Politische Lyrik, ein österreichischer Kanon

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Große Lit­er­aturgeschicht­en aus bun­des­deutschen Fed­ern sowie Qual­ität­szeitun­gen in Berlin, Frank­furt, Ham­burg, München ken­nen Namen und Werke öster­re­ichis­ch­er Lyrik­er nicht, die ihre Sprachkun­st mit poli­tis­chem Engage­ment ver­ban­den: Wed­er diese Dimen­sion von Niko­laus Lenau, noch Dichter des Vor­märz, wed­er Heim­rad Bäck­er noch die vie­len ein­schlägi­gen Texte der 1980er-Jahre. Sie ken­nen sie nicht oder hal­ten sie für Prov­in­zlit­er­atur, und die Feuil­letons besprechen eine solche heutige Lyrik aus Öster­re­ich kaum je. Schlim­mer: Sog­ar das Öster­re­ichis­che Lit­er­atur­mu­se­um ver­schweigt diese Tra­di­tion­slin­ie, die doch so großar­tige Werke her­vorge­bracht hat.

Geth­eiltes Loos mit läng­stentschwund­nen Stre­it­ern
Wird für die Nach­welt unsre Brust erweit­ern.
Daß wir im Unglück uns poet­isch freuen
Und Kampf und Schmerz, sieglosen Tod nicht scheuen.

Diese Verse stam­men vom öster­re­ichis­chen Dichter Niko­laus Lenau. Sie ste­hen 1842 in Die Albi­genser und set­zen seine Rei­he poli­tis­ch­er Lyrik fort, wie er sie ein Jahrzehnt zuvor mit Am Grab des Min­is­ters *** und An einen Tyran­nen ange­set­zt hat. Zur sel­ben Zeit, im reak­tionären Vor­märz, rüt­tel­ten die Verse von Anas­ta­sius Grün und Moritz Hart­mann auf, veröf­fentlichte Karl Beck seine Lieder vom armen Mann, in denen er die Not der Fab­rikar­beit­er vor Augen führt: „Da kom­men geschlichen, / Ver­magert, verblichen, / Aus den Fab­riken der Reichen, / Aus den Gehöften ihrer Treiber, / Die Män­ner, die Weiber, / Ein langer, langer Zug von Leichen.“ Beck sei ein „Tal­ent, wie seit Schiller keines aufge­s­tanden ist“, urteilte Friedrich Engels.
Und Julius Sei­dlitz betonte damals, der Schrift­steller müsse „Ver­al­tetes zertrüm­mern“, mod­erne Poe­sie sei „weniger Ide­al, mehr Wirk­lichkeit“. In diesem Sinne begin­nt Alfred Meißn­er 1846 in den Ziska-Gesän­gen seine Absage an idyl­lisierende Dich­tung.

Umson­st will uns die Poe­sie bere­den,
Daß diese arme Erde sei ein Eden.
[…]
Ein Rufen ist’s von Armen, Unter­drück­ten,
Aus Nacht, aus Fes­seln, Geis­teszwang und Noth.

Mehr als hun­dert Jahre später schrieb H.C. Art­mann seine Antwort auf eine poli­tis­che Entschei­dung. Er protestierte lyrisch „gegen das makabre kasperlthe­ater“ der Ein­führung des öster­re­ichis­chen Bun­desheeres. Seine Sprachkun­st baute er auf viele Tra­di­tio­nen, sein poet­is­ches Man­i­fest gegen die Wieder­be­waffnung ruft Vorgänger des Wiener Volk­sthe­aters und des Vor­märz auf, die wirk­mächtige Lit­er­aturhis­torik­er im Bett des Vergessens schlafen­gelegt haben:

ein öster­re­ich
das nach wieder­be­waffnung schre­it
ist mit einem quak­frosch zu ver­gle­ichen
der mit bruch­band und dex­trop­ur verse­hen
einen antiken drag­oner­sä­bel erheben wollte…

Bedenkt man die lange Rei­he poli­tis­ch­er Lyrik aus Öster­re­ich nicht, dann geht man nicht nur an wesentlichen Aspek­ten der Werke von Art­mann und Jan­dl vor­bei. Man über­sieht auch Ten­den­zen, die bis heute starke Aus­for­mungen zeit­i­gen. Etwa die Häu­fung und Radikalität poli­tis­ch­er Dich­tung in den 1980er-Jahren, allen voran das gigan­tis­che Nach­schrift-Werk von Heim­rad Bäck­er, gewiss ein Hauptwerk der Konkreten Poe­sie. 1986 erschien der erste Band, er zeigt, wie es lit­er­arisch möglich ist, das unfass­bare Sys­tem Auschwitz in Worten zu fassen. Zur gle­ichen Zeit kamen neben vie­len anderen die auf die Poli­tik des Ver­drän­gens antwor­tenden Gedichte auf der insel der seli­gen von Ger­hard Jaschke und Das Land des Lächelns von Arthur West, so unter­schiedliche lyrische Auf­schreie wie das dialek­tale „Macht / mecht / daß jed­er / macht / und / nicht mie / mecht“ von Annemarie Regens­burg­er und Ver­gan­gen­heit bewältigt von Heinz R. Unger her­aus.
In seinem Band stanzen schreibt Ernst Jan­dl unter dem Titel nach 45: „des woa ima a sozi / um den brauch maruns ned schean / owa de oamen glaa­nen jun­gen nazi / mias ma brode­schi­an bis zu uns ghean“. Und, jet­zt hochak­tuell:

vilächd häd­dma da sow­je­tu­nion
do a bissl fria höffn soin
doss uns olle medanaund ned
so fuacht­boa hingschdraad häd

Auf diesem lit­er­arhis­torischen Boden bieten Lud­wig Laher, Petra Gan­glbauer und Ger­hard Ruiss drei unter­schiedliche Beispiele heutiger Lyrik mit poli­tis­chem Anspruch.
Bei Laher, der den ersten Band von Heim­rad Bäck­ers Nach­schrift als eine sein­er wichtig­sten Leseer­fahrun­gen nen­nt, ist die Verbindung zur kri­tis­chen Dich­tung des Vor­märz am deut­lich­sten. Er hat 2003 einen Roman über Fer­di­nand Sauter pub­liziert und 2017 eine Auswahl von dessen Werk her­aus­gegeben. Dessen Gassen­lied fand damals eine unge­mein starke Ver­bre­itung, zum Gassen­hauer wurde beson­ders die Stro­phe: „Auf der Gassen wal­tet Gle­ich­heit / Zwis­chen Armut, zwis­chen Reich­heit, / Arme bet­teln, Reiche prassen / Auf der Gassen, auf der Gassen“. Vie­len galt das Gedicht als „wohl furcht­barste Satire auf das reak­tionäre Öster­re­ich“, wie Alfred Meißn­er 1841 an Moritz Hart­mann schrieb. Umso mehr bedauerte Laher im Gespräch (2021 im Porträt­band, den ihm die Zeitschrift Die Rampe wid­mete) die „Defizite und Schiefla­gen der öster­re­ichis­chen Ger­man­is­tik“: Als er den Roman über Sauter, „den hellwachen Meis­ter der kleinen Form“, geschrieben habe, sei er auf edi­torische Abgründe gestoßen: „Wenn, zuge­spitzt for­muliert, den Servi­et­ten, die Thomas Bern­hard bei seinen Wirtshaus­be­suchen zum Mund­ab­wis­chen ver­wen­dete, mehr ger­man­is­tis­che Aufmerk­samkeit geschenkt wird als Leben und Werk Fer­di­nand Sauters, dann läuft etwas sehr schief.“
Aus der Fed­er von Lud­wig Laher stam­men fol­gende Verse:

sieh n.n. ste­ht gewehr bei fuß mikro bei hand schon
für wann’s again los geht auf dem nächtlichen balkon
vom luxu­shotel im stadtzen­trum der straf­ex­pe­di­tion

Sie ste­hen im 2003 pub­lizierten Band feuer­stunde, der Poli­tis­ches, in diesem Fall den Ges­tus mil­itärisch­er Kon­flik­te und die Kriegs­geil­heit der Medi­en dekon­stru­iert – wie Laher in seinem gesamten Werk sozialkri­tisch vorge­ht.
Das Buch trägt den Unter­ti­tel „gedichte aus nah und infer­no“, es begin­nt mit ein­er Gen­e­sis aus dem Mil­itärischen her­aus, das uns heute erneut näher­rückt: „im anschlag war das / gewehr und das gewehr / war auf einem hügel“. Der Dop­pel­moral der Täter, die die „unschuld / von ihren hän­den waschen“ (immer­hin im Enjambe­ment) ste­hen ungewöhn­liche Zusam­menset­zun­gen gegenüber, die Schreck­en und Grausamkeit ver­stärken wie „urangeschoßver­dau­ungs­gestört“. Die Lek­türe zwinge in die Schreck­en der Bilder, beobachtet Petra Gan­glbauer und schätzt ein „radikales und mutiges sprach­lich­es, poli­tis­ches und sozialkri­tis­ches lit­er­arisches Vorge­hen“.
Sie selb­st entwick­elt ihre Sprachkun­st, seit sie 1984 mit dem heute noch stärk­er beze­ich­nen­den Titel Feindlich vor der Zeit her­vor­trat. Sie verbindet Konkretes mit Imag­inärem, Wun­der­volles und Entset­zlich­es, Traum und Gewalt. Im Band Per­mafrost heißt es: „Dieses Ein­samkeits­geschüt­tel nach dem Schreck­enss­chlag der Nachricht­en“. Ihre Gedichte in Gefeuerte Sätze sind meist knappe Über­lap­pun­gen von Bedeu­tungsebe­nen und Wort­ge­filden: „Lodertage, bren­nende Gesichter im / Über Wass­er, dem let­zten / Wegstück, aufge­grif­f­en und getarnt / Wie Asyl, wie Abnei­gung / (Ende der Flucht: / Ende.)“ Mitunter sind Poe­sie und Poli­tik auch ohne Umschweife zusam­menge­führt wie 2006, zwei Jahre vor der Finanzkrise, vierzehn Jahre vor Coro­na, im Buch der him­mel wartet eine Rei­he – in der Rezep­tion möglicher­weise eine Kol­li­sion – von Stehsätzen.

Wie Anleger opti­mal reagieren:
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Über eine große Band­bre­ite ver­fügt auch die Lyrik des H.C.Artmann-Preisträgers Ger­hard Ruiss, dessen Tra­di­tion­slin­ie bis Oswald von Wolken­stein zurück­re­icht: Sämtliche spät­mit­te­lal­ter­liche Lieder des Südtirol­ers hat Ruiss ins Heutige über­tra­gen, viele in neu ver­ton­ter Form gesun­gen. Er ken­nt Verk­nap­pun­gen der Konkreten Poe­sie, er lotet wie H.C. Art­mann und Ernst Jan­dl Töne und Sprach­bilder des Dialek­ts aus. Alfred Meißn­ers „Umson­st will uns die Poe­sie bere­den / Daß diese arme Erde sei ein Eden“ ste­ht auch über seinem Werk, mit ein­dringlichen Bildern: „irri­tierend wär / vielle­icht sog­ar ein geis­ter­heer / in der roßau ein gewieher / doch ziehen schnar­rend über den köpfen / vorüber den wind bis zum schwanz schwarz / gesträubt im gefieder / raben­lieder“. Pointiert sind bei Ruiss die Sozial­stu­di­en, die kollek­tiv­en Insze­nierun­gen und die Machtver­hält­nisse in bündi­ge Verse gepresst, mit anhal­tend sub­ver­sivem Ober­ton, iro­nisch angekratzt: „hosd / den frechn unta­ton / in mein / jawoi / gheat?“ Die Poe­sie ist für Ruiss (viele sein­er Gedichte sind ver­tont) auch eine Gebrauchs­form, nicht nur Salon­wiese.

berufs­be­d­ingt:

der kan­zler
kommt als erlös­er
der instal­la­teur
kommt als instal­la­teur
der kan­zler
geht als kan­zler
der instal­la­teur
geht als erlös­er

Kan­z­lergedichte veröf­fentlichte Ruiss 2006, die Kan­zler­nach­fol­gegedichte kamen 2017 her­aus, ein drit­ter Band erscheint ver­mut­lich dem­nächst. Von Schüs­sel bis Trump und Putin sind die „han­del­nden Per­so­n­en“ bei ihren Reden und Wen­dun­gen genom­men, die mitunter am Rand der Verse abge­druckt daste­hen. Zu ein­er Pressemel­dung, die deutsche Bun­deskan­z­lerin sei von ihrem öster­re­ichis­chen Kol­le­gen beson­ders her­zlich begrüßt wor­den:

zuge­spitzt

wer ler­nen will
was poli­tis­che pro­pa­gan­da ist
muss sehen wollen
wie merkel schüs­sel küsst.

Im Werk von Ger­hard Ruiss erste­hen Aufrisse heutiger Befind­lichkeit­en, Ein­blicke in Beziehungskisten, auf pri­vatem und poli­tis­chem Ter­rain.
Sein Engage­ment ist wie jenes von Lud­wig Laher und Petra Gan­glbauer ein ästhetis­ches und ein soziales, konkret jahrzehn­te­lang für die Kol­le­gen­schaft, in der IG Autorin­nen Autoren und in der Graz­er AutorIn­nen­ver­samm­lung.
In Zeit­en von Neolib­er­al­is­mus und dem Schwarz-Weiß-Denken des Pop­ulis­mus eine Wohltat: dass nicht ein­fache Botschaften zählen, son­dern die Tiefe der Worte und die Offen­heit der Routen. Also jeglich erdenkbare Art von Poe­sie.

Gemein­sam ist all diesen Tex­ten, dass ihre poli­tis­che Lyrik in Deutsch­land nicht wahrgenom­men wird. Ein Kanon aus den Zen­tren Berlin, Frank­furt, München, Ham­burg will öster­re­ichis­che Lit­er­atur, wenn sie über­haupt als solche ver­standen wird, gern ins Nach­som­mer-Eck stellen oder einige Größen dem großen Deutschen zuführen. Der hiesi­gen Vor­märz-Lit­er­atur wird abge­sprochen, was man dem dor­ti­gen Jun­gen Deutsch­land alleinig zugute hält. Dass der offizielle Ort öster­re­ichis­ch­er Tra­di­tions­be­tra­ch­tung, das Lit­er­atur­mu­se­um in Wien, gle­ich vorge­ht und wed­er Beck, Hart­mann, Meißn­er noch die poli­tis­che Dimen­sion von Lenau und auch die poli­tis­che Dich­tung seit 1945 kein­er Betra­ch­tung wert find­et, ist eben­so erstaunlich wie skan­dalös.
Wenn die Lyrik jedoch das Soziale ganz außer acht ließe, würde sie Gefahr laufen, ein gehobenes Sprach­bas­tel­spiel zu betreiben. Es mag zwar erhaben ausse­hen, ver­weist jedoch eine inhaltliche Kom­po­nente auf den ver­meintlich flachen Boden des Gesellschaftlichen. Bisweilen ist damit eine – unaus­ge­sproch­ene, weil selb­stre­f­er­en­tielle – Kanon­strate­gie ver­bun­den, die zur Plau­si­bil­ität auch rück­wirk­end in die Ver­gan­gen­heit inter­pretiert. Stellt man die Form haushoch über den Inhalt, lan­det man im Abstrak­ten.
Das Soziale aber ist nicht abstrakt. Den rel­a­tivis­tis­chen Wahrheits­be­griff kann man nicht kom­plett von den gesellschaft­spoli­tis­chen Fol­gen ablösen.