch­mal im Hochge­fühl.
Frau X ist eine tem­poräre Mitläuferin, die sich, sobald der Zug zum Ste­hen kommt, sobald Reden geschwun­gen wer­den (wie Gitar­ren auf Konz­ert­büh­nen), einen sicheren Platz sucht, eine Haus­mauer, einen Hau­sein­gang, einen Trep­pen­ab­satz, ein Straße­neck, wo sie unter dem blauen Schild, das den Straßen­na­men ver­rät, mit Son­nen­brille und schmalen Lip­pen lauscht. Die raue Struk­tur der Mauer im Rück­en, mit Glück von der Sonne angewärmt.
Die schmalen Lip­pen sind ihr ange­boren, haben nichts Sinnlich­es, nichts Schiefes, bleiben ohne Farbe, weil: Wofür? Die Möglichkeit, eines Tages von hun­derten Hän­den vom hin­teren Rand ein­er Menge über diese getra­gen zu wer­den und auf die Bühne gestellt, hat sie nicht bedacht.
Sie trägt ihre Son­nen­brille, die beim Dis­tanzhal­ten hil­ft. Sie trägt Skin­ny-Jeans und Turn­schuhe, also Sneak­er, und ein T-Shirt. Ihre leichte, knielange Jacke fiel, wie ihre Tasche, in eine der frem­den Hände.
Frau X ste­ht am Büh­nen­rand und blinzelt durch die getön­ten Bril­lengläs­er ins Schein­wer­fer­licht. Bis ein Mann ihr auf die Schuh­spitzen tippt. Er ist groß und bul­lig, seine Glatze dom­i­nant, er sieht aus dem Büh­nen­graben zu ihr hin­auf und deutet. Auf etwas, das hin­ter Frau X sein muss. Bewegt auch die Lip­pen, aber der Lärm ist enorm. Man hat ihm hier einen Tram­pel vor die Glatze gestellt. Der wie angewurzelt ste­hen bleibt und den Ablauf stört durch Nichtwissen der Gepflo­gen­heit. Das liest Frau X im Mienen­spiel des Bul­li­gen. Nein. Das glaubt sie, aus dessen Mienen­spiel zu lesen. Es ist nicht deut­lich.
Sie macht einen Schritt zurück. Die Menge, die sie getra­gen hat auf ihren Hän­den, die sie schweben ließ und dazu jubelte. (Frau X nimmt an, wegen der gemein­sam voll­bracht­en Aktion, jeman­den von ganz hin­ten nach ganz vorne zu ver­set­zen, zu ver­stellen eigentlich.) Diese Menge ver­s­tummt, das laute Reden und Murmeln und die vere­inzel­ten Pfiffe, es wird still. Wirkt in Frau X nach, das Schweben, der Klangtep­pich darunter und darüber im Wider­hall. Die Berührun­gen am ganzen Kör­p­er. Hände am Hin­terkopf, am Gesäß, an den Schul­tern, auf der Rück­seite der Ober- und Unter­schenkel. Zwis­chen den Beinen? Hat­ten sich Fin­ger nach vorne verir­rt, zu den Brüsten? Sie kön­nte es nicht sagen.
Ein Sport-BH hält alles an seinem Platz, sie mag die Enge, das gute Gefühl, ver­packt zu sein. Solange, bis sie daheim die Tür hin­ter sich schließt und ihr im sel­ben Moment die Luft weg­bleibt, eine Selt­samkeit. In ihrer Woh­nung muss sie umge­hend aus dem BH schlüpfen, noch bevor sie den Schlüs­sel an seinen Hak­en gehängt hat. An diese Marotte denkt sie und wun­dert sich, worin sie begrün­det ist, ob ihr buch­stäblich die Luft weg­bliebe, behielte sie den BH in der Woh­nung an, oder ob sich hier bloße Gewohn­heit mit Ein­bil­dung verknüpfe und dem oft vor Fre­undin­nen wieder­holten Beken­nt­nis, dass das erste, was sie sich vom Leib reiße nach einem Arbeit­stag, der BH wäre. Noch vor dem Schlüs­se­laufhän­gen, wisst ihr? Noch bevor ich mir die Schuhe ausziehe.
Eine verbindliche Anek­dote? Verbindlich im Sinne von: sorgt immer für Zus­tim­mung und Einigkeit?
Dass sie sich über ihr pri­vates Ver­hal­ten wun­dert, find­et sie unpassend, denn sie ste­ht auf ein­er Bühne und sollte sich eher darüber wun­dern. Ein Ersatzwun­dern, denkt sie sich. Und dass man daraus auf eine Nei­gung zur Abwe­sen­heit schließen könne.
Die völ­lige Stille lässt sie aufhorchen, lässt Frau X die Ohren öff­nen, lässt sie zurück­kom­men aus der Woh­nung in die Gegen­wart, die eine Bühne ist und ein unver­hofftes Auftreten.
Frau X schiebt die rechte Hand in den T-Shirt-Auss­chnitt, auf Höhe des Schlüs­sel­beins. Fühlt nach dem Sport-BH-Träger, er sitzt, wo er sitzen soll. Fühlt vor allem aber die eigene warme Haut. Und find­et das beruhi­gend. Liegt des Nachts so im Bett, eine Hand auf dem Bauch oder dem Ober­schenkel, unter den Pyjama­ho­sen­bund geschoben. Auf diese Weise spürt sie sich und kann ein­schlafen.
Frau X auf der Bühne. Beschat­tet ihre Augen. Wie auf ein vere­in­bartes Zeichen hin set­zt sich etwas in Bewe­gung. Wer­den Schein­wer­fer umges­teuert, ver­bre­it­ern das Licht, verän­dern die Farbe von Blendweiß in War­mgelb.
Durch den Weg­fall der Blendung soll­ten nun große Teile des Pub­likums zu sehen sein, schätzt Frau X und nimmt die Son­nen­brille ab, um die Schätzung zu ver­i­fizieren. Set­zt die Brille wieder auf, als ihr ein­fällt, die Tasche ist weg, mit ihr das Etui mit der nor­malen Brille. Da sie stark kurzsichtig ist und die Gläs­er der Son­nen­brille optisch sind, würde sie ohne diese nichts sehen. Nicht den bul­li­gen Mann, der sich abge­wandt hat und die Menge beobachtet, als ein­er von mehreren Män­nern, in gle­ich­mäßi­gen Abstän­den ste­hend, alle­samt so groß und kräftig gebaut wie dieser erste. Nicht die hüftho­he Absper­rung, an die sich – vier bis fünf Meter von der Bühne ent­fer­nt – die vorder­ste Rei­he der Men­schen drängt. Nicht deren Gesichter, neu­tral im Aus­druck, aber bere­it zum Kip­pen in Freude, in Hohn, in Achtung, in Ent­täuschung, in Langeweile, in Ungeduld, in Verehrung, in Begeis­terung.
Hat genug Men­gen beobachtet, Frau X, um diese Bere­itschaft zu bemerken, durch das getönte Glas, mit zusam­menge­pressten, schmalen Lip­pen, ohne ihre Tasche und ohne die knielange Jacke, deren Zweck ist, den Kör­p­er zu umhüllen. Ihre Hüften sind bre­it­er als ihre Schul­tern, weswe­gen sie einst von ein­er Stil- und Farb­ber­a­terin angewiesen wurde, weit schwin­gende Klei­der eng anliegen­den vorzuziehen und Röcke zu ver­mei­den. Die Stil- und Farb­ber­atung war ihr als Gratis-Ser­vice in der Bou­tique ein­er Kle­in­stadt ange­boten wor­den, in der sie auf Besuch gewe­sen war. Sie hat­te im Schaufen­ster ein Kleid gese­hen, das ihr gefiel. Grün und blau und kör­per­nah geschnit­ten. Kräftige, schöne Far­ben. Die Stil- und Farb­ber­a­terin riet jedoch zu zartem Pastell, alles andere mache sie blass. Hielt Tüch­er an ihr Gesicht, hat­te einen Kof­fer voller Tüch­er dabei, eine unendliche Auswahl an Mustern, groß und klein und quer und schraf­fiert und Vögel und Blu­men und Anker in Gold.
In Gold, sagt Frau X und sagt es laut. Hebt ein Murmeln an, ein Frageze­ichen über der Menge. Stellen sich einan­der Unbekan­nte die Frage: Was hat sie gesagt, haben Sie es ver­standen? Erheben sich junge Frauen aus dem Meer der Köpfe, wer­den von jun­gen Män­nern auf die Schul­tern genom­men, denn nun gin­ge es los, nun werde es span­nend. Mur­ren dahin­ter welche, deren eingeschränk­tes Sicht­feld zusät­zlich eingeschränkt wird, man ste­ht (endlich) wieder dicht an dicht. Wach­sen aber mehr und mehr junge Frauen aus dem Meer der Köpfe, manche hal­ten Dosen­bier in der Hand.
Frau X staunt über die Qual­ität ihrer Brille, die Optik­erin hat recht, sie sind noch gut. Sie hal­ten ein weit­eres Jahr oder zwei, ihre Augen sind nicht schlechter gewor­den. Ein ander­er Optik­er hätte Ihnen neue Brillen ein­gere­det, sagte die Optik­erin, während sie eine ihrer Ansicht nach zu lockere Schraube an einem Bügel fest­zog. Danach reinigte sie die Gläs­er pro­fes­sionell.
Streifen­frei.
Sagt Frau X und wieder sagt sie es laut. Nach Gold senk­te sich ein Mikrophon vor ihre Nase, es baumelt hin und her. Das Streifen­frei geht durch Mark und Bein, da der Ton erst eingestellt wer­den muss. Spon­tane Ver­stel­lak­tio­nen wie diese, die Frau X auf eine Bühne ver­stellset­zte, bieten keine Zeit für Ton­proben. Das Qui­etschen und Knarzen, bei dem sich das Pub­likum biegt und stöh­nt: Die unan­genehmen Geräusche sind ger­adezu der Beweis für die Spon­taneität der Aktion.
Wo ist sie hineinger­at­en? Frau X über­legt angestrengt. Wie hat der Tag begonnen, der hier, auf dieser Bühne, nicht endet, aber innehält.
Frau X neigt zum poet­is­chen Denken, zum Träu­men mit geschlossen­em Mund. Neigt dazu, das gedachte Gemalte in sich zu behal­ten, aus Höflichkeit. Es gab Anlässe, Lern­prozesse. Ver­wirrun­gen, weil immer, nein, das ist gel­o­gen, nicht immer. Weil oft die Zuver­läs­sigkeit der Über­set­zung fehlt. Taumeln ihr Bilder durch den Sprachkopf oder das Sprach­herz oder den Sprach­bauch. Und wird sie dann gefragt nach Konkretem. Ein­er Mei­n­ung. Einem Stand­punkt. Ein­er Hal­tung. Her­rje. Weiß Frau X immer, was sie aus­drück­en will. Denkt über alles lange nach, ist mit sich selb­st im reinen, im klaren Ver­ständ­nis, und wenn nur darüber, nicht sich­er zu sein. Etwas nicht fassen zu kön­nen.
Kommt eine Frage, auf die sie mit großer Gewis­sheit eine Antwort hat. Dann ist es eben nicht eine Antwort, son­dern ein Strom an Antworten im Wörter­bauch oder -kopf oder -hals oder -herz. Dann gelingt es Frau X sel­ten und wenn, mit großer Anstren­gung und Konzen­tra­tion, diesen Strom zu bändi­gen und tat­säch­lich eine Antwort zu geben. Eine. Nicht zwanzig. Um sich dann zurück­zulehnen, die Beine übere­inan­dergeschla­gen, die Hände bre­it auf den Arm­lehnen eines beque­men Möbels, daneben ein Tis­chchen mit einem Glas Wass­er. Gegenüber im Rund die anderen Disku­tan­tinnen und Disku­tan­ten, die Mod­er­a­torin, die beifäl­lig nickt, das klug Pointierte wirken lässt, den Faden auf­greift, während der Wörter­strom in Frau X schwankt und steigt und fällt mit dem Pulss­chlag.
Jemand schre­it. Mach endlich! Schre­it es. Frau X ist nicht in ein­er der Diskus­sion­srun­den gelandet, die sie sich in Online-Mediatheken ansieht. In die sie sich hinein­träumt mit ein­er erträumten und daher jed­erzeit abruf­baren Elo­quenz, die ihr logisch erscheint (im Traum), wo ihr doch beim Gehen durch die Stadt all die Antworten auf all die Fra­gen ein­fach passieren. Sich for­men und gut sind. Darauf warten, aus­ge­sprochen zu wer­den. Die beim Warten und Gehen durch das ständi­ge Hinzufü­gen neuer Wort­Satz­Bilder in Unord­nung ger­at­en. Und sich zu einem Knäuel ver­filzen. Einem Wort­gewöll.
Einem Filz.
Sagt Frau X. Filz. Sagt es auf der Bühne, in das Mikrophon vor ihrer Nase, das mit­tler­weile von der Ton­tech­nik eingestellt wurde. Kommt zum war­men Schein­wer­fer­licht die warme Klang­farbe ihrer Stimme, in dieser war­men Spät­som­mer­abend­nacht. Alles zusam­men hat etwas Beruhi­gen­des. Hält die Unruhe auf, die schon da ist, aber noch schwach. Filz ist nicht das richtige Wort, um eine Unruhe klein zu hal­ten. Schon steigt Zus­tim­mung. Gold und Streifen­frei sind harm­los im Ver­gle­ich zu Filz. Bei Filz fühlen sich einige ange­sprochen, rufen laut: Stimmt! Ein Filz ist alles!
Das meint Frau X nicht. Sie meint gar nichts. Sie ist aus dem Haus gegan­gen, um sich zu bewe­gen. Um die innere Bewe­gung durch die äußere zu besän­fti­gen. Um sich diese San­ftheit zunutze zu machen. Sie ging, die Luft mild, die Schat­ten lang, der Asphalt duftig. Sie geri­et in ein Treiben und ließ sich mit­treiben. Kam an einem Rand zu ste­hen und lauschte, ohne zu lauschen. Wurde erst von einem Such­schein­wer­fer erfasst, dann von frem­den Hän­den. Ver­steifte sich unter der Berührung.
Frau X ist zu höflich, um sich zu wehren.
Ist zu höflich, um der Farb- und Stil-Bera­terin zu wider­sprechen.
Um die Optik­erin darauf hinzuweisen, dass der Bril­len­bügel nun der­art fest sitze, dass sie Kopf­schmerzen bekäme.
Um dem Bul­li­gen auf die Fin­ger zu treten als Reak­tion.
Aber ist reflek­tiert genug, um ihre Höflichkeit als das zu erken­nen, was sie ist: ein Abstand­hal­ter.
Jemand in Büh­nen­nähe ver­sucht, einen Sprech­chor zu ini­ti­ieren. Filz, Filz, Filz, ruft er und klatscht drei Mal fest in die Hände. Filz-Filz-Filz-pat-pat-pat. Er wieder­holt und wieder­holt es. Filz-Filz-Filz-pat-pat-pat. Bis die ersten ein­stim­men. Mit­filzen. Mitk­latschen.
Der magere Sprech­chor ver­siegt. Frau X hat die Hand gehoben. Hält sie zögernd einen Moment in der Luft. Rückt sich die Son­nen­brille zurecht. (Aus keinem anderen Grund hat­te sie die Hand gehoben.) Beugt sich vor, sieht in die Menge. Ver­sucht, die Gesichter zu lesen; dass es ihr schw­er fällt, kann nicht an der Schärfe der Gläs­er liegen. Möglich, Masken­haftes ist zurück­ge­blieben als Resul­tat der Zeit. Sieht junge Frauen auf den Schul­tern junger Män­ner, von denen einige vor Anstren­gung schwanken, die Wan­gen hochrot. Frau X beobachtet, wie sie in die Knie gehen und ihre Frauen absteigen lassen. Andere hal­ten durch. Beson­ders ein Paar, in schräger Lin­ie von der Bühne nur wenige Kopfrei­hen ent­fer­nt. Sie sehen einan­der an, die Frau auf den Schul­tern des Mannes und Frau X.
Sechzig Sekun­den oder länger.
Soviel Frei­heit, denkt Frau X, soviel Chuzpe, sich ohne Rück­sicht auf andere bessere Sicht zu ver­schaf­fen. Wie benei­denswert arro­gant. Weil sie. Hätte nie.
Aber wenn sie sich auf diese eine junge Frau konzen­tri­erte. Sich vorstellen würde, mit ihr im Gespräch zu sein. Rede und Gegenrede, Frage und Antwort. (Frau X gibt immer Antwort.) Dabei, denkt sie in Rich­tung der Frem­den, dabei deren Mimik studieren. Die Veren­gung der Augen für die Dauer ein­er Mil­lisekunde, das kaum wahrnehm­bare Zuck­en der Mund­winkel. Eine Geste, Fin­ger vor den Lip­pen, das Neigen des Kopfes, das über­be­tonte Ausat­men zum Geduld­fassen mit der Sprach-Umständlichen. All das hil­ft. Sig­nale, die den Wörter­strom leit­en und zügeln und die Schleusen kon­trol­lieren.
Sig­nale, sagt Frau X laut.
Und über­legt, nach wie vor im Blick­kon­takt mit der jun­gen Frau, worüber sie mit ihr sprechen kön­nte. Über das, was hin­ter ihnen liegt, über anhal­tende Ver­wirrung und wirtschaftliche Fol­gen und Gewin­ner und Ver­lier­er. Über den Fem­izid? Wir kön­nten, denkt Frau X, über Poli­tik disku­tieren, Gren­zen als reales oder moralis­ches Kon­strukt erken­nen und dekon­stru­ieren. Wir kön­nten uns warm reden (aus der Starre reden), über­legen, ob Krisen einen Lern­ef­fekt nach sich ziehen, den Zynis­mus aus dieser Aus­sage fil­tern, und uns fra­gen, ob es einen All­t­ag gibt. Wie sich der Nationale­go­is­mus hin­ter weltweit gehypten Hash-Tag-Parolen ver­ber­gen kann wie ein Kind, das Ver­steck­en spielt, indem es sich die Augen zuhält, oder wie Erwach­sene, die vorgeben, dieses Kind aus genau diesem Grund zu überse­hen. Ob das Wort sys­tem­rel­e­vant mehr ist als eine Hülse, als ein Fram­ing, als ein Vor­wand, als ein.
Der Mann geht in die Knie, die junge Frau ver­schwindet. Der Blick­kon­takt bricht ab.
Ein Sig­nal?
Hier. Sagt der Bul­lige im Büh­nen­graben. Klopft auf die Bret­ter, damit Frau X ihn bemerkt. Am Büh­nen­rand: ihre Tasche, daneben die knielange Jacke.
Abgang. Sagt der Mann. Schnipst mit den Fin­gern, das Licht geht aus, ein Such­schein­wer­fer fährt über der Menge hin und her, im Zick­za­ck, vor und zurück, es wird gekreis­cht und gejubelt und gelacht.
Im Schat­ten der nun dun­klen Bühne schlüpft Frau X in ihre Jacke, nimmt aus der Tasche das Etui, aus dieser die nor­male Brille, ver­staut die Son­nen­brille, schließt die Tasche und geht vor­sichtig ab, mit dem Gefühl, viel gesagt zu haben, aber wieder nur sich selb­st.
Auf dem Heimweg zirpt es, ist Frau X froh, sich die Pein­lichkeit erspart zu haben, auf zwei Fin­gern zu pfeifen, da es sel­ten auf Anhieb gelingt. Je näher sie ihrer Woh­nung kommt, desto enger scheint ihr die Brust zu wer­den.

(Geze­ich­net: Frau X)