Amokläufer in der Schwebe

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Ich has­se den Schlaf. Schon als Kind kon­nte ich nicht schlafen, weil meine besof­fene Mut­ter ständig herumge­brüllt hat. Oder ihre Män­ner. Oder bei­de. Ich habe mir die Ohren zuhal­ten müssen oder mich unter dem Bett ver­steckt, aber es hat nichts genützt. Kein Wun­der, dass ich in der Schule ständig eingeschlafen bin. Die Lehrer haben mich deswe­gen zur Sau gemacht.

Ist das jet­zt wieder der Papagei, der da schre­it? Den habe ich doch seit min­destens einem hal­ben Jahr nicht mehr gehört. Ich dachte, sein Besitzer wäre schon längst weg. Oder tot. Ich habe ihn ab und zu auf der Straße gese­hen. Der hat­te tat­säch­lich seinen Vogel auf der Schul­ter sitzen. Und dieser Idiot trug einen Over­all, der am Rück­en und an den Schul­tern vollgeschissen war. Die Leute haben ihm erstaunte Blicke zuge­wor­fen, er hat aber nur blöd zurück­ge­grinst. Ich habe den Papagei oft schreien gehört. Es war ein unan­genehmes Gekreis­che. Wie von jedem Vogel. Egal, ob Krähen, Tauben, Falken oder Papageien. Mir tut ihr Geschrei in den Ohren weh.

Fast jede Nacht wache ich schweißge­badet auf. Weil ich Angst habe, dass jemand in mein Zim­mer kom­men kön­nte. Darum habe ich auch meine Woh­nungstür mit Kisten ver­bar­rikadiert. Zum Schutz. Trotz­dem fürchte ich mich, weil ich als Kind ja oft mit­ten in der Nacht aufgeschreckt bin, wenn plöt­zlich jemand neben meinem Bett ges­tanden ist. Mein­er Mut­ter war das alles egal, die ist besof­fen am Küchen­tisch gesessen oder auf der Couch gele­gen. Oft hat sie ja sog­ar mehrere Män­ner in die Woh­nung mitgenom­men. Die haben sie dann der Rei­he nach gepud­ert. Die Geräusche, die sie dabei gemacht haben, waren fürchter­lich. Aber ich musste mich ruhig ver­hal­ten. Nicht ein­mal aufs Klo kon­nte ich gehen. Ich habe oft ins Bett gepinkelt, da ist meine Mut­ter am näch­sten Tag kom­plett aus­gerastet und hat mir links und rechts eine run­terge­hauen, dass ich Sterne gese­hen habe. Und immer auf die Ohren. Heute wer­den auch ein paar Leute Sterne sehen. Peng.

Ein­mal hat sie einen angeschleppt, der hat in ein­er Videothek gear­beit­et. Mit dem habe ich mir die ärg­sten Filme angeschaut. Richtig bru­tale Hard­core­filme, in denen die Men­schen rei­hen­weise abgeschlachtet wur­den. Er hat immer blöd gelacht, wenn das Blut gespritzt ist und hat sich das näch­ste Bier aufgemacht. Ab und zu habe ich mit ihm getrunk­en. Ich war damals vielle­icht zehn, und in der Nacht habe ich dann schreck­liche Alb­träume gehabt. Nach einem Monat ist der Typ wieder abge­hauen.

Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn man von ein­er Kugel getrof­fen wird. Irgen­det­was muss einem in diesem Augen­blick ja durch den Kopf gehen. Aber was? Denkt man an ein bes­timmtes Lied oder an eine bes­timmte Per­son oder an ein bes­timmtes Ereig­nis oder an einen bes­timmten Geruch? Woran würde ich denken? An Bian­ka? Oder an meine Mut­ter? Dass ich nicht lache. Alles Schwachsinn. Der Schal­ter wird umgelegt und dann ist es dunkel. Aus. Nur mit dem Unter­schied, dass man nicht schläft, son­dern tot ist. Was seine Vorteile hat, weil man nicht aufgeweckt wer­den kann. Wed­er von einem wild­frem­den Mann, noch von einem fürchter­lichen Geräusch.

Das Prob­lem beim Schlafen ist ja auch, dass man keine Geräusche hört, also nicht weiß, was um einen herum ger­ade passiert. Allerd­ings glaube ich, dass ich ohne­hin bere­its beim leis­es­ten Geräusch aufwachen würde. Ob meine nächtlichen Panikat­tack­en damit zusam­men­hän­gen, weiß ich nicht. Dann laufe ich zum einzi­gen Fen­ster, das nicht mit Zeitungspa­pi­er zugek­lebt ist, und reiße es auf. Ich muss tief dur­chat­men, weil ich son­st ster­ben müsste. Ich habe ein­mal ver­sucht, so lange wie möglich wach zu bleiben. Aber das hat nicht funk­tion­iert. Obwohl das gar nicht so schlecht war, weil ich nach 36 Stun­den ohne Schlaf der­art fer­tig war, dass ich in einen Tief­schlaf ver­sunken bin und mich wie tot gefühlt habe. Wenn ich schlafe, ver­liere ich die Kon­trolle. Das ist das Prob­lem. Und obwohl ich meine Woh­nungstür mit Kisten ver­bar­rikadiert habe, kön­nte es ja doch sein, dass jemand in meine Woh­nung ein­dringt. Dann ste­ht der Ein­drin­gling plöt­zlich neben mir und greift mich an. Und ich bin vol­lkom­men wehr­los. Alleine bei dieser Vorstel­lung bekomme ich schon Herzrasen und Schweißaus­brüche. Aber heute habe ich alles unter Kon­trolle. Und das wer­den in drei Stun­den auch einige zu spüren bekom­men. Ich hoffe, dass auch die bei­den Schüler im Pausen­hof sein wer­den, die mich als Fett­sack und fette Sau beschimpft haben.

Meine beste Zeit hat­te ich als Nachtwächter. Da kon­nte ich in der Nacht wach bleiben. Zuerst habe ich den Stall der Vet­er­inärmedi­zinis­chen Uni­ver­sität am Stad­trand bewacht. Dort waren die Tiere unterge­bracht, die operiert wor­den sind oder irgendwelche Krankheit­en hat­ten. Kühe, Pferde, Schweine, Hunde, Katzen, alles mögliche. Ich musste jede Stunde mit der Stechuhr einen Rundgang machen und pro­tokol­lieren, wie es den einzel­nen Tieren geht. Die Tiere hat­ten ja alle Namen: Eber­hard, Julius, Brit­ta, was weiß ich. Auf eine Kuh sollte ich beson­ders auf­passen. Sie hieß Belin­da und hat­te seitlich am Bauch ein faust­großes Loch, das mit einem Stöpsel ver­schlossen war. Ein­mal habe ich gese­hen, wie ein Arzt seinen Arm tief in dieses Loch gesteckt hat, um irgendwelche Unter­suchun­gen zu machen. Fis­tulierung heißt das in der Fach­sprache. Die Kuh dürfte das aber gar nicht gespürt haben, weil sie ganz ruhig geblieben ist. Was der Arzt genau gemacht hat, weiß ich nicht, aber mich hat das natür­lich inter­essiert, und so habe ich in der darauf­fol­gen­den Nacht mit der Taschen­lampe in dieses Loch hinein­geleuchtet und tat­säch­lich bis in den Magen der Kuh gese­hen. Es war irgend­wie gruselig, aber in der ganzen Aufre­gung ist mir der Stöpsel run­terge­fall­en und zwar genau in einen Haufen Kuh­scheiße. Am näch­sten Tag war die Kuh tot und weil der Stöpsel ver­dreckt war und ich als einziger Zugang zum Stall hat­te, hat mich die Sicher­heits­fir­ma sofort ver­set­zt.

Die von der Vet­er­inärmedi­zin haben ja auch behauptet, dass ich in der Nacht, in der die bei­den Schafe Frie­da und Paula aus dem Stall gestohlen wur­den, geschlafen hätte, statt auf die Tiere aufzu­passen. Das Fell und die Knochen der Schafe wur­den in einem nahe gele­ge­nen Wald gefun­den, aber das Fleisch hat­ten die Diebe mitgenom­men. Ange­blich waren es Mohammedan­er oder Islamis­ten, ich hat­te damit jeden­falls nichts zu tun. Frie­da und Paula waren allerd­ings krank und hat­ten eine Art Tuberku­lose, aber das kon­nten die Diebe natür­lich nicht wis­sen.

Nach dem Vor­fall mit der Kuh bin ich zur Bewachung eines Labors für Tierver­suche abkom­mandiert wor­den. Aber nur für ein paar Wochen, weil die Betreiber des Labors her­aus­ge­fun­den hat­ten, dass ich vorbe­straft war. Das hat ihnen nicht gepasst. Ich bin kein Tier­fre­und, aber was ich dort gese­hen habe, hat sog­ar mich schock­iert. Affen, die in Käfi­gen angeket­tet waren und die ganze Nacht gebrüllt haben, oder Hunde, die aus dem Maul geblutet haben. Beson­ders unheim­lich fand ich aber eine Halle, in der hun­derte Katzen apathisch am Boden hock­ten oder auf Katzen­bäu­men saßen. Am Anfang dachte ich ja, dass die tot wären, aber die haben gelebt und wahrschein­lich irgendwelche Beruhi­gungsmit­tel bekom­men.

Dann habe ich vier Jahre lang ein großes Baustof­flager bewacht, was mir wirk­lich getaugt hat. Alles ging auch gut, bis sie uns erwis­cht haben und ich wieder ein­mal für ein Jahr in den Bau musste. Wir waren zu viert, zwei Jugos, ein Grieche und ich. Der Grieche hieß merk­würdi­ger­weise Wag­n­er. Der war schon älter und hat seit sein­er früh­esten Jugend als Nachtwächter gear­beit­et. Deshalb war er wahrschein­lich auch ein biss­chen durcheinan­der im Kopf. Er hat mir erzählt, dass er gar nicht mehr anders leben kön­nte als in der Nacht. Der ist auch tagsüber in sein­er Nachtwächter-Uni­form herumge­laufen und hat, wenn ihm danach war, den Verkehr geregelt. Bis die Polizei gekom­men ist und ihn nach Hause geschickt hat.

Jed­er von uns hat­te seinen eige­nen kleinen Con­tain­er, mit einem Tisch, einem Ses­sel und einem Radio. Fernse­her gab es natür­lich keinen. Das Klo war draußen, ein Mobi­clo, was im Win­ter sehr unan­genehm war. Ein­mal sind Wild­schweine gekom­men. Das Baustof­flager lag ja am Stad­trand in der Nähe von einem Wald. Ich habe zuerst an einen Über­fall gedacht und habe sofort meine Pis­tole gezo­gen, die ich immer bei mir hat­te. Es war keine Dienst­waffe, weil wir für die Bewachung des Baustof­flagers ja keine Waf­fen braucht­en. Ich habe gewartet, bis ich plöt­zlich ein Grun­zen gehört habe, dann habe ich die Tür einen Spalt geöffnet und habe vier Wild­schweine gese­hen. Eine Sau mit drei Jun­gen. Ich hätte sie abknallen kön­nen, aber ich habe es nicht getan. Sie sind dann wieder im Wald ver­schwun­den. Ich habe keine Ahnung, was die im Baustof­flager gesucht haben. Die Jugos waren sauer, weil sie gerne ein Wild­schwein am Spieß gebrat­en hät­ten.

Den Abtrans­port der Zementsäcke und der anderen Mate­ri­alien, die ihre Leute zum Bauen braucht­en, haben die bei­den Jugos organ­isiert. Josip und Pero haben sie geheißen, aber Wag­n­er, der Grieche, hat sich her­aus­ge­hal­ten. Er hat gesagt, dass er lieber Kreuz­worträt­sel löst. Tausende Kreuz­worträt­sel hat der gelöst, und zwar in Winde­seile, weil er ja alle Lösun­gen schon gekan­nt hat. Ich habe das Haupt­tor bewacht und dafür gesorgt, dass alles schnell geht. Ich habe auch geschaut, dass sie nicht zu viel mit­ge­hen lassen, weil das ja son­st aufge­fall­en wäre. Das war ein schön­er Neben­ver­di­enst für mich, weil ohne mich wäre ja nichts gegan­gen. Aber die Jugos sind immer unvor­sichtiger gewor­den und irgend­wann haben die Besitzer Kam­eras instal­lieren lassen und nach drei Wochen war alles vor­bei.

Wegen mein­er Vorstrafen habe ich ein Jahr unbe­d­ingt bekom­men. War eine schöne Scheiße, trotz­dem war es eine gute Zeit als Nachtwächter. Der umgekehrte Tagesablauf. Man sieht die Welt mit anderen Augen. Da hat­te ich beim Schlafen auch viel weniger Angst, weil es immer hell war, wenn ich aufgewacht bin. Durch das Leben in der Nacht haben sich die weißen Blutkör­perchen ver­mehrt und die roten sind weniger gewor­den. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber der Grieche hat das behauptet, weil er wegen der jahrzehn­te­lan­gen Nachtar­beit an Hal­luz­i­na­tio­nen gelit­ten hat und deshalb zum Arzt gegan­gen ist. Und weil ihm dauernd kalt war. Wegen der weißen Blutkör­perchen. An den Woch­enen­den habe ich oft sech­sund­dreißig Stun­den durchgear­beit­et. Dem Sicher­heit­sun­ternehmen war das egal, weil es ja keine Kon­trollen gab und sie die Belege ohne­hin gefälscht haben. Wir mussten ein Wach­buch führen, das hat der Grieche immer einen Monat im voraus aus­ge­füllt: Schlüs­sel vol­lzäh­lig vorhan­den. KbV – Keine beson­deren Vorkomm­nisse.

Jet­zt tram­peln im Haus wieder irgendwelche Kinder herum. Sollen sie. Natür­lich kön­nte ich an die Tür klopfen und sie ein­fach abknallen. Wie die Schweine während mein­er Met­zger­lehre. Aber dazu müsste ich die Kisten vor mein­er Woh­nungstür wegräu­men. Nein, nein, im Schul­hof ist die Auswahl ja viel größer. Zuerst werde ich mir mit meinem Feld­stech­er einen Überblick ver­schaf­fen, und dann geht es los. Wahrschein­lich wird sofort Panik aus­brechen und sie wer­den weglaufen und ver­suchen, sich zu ver­steck­en. Aber ich werde ganz ruhig bleiben. Das ist das wichtig­ste. Keine Hek­tik. Ich werde nicht ein­fach drauf los ballern, son­dern mir genau über­legen, wen ich ins Visi­er nehme.

Damals bin ich tagsüber fast gar nicht mehr aus dem Haus gegan­gen. Die Einkäufe habe ich nach der Arbeit erledigt. Während der Woche hat meine Schicht zwölf Stun­den gedauert. Von sieben am Abend bis sieben in der Früh. Im Gefäng­nis habe ich Prob­leme gehabt, weil ich mich ja erst wieder an den nor­malen Rhyth­mus gewöh­nen musste. In der Nacht war ich wach, tagsüber wollte ich schlafen, was aber nicht ging. Das war nicht lustig. Natür­lich hat­te ich vor Gericht keine Chance. Ich war ja vorbe­straft und sie haben mir einen Pflichtvertei­di­ger zur Seite gestellt, dem völ­lig egal war, was mit mir passiert. Diese ver­dammten Schweine. Selb­st bei den bei­den Jugos haben sie mildernde Umstände berück­sichtigt. Den Griechen haben sie gar nicht angeklagt, weil der sich hin­ten und vorne nicht mehr aus­gekan­nt hat. Trotz­dem haben sie auch ihn gekündigt und kurze Zeit später hat er sich aufge­hängt, weil er sich ein­fach nicht mehr zurecht­ge­fun­den hat. Ich habe als einziger die Höch­st­strafe bekom­men. Aber heute ist mir das alles egal. Heute fälle ich die Urteile. Und es wird keine mildern­den Umstände geben. Auch nicht für den Direk­tor.

Fer­tiggemacht haben sie mich in der Hauptschule. Vom ersten Tag an. Die Lehrer haben genau gewusst, wie sie mich am besten quälen kön­nen. Obwohl ich nicht sin­gen kon­nte, musste ich in jed­er Musik­stunde vor der ganzen Klasse irgendwelche Lieder sin­gen. Alle Vöglein sind schon da. Und alle haben gelacht. Die Lehrer genau­so wie die Schüler. Auch meine Auf­sätze musste ich laut vor­lesen, obwohl ich mir beim Schreiben schw­er tat. Und rech­nen musste ich immer vorne an der Tafel. Damit alle sehen kon­nten, wie ich geschwitzt habe vor Angst. Ein­mal habe ich das mein­er Mut­ter erzählt, aber sie hat mir sofort eine Ohrfeige gegeben. „Recht geschieht dir, weil du zu allem zu blöd bist“, hat sie gesagt. Und sich die näch­ste Zigarette angezün­det. Bis sie dann im Badez­im­mer selb­st krepiert ist wie ein Hund.

Ich bin ganz ver­schwitzt und stinke, aber ich werde mich nicht mehr umziehen. Wozu auch? In der Volkss­chule habe ich oft eine ganze Woche lang das­selbe Gewand getra­gen. Am lieb­sten hätte ich in diesen Klei­dern auch geschlafen. In der frischen Wäsche habe ich mich nie wohl gefühlt. Was mein­er Mut­ter ohne­hin recht war, weil sie dann weniger waschen musste. Meine Mut­ter war ja eine richtig faule Sau, die das Geschirr nur abge­waschen hat, wenn es schon zu stinken begonnen hat oder wenn sie Män­nerbe­such erwartet hat. Ihren Män­nern war das aber ohne­hin egal. Die haben ja auch ges­tunken, nach Alko­hol und Zigaret­ten und Schweiß. Vom Jugen­damt sind sie auch ein paar Mal gekom­men, aber meine Mut­ter hat es immer irgend­wie geschafft, die Beamten davon zu überzeu­gen, dass alles in bester Ord­nung sei. Ich glaube, dass sie ein­mal einem Beamten sog­ar einen geblasen hat. Sie hat jeden­falls gegrun­zt wie ein Schwein und irgend­wann hat der Beamte kurz aufgeschrien. Ich musste mich in der Zwis­chen­zeit in meinem Kabi­nett ver­steck­en. Wenn ich etwas gesagt hätte, hätte sie mich umge­bracht.

Weil mich meine Mut­ter an den Woch­enen­den los sein wollte, hat sie mich ein­mal sog­ar in das nahe gele­gene Pfar­rheim geschickt. Sie hat dem Pfar­rer irgen­deinen Unsinn erzählt, dass ich gerne bei der Jungschar dabei wäre und dass ich in Reli­gion immer gute Noten hätte, was ein völ­liger Blödsinn war. Das einzige, was mich im Pfar­rheim inter­essiert hat, war Tis­ch­fußball. Ich habe gle­ich gegen ein paar Burschen um Geld gespielt und jedes Mal gewon­nen. Nach dem drit­ten Woch­enende hat mich der Pfar­rer raus­ge­wor­fen, weil ich nicht bere­it war, mich an irgendwelchen Gesprächen über Gott und die Welt zu beteili­gen. Mein­er Mut­ter habe ich das natür­lich nicht gesagt, stattdessen bin ich in den Park gegan­gen und habe mich mit ein paar Typen ange­fre­un­det, die mir gezeigt haben, wie man Keller­a­bteile auf­bricht.

Was ist das für ein Lachen? Es kommt vom Schul­hof, aber es kön­nen keine Schüler sein, weil die ja jet­zt Unter­richt haben. Ich muss mich anschle­ichen, damit mich nie­mand sieht. Vielle­icht ist es ja eine Falle. Okay, langsam, langsam. Ich sehe zwei Män­ner in grauen Arbeitsmän­teln, das sind die Schul­warte, die kenne ich. Die leeren die Mis­tkü­bel aus und erzählen sich dabei sich­er irgendwelche ordinären Witze. Und dann lachen sie wie Idioten. Es ist eigentlich kein richtiges Lachen, eher ein Bellen. Und sobald sie einen Kübel aus­geleert haben, zün­den sie sich eine Tschick an und wer­fen die Stum­meln auf den Boden. Die sind wahrschein­lich unkünd­bar und gehen alle zwei Wochen in den Kranken­stand. Ein richtiges Gesin­del.

Jet­zt frage ich mich natür­lich schon, was das Leben über­haupt für einen Sinn haben soll. Mein Leben hat jeden­falls keinen Sinn gehabt, deshalb ist es mir auch egal, wenn es heute zu Ende geht. Wozu soll ich noch leben? Kinder habe ich keine und selb­st wenn ich welche hätte, wer weiß, was aus ihnen gewor­den wäre. Das Leben mein­er Mut­ter war ja auch sinn­los, obwohl sie ein Kind gehabt hat. Aber sie hat mich von Anfang an abgelehnt. Ich ver­ste­he gar nicht, warum sie mich nicht abgetrieben hat. Da wäre uns bei­den viel erspart geblieben. Komis­cher­weise füh­le ich mich bei dem Gedanken, dass ich heute nicht alleine abtreten werde, irgend­wie wohl. Und ich werde keine Erk­lärun­gen hin­ter­lassen.

Worauf soll ich noch warten? Auf die Frau meines Lebens? Dass ich nicht lache. Die eine Ehe hat mir gere­icht und die anderen Weiber waren auch nicht viel bess­er. Solange ich Kohle hat­te, war ich gut genug für sie, kaum war ich aber abge­bran­nt, haben sie sich einen anderen gesucht. Zweimal bin ich auch del­o­giert wor­den. Das will ich nicht noch ein­mal erleben. Und ins Gefäng­nis gehe ich auch nicht mehr. Am Mon­tag um neun soll ja die Del­o­gierung stat­tfind­en, mit Gerichtsvol­lzieher, Recht­san­walt, Schloss­er und Spedi­teur. Wahrschein­lich wird auch die Polizei dabei sein. Der einzige, der nicht da sein wird, bin ich. Die kön­nen mich alle.

Oft habe ich mich gefragt, wo ich in meinem Leben die falsche Abzwei­gung genom­men habe. Oder war ich von Anfang an auf dem Holzweg? Vielle­icht habe ich ja nicht ein­mal die Chance gehabt, einen anderen Weg einzuschla­gen. Es war ja von Anfang an alles verko­rkst. Zim­mer, Küche, Kabi­nett. Eine Alko­ho­lik­erin als Mut­ter. Kein Vater. Nie Geld zu Hause. Kür­zlich habe ich in ein­er der Kisten ein Heft aus mein­er Volkss­chulzeit gefun­den. Da schreibe ich immer irgen­det­was von meinen Eltern und Geschwis­tern, weil ich auf keinen Fall wollte, dass meine Mitschüler wis­sen, dass ich keinen Vater und keine Geschwis­ter habe. Wenn mich meine Schulka­m­er­aden gefragt haben, welchen Beruf mein Vater ausübt, habe ich gesagt, dass er Hochseekapitän ist, und dass er mich deshalb nicht von der Schule abholen kann. Am Anfang wollte ich mit anderen Kindern nach Hause gehen, aber das woll­ten deren Eltern nicht. Dass ich ein Einzelkind war, habe ich auch ver­schwiegen. Wenn die anderen von ihren Geschwis­tern erzählt haben, habe ich ein­fach einen Brud­er oder eine Schwest­er erfun­den, aber irgend­wann sind sie mir draufgekom­men, weil ich ständig die Namen ver­wech­selt habe. Als Achtjähriger habe ich einen Brief an das Christkind geschrieben:

Liebes Christkind, ich freue mich wieder wenn Du heuer am 24. Dezem­ber komst. Ich hätte auch ein­paar Wün­sche: ein paar Ski, einen Anorack, einen Schip­ullover und viele andere Sachen, auch einen schö­nen Christ­baum wo viele gute Schlegereien oben hän­gen. Auch daß meine Eltern lange leben und meine Geschwis­ter auch alle gesund bleiben. Viele Grüße Dein …

Alles Unsinn natür­lich, weil es bei uns gar keinen Christ­baum gab, und ich nie in meinem Leben Schi bekom­men habe. Ein­mal habe ich ein Gedicht geschrieben, das uns die Lehrerin dik­tiert hat:

Liebe Mut­ter, mir ist kalt,
mach das Stübchen warm!
Setz dich hin­tern Ofen dann
und nimm mich in den Arm!

Ich habe das Gedicht mein­er Mut­ter vorge­le­sen, aber sie ist nur wütend gewor­den. Noch wüten­der ist sie gewor­den, wenn ich sie gefragt habe, wo mein Vater ist. Ihre Antwort bestand aus ein­er Aneinan­der­rei­hung von Flüchen, dass er ein ver­dammter Huren­bock war und ein Säufer und dass er abge­hauen ist, wie ich auf die Welt gekom­men bin. Irgend­wann habe ich mit dem Fra­gen aufge­hört, weil ich ja ohne­hin keine Antwort bekom­men habe.

Wie soll man unter solchen Umstän­den etwas aus seinem Leben machen? Ander­er­seits ist es mir auch nicht schlecht gegan­gen, wenn ich nur nicht immer an die falschen Fre­unde ger­at­en wäre. Sobald Dro­gen im Spiel waren, ist alles schief gegan­gen. Oder sie sind über­mütig gewor­den. Wie die Jugos im Baustof­flager. Dann ist die Sache aufge­flo­gen und sie haben mich wieder für ein Jahr auf Kur geschickt. In den Augen der Rich­terin war ich ja ein Rück­falltäter und schw­er zu sozial­isieren. Blöde Sau, blöde. An sie werde ich auch denken, wenn ich abdrücke.