Aus dem Zettelwerk

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Es ist ein Irrtum zu glauben, dass jemand Faschist wird, weil es ihm schlecht geht. Er wird Faschist, weil er möchte, dass es anderen schlechter erge­ht als ihm.
Es ist nicht die „berechtigte Sorge“, auf die er lei­der nur eine falsche Antwort parat hat, son­dern die Wut, das täglich hal­luzinierte oder berechtigte Gefühl der Demü­ti­gung, das ihn nicht von ein­er besseren Welt träu­men oder gar für sie ein­ste­hen, son­dern nach Men­schen Auss­chau hal­ten lässt, die er sel­ber drangsalieren und demüti­gen kön­nte.

Was ist ein Shit­storm? Die Zivil­i­sa­tion hat für die Auss­chei­dung von Fäkalien beson­dere Orte geschaf­fen, in die sich in der Regel zurückzieht, wer sich der leib­lichen Gift­stoffe entleeren möchte. Die dig­i­tale Zivil­i­sa­tion stellt jenen, die Scheiße nicht in ihrem End­darm zur Auss­chei­dung lagern, son­dern in ihrem Gehirn, dig­i­tale Abwasserkanäle zur Ver­fü­gung, in die sie ihren Unrat kolikar­tig ent­laden kön­nen. Wenn sich viele dazu entschei­den, gerät die an und für sich schon unap­peti­tliche Sache zum Shit­storm. Es ist hil­fre­ich, amerikanis­che Wörter manch­mal in ihrer Bild­haftigkeit wieder konkret zu nehmen: Um nichts anderes han­delt es sich als einen Sturm aus Scheiße, mit der jemand, der eine Auf­fas­sung ver­focht­en hat, die anderen unlieb ist, über­schwemmt wer­den soll, auf dass er in ihr ertrinke.

Die sich am Shit­storm beteili­gen, bilden die SA der dig­i­tal­en Welt.

Was sind das für Men­schen, die ihre geisti­gen Fäkalien in solche reißen­den Flüsse leit­en? Es ist der Abschaum, den man nicht Abschaum nen­nen darf, weil er son­st gekränkt ist, der aus der Demü­ti­gung ander­er seine Lust und sein Gefühl von Stärke bezieht. Die sich am Shit­storm beteili­gen, bilden die SA der dig­i­tal­en Welt.

Vor Jahren bin ich höh­nisch über einen Kri­tik­er herge­zo­gen, der nach Lek­türe von ein paar Büch­ern osteu­ropäis­ch­er Autoren selb­s­ther­rlich proklamierte: „Der Osten leuchtet nicht mehr“. Dabei ist der Osten heute auch mir eine erlosch­ene Hoff­nung, die auf­fal­l­end rasch niederge­bran­nt ist und einen auf­fal­l­end unschö­nen Aschehaufen ergibt. Ver­mut­lich war sie der Fehler, die Anmaßung des West­lers, der utopiev­ers­essen in den Osten schaute, als würde dort endlich wieder etwas Großes und Würdi­ges her­aufdäm­mern. Dieser Irrglaube, andere müssten die Dinge für uns Müde richt­en, die wir selb­st gar nichts mehr zu ändern wis­sen, dieser Sehn­sucht­sex­port nach Osten (oder eine Gen­er­a­tion vorher nach Lateinameri­ka), für den wir uns einen ordentlichen Import an unver­fälschtem Leben, echt­en Ide­alen etc. erwarteten.
Die meis­ten Ost- und Mit­teleu­ropäer haben 1989 übri­gens nicht davon geträumt, ihre Staat­en auf west­lich-lib­eralen Stan­dard zu brin­gen, son­dern nach Jahrzehn­ten der Bevor­mundung so etwas wie nationale Sou­veränität zu erlan­gen, also über die Geschicke ihres Lan­des selb­st bes­tim­men zu kön­nen und sich nicht nach den Parteitags­beschlüssen der KPdSU richt­en zu müssen. Dieses nationale Anliegen, das man nicht als nation­al­is­tisch denun­zieren darf, gab ihrem Auf­begehren die Kraft und Aus­dauer und ließ das wie für ewige Zeit­en gefügte Staaten­sys­tem des Ost­blocks bin­nen weniger Monate zusam­menkrachen. Wer dieses nationale Motiv ignori­ert, weil es dem West­en nicht kon­ve­niert und dort der Nation­al­staat bere­its als Hin­der­nis gilt, das der wahren europäis­chen Vere­ini­gung ent­ge­gen­ste­ht, hat vom Umsturz der europäis­chen Ord­nung im Jahr 1989 nichts begrif­f­en.

Steirische Wer­bung in der Son­ntagskro­ne: „Besuchen Sie das Schwarzeneg­ger-Muse­um in Thal. Feiern Sie Arnold Schwarzeneg­ger, den größten Öster­re­ich­er aller Zeit­en.“ Ein­mal nach Thal fahren, diese Tat­sache im Wirtshaus bestre­it­en und bei lebendi­gem Leib von gesun­den steirischen Zäh­nen zer­fleis­cht wer­den.

Kaum läuft die Kam­era, begin­nt er zu wür­gen und endlich tüchtig zu schluchzen. Er wird nicht mehr damit aufhören kön­nen, so lange die Kam­era auf ihn gerichtet ist. Es ist nicht Berech­nung, die ihn so han­deln lässt. Die Kam­era hat die Auf­gabe des Pfar­rers von früher, dessen hör- und spür­bare, im Dunkel des Beicht­stuhls aber kaum sicht­bare Präsenz im Sün­der das Gefühl sein­er Sünd­haftigkeit steigerte. Hier ist es die Kam­era, die Gefüh­le befeuert, die der Weinende gar nicht hat­te, und die er erst zu empfind­en fähig wurde, als über die Kam­era eine Öffentlichkeit hergestellt war: die öffentliche Beichte als Beken­nt­nis zur Lüge.

Iden­titäres Leid. Ein Rad­fahrer, der in ein­er dieser hochero­tis­chen Radler­ho­sen steck­te und auch son­st adjustiert war, als würde er gle­ich bei der Öster­re­ich-Radrund­fahrt mit­fahren, beschw­ert sich in einem Leser­brief an die Salzburg­er Nachricht­en, dass er im Café Bazar scheel von den Gästen und dem Per­son­al ange­se­hen und von bei­den offen­bar wed­er als zahlen­der Gast noch als Men­sch wahrgenom­men, son­dern auf seine Exis­tenz als Rad­fahrer reduziert wurde. Eine radikale deutsche Mod­e­philosophin, die ihr Gesicht mit einem streng gezo­ge­nen Kopf­tuch einge­fasst hat, beschw­ert sich im Inter­view mit dem Stan­dard, dass die Leute in ihr immer nur die Mus­li­ma sehen. Als was möcht­en sie und der ihr wesensver­wandte Rad­fahrer denn wahrgenom­men wer­den? Er als gemütlich­er Zivilist und sie als für den laizis­tis­chen Staat wer­bende Athe­istin? Oder wollte er mit seinem Sport­dress als Mus­li­ma anerkan­nt wer­den und sie mit ihrem Kopf­tuch als Rad­sportler? Sie treten aller Welt mit demon­stra­tiv­en Zeichen ihrer Iden­tität ent­ge­gen, wer­den sie aber mit ihrer iden­titären Selb­stin­sze­nierung iden­ti­fiziert, empfind­en sie das als uner­hörte Kränkung.

Im Radio höre ich eine berühmte Skan­dal­nudel, die ihre Kar­riere damit bestrit­ten hat, sich als Nudel zu skan­dal­isieren, bit­ter­lich darüber greinen, dass sie in die Schublade der Skan­dal­nudel abgelegt und nur aus dieser noch ans Licht der Öffentlichkeit geholt werde. Das ist ungerecht, denn sie beteiligt sich seit Jahren an einem Pro­jekt zum Schutz von Löwen­babys in Afri­ka.

Avant­garde ist der Ver­such, das Revi­er des Kom­merzes beständig auszuweit­en, die Avant­gardis­ten sind die Fährten­such­er des Kap­i­tals. Warhol, der Werbe­stratege, hat die Glam­our­pro­duk­te, für die er Reklame machte, eines Tages zu Meta-Glam­our­pro­duk­ten erk­lärt, sie aus der Sphäre der Wer­bung also in die der Kun­st geholt. Für den dauer­haften Schaden, den er mit der Ausweitung der Kom­merz­zone anrichtete, wurde er her­vor­ra­gend ent­lohnt, mit dem Geld der Kom­merz- und dem Ruhm der Kunst­welt, aus denen er ein und dieselbe gemacht hat.

Gelän­degewinn. Die Avant­gardis­ten erkun­den als kühne Kaval­lerie neues Gelände, ob die Kunst­welt es nicht für ertra­gre­ich, nüt­zlich, bewirtschaftenswert hal­ten kön­nte. Dicht auf den Fersen fol­gen der Kaval­lerie der Kreativ­en die Boden­trup­pen der Kul­turindus­trie, die ihre Claims absteck­en und nun lauter Dinge verkaufen, die vor den avant­gardis­tis­chen Fährtengängern für unnütz, hässlich, pein­lich gehal­ten wur­den. Es waren die Wiener Aktion­is­ten, die den Ekel, die Schlacht um die Exkre­mente zur Kun­st­form adel­ten und so den Ekelshows, dem Dschun­gel-TV, den Weg bere­it­eten. Man hat es ihnen peku­niär nicht wirk­lich gedankt, aber in Form von Staat­spreisen, die sie sich in der Miene von Gedemütigten umhän­gen ließen. Auf die öster­re­ichis­che Fahne haben sie sein­erzeit so fröh­lich geschissen, wie sie heute betreten das Ehrenkreuz für Kun­st und Wis­senschaften tra­gen.

Die weißen Juden. Gemäß dem alten Naz­ibegriff gal­ten Heisen­berg und Thomas Mann als Juden, weil sie, wiewohl „Ari­er“, geistig „ver­judet“ waren. Die antikolo­niale Bewe­gung von heute hat das Nazi­wort aufge­grif­f­en und die Juden zu Ange­höri­gen der weißen, also der ras­sis­tis­chen Rasse erk­lärt. Der Holo­caust, ist neuerd­ings zu lesen, werde gegenüber dem Kolo­nial­is­mus über­schätzt, und zwar aus dem ras­sis­tis­chen Grund, dass ihm mit den Juden Weiße, also Ange­hörige der Her­ren­rasse zum Opfer gefall­en seien. Diese The­sen sind in den USA und Großbri­tan­nien keine Äußerun­gen skur­ril­er Außen­seit­er, son­dern ger­ade dabei, linkslib­eraler akademis­ch­er Main­stream zu wer­den.

Dass es arische Juden gebe, davon war auch Heim­i­to von Doder­er überzeugt. Den Juden war es, seinem gedanklichen Rin­gen in den späten dreißiger Jahren zufolge, nicht möglich, gebührend ergrif­f­en zu sein, wenn die Nation vor wahrhaft Großem ste­he und ihrer als „Schick­sals­ge­mein­schaft“ innew­erde: „Wer den pro­fun­den Stoß“ der Erweck­ung und Ergrif­f­en­heit nicht ver­spüre, ist „sein­er Schick­sals­ge­mein­schaft gegenüber – Jude. Oder er wäre zumin­d­est zum Juden zu ernen­nen, auch wenn er keinen Tropfen semi­tis­chen Blutes hätte“. So kann man es auch sehen: Wer von der Erweck­ung der Deutschen durch Adolf Hitler nicht ergrif­f­en wird, der muss ein Jude sein.

Woran erken­nen Putin und die Seinen, welche Ukrain­er dem Nazis­mus ver­fall­en sind? Der His­torik­er Tim­o­thy Sny­der hat die Reden und his­torischen Auf­sätze Putins analysiert: Nation­al­sozial­ist ist jed­er Ukrain­er, der sich weigert zuzugeben, dass er in Wahrheit Russe ist. Da mag Erdo­gan in der Umw­er­tung der Begriffe nicht zurück­ste­hen. Wer sind Ter­ror­is­ten? Jene, gegen die das türkische Mil­itär mit Ter­ro­ran­grif­f­en vorge­ht. Also die Kur­den in Syrien, deren Milizen Aber­tausende Jes­i­den und Chris­ten vor der Ver­nich­tung durch den IS gerettet haben.

Die Erfahrung des Jahrhun­derts: „Gottes Gle­ichgültigkeit“. Die Lehre, die daraus zu ziehen ist: Die Welt men­schengemäß zu gestal­ten. Wie das gehen soll? Indem die „von allen Dog­men emanzip­ierte Ehrfurcht vor dem Leben“ gelehrt und gel­ernt werde. Eine Schule der Ehrfurcht kön­nte, müsste ger­ade die Kun­st sein. Davon ist Joseph Hahn nie abgekom­men, egal, wie oft er erfuhr, dass er eines Anderen belehrt wer­den sollte. 1917 als Sohn deutschsprachiger Juden geboren, war er defin­i­tiv ein­er der let­zten Repräsen­tan­ten der deutschen Kul­tur Böh­mens und Mährens. Ästhetik und Moral sind eins, davon war er überzeugt und ist es geblieben.
Er besuchte die Prager Kun­stakademie, flüchtete 1938 nach Eng­land, später in die USA. Seine drei Gedicht­bände sind nicht so sehr dem Holo­caust, auch nicht der atom­aren Bedro­hung gewid­met, mit denen sie sich auseinan­der­set­zen, als der bohren­den Frage, wie sich das Men­schengeschlecht trotz alle­dem aus der Bar­barei her­ausar­beit­en könne. Seine Gedichte wie seine von bedeu­ten­den Museen erwor­be­nen Zeich­nun­gen sind düster, aber Joseph Hahn appel­liert gle­ich­wohl dafür, nicht zu verzweifeln: „Wir kamen fortzuwaschen/den Schweiß der Verknech­tung“. Erschienen ist das schmale Buch vor Jahren im Ver­lag Edi­tion Memo­ria, der nichts anderes ist als das Lebenswerk eines merk­würdig welt­frem­den und men­schen­zuge­wandten Mannes, Thomas B. Schu­mann, der als Gym­nasi­ast auf die deutsche Lit­er­atur des Exils kam und ihr sei­ther sein wach­sendes Archiv, seinen Ver­lag, sein Forschen, Sam­meln und Edieren, sein Leben gewid­met hat.

Der Protest­wäh­ler. Wer Parteien wählt, die ver­lan­gen, dass aus dem Aus­land kom­mende Arbeit­er zwar die gle­ichen Sozial­ab­gaben und Steuern wie ein­heimis­che Arbeit­nehmer entricht­en, aber damit keine Rechte und Ansprüche erwer­ben sollen, der will damit natür­lich gegen die soziale Ungerechtigkeit protestieren. Das ist doch klar. Man muss nur endlich richtig ver­ste­hen, was das heißt: protestieren.
Ein Protest­wäh­ler sieht das Unrecht in der Welt und ärg­ert sich. Er hört, dass die Immo­bilien-, Ver­sicherungs- und Bankenkonz­erne, die vor ein paar Jahren Mil­liar­den ver­spielt haben, schon wieder mit Spie­len und Spekulieren beschäftigt sind, und macht sich Sor­gen. Und er hat auch Grund, sich zu ärg­ern und Sor­gen zu machen. Doch weil er gegen die Konz­erne nicht ankann, schlägt er ersatzweise auf Leute, die noch klein­er sind als er. Und weil er keine transna­tionalen Prof­i­teure ken­nt, hält er sich eben an den Aus­län­der, den Arbeit­slosen, den Armen von nebe­nan. Gewohn­heitsmäßig vor den Mächti­gen zu kuschen und auf Hil­fs­bedürftige einzu­dreschen, das ist das Meti­er des Protest­wäh­lers, der dafür sorgt, dass alles bleibt, wie es ist, und er Grund hat, sich zu ärg­ern, sich Sor­gen zu machen und auf Schwächere einzuschla­gen. Merk­würdig, wie viele Ausre­den gesucht wer­den, den Protest­wäh­ler zu würdi­gen, zu ver­ste­hen, zu recht­fer­ti­gen. Dabei sind nicht die Parteien zu fürcht­en, die er wählt, son­dern er selb­st, der sie wählt und dem, was jene ide­ol­o­gisch und pro­pa­gan­dis­tisch ver­fecht­en, ver­häng­nisvoll zu gesellschaftlich­er Wirk­samkeit ver­hil­ft.

Seit langem halte ich in täglichen Noti­zen fest, was mir durch den Kopf geht, gle­ich ob es sich um meine eige­nen poli­tis­chen Ressen­ti­ments, Beobach­tun­gen auf der Straße, Gedanken beim Lesen von Zeitun­gen oder Büch­ern, beim Fernse­hen oder Spazieren, um ästhetis­che Ein­sicht­en, Gedanken­blitze, apho­ris­tis­che Wen­dun­gen, Ideen für lit­er­arische Pro­jek­te und noch vieles mehr han­delt. Fast alle meine Büch­er haben in diesen Noti­zen ihre Keimzelle. Für mich selb­st nenne ich diese Aufze­ich­nun­gen „Das Zettel­w­erk“.