Alles hat ein Ende, nur die Welt hat 208

Erzählung

Von

Häufig ist die Prophezeiung die Hauptursache
für das prophezeite Ereignis!
(Thomas Hobbes)

Wenn ich mein bisheriges Leben in einem einzigen Satz zusammenfassen müsste, würde ich sagen, dass ich mich von Anfang an auf das Ende spezialisiert habe.

So beginne ich meistens meine Vorträge. Genau genommen stimmt das nicht; ich habe mich eigentlich erst während meines PHD auf Endzeitforschung spezialisiert. Aber der erste Satz ist eben der erste Satz. Und „Ich habe mich eigentlich erst während meines PHD auf Endzeitforschung spezialisiert“, ist kein Einstieg, mit dem man seine Zuhörer sofort in seinen Bann zieht. Ja, auch Endzeitforscher mögen gute Anfänge.

„Die Apokalypse ist bereits Realität“, das ist Meyerhoffs erster Satz, den sie sagt, bevor sie sich mir vorstellt. Meyerhoff erscheint mir etwas zu lebendig dafür, dass der Weltuntergang schon stattgefunden haben soll. Sie führt mich über das Universitätsgelände, hüpft dabei mehr, als zu gehen und verwendet eigentlich nur ein einziges Adjektiv: herrlich. Ich würde es am ehesten mit splendid übersetzen. Ich kenne kaum Deutsche, die dieses Wort überhaupt benutzen, aber ich kenne auch nicht viele Deutsche, außer meinen Vater vielleicht, aber Kennen wäre auch hier zu viel des Guten, Deutsch wahrscheinlich auch.  Sagen wir so: Ich weiß, dass er existiert. Oder: Ich habe keine Informationen, die das Gegenteil vermuten ließen.

Wir besichtigen das herrliche Forschungszentrum in herrlicher Lage mit herrlichen Räumlichkeiten. Meyerhoff stellt mich ein paar anderen Gastforschern vor und fasst deren Forschungsprojekte kurz für mich zusammen. Die typischen Themen: Verseuchung, künstliche Erreger, Vulkanausbrüche, Supernoven, Gammablitze, Meteoriteneinschläge, Gentechnik, KI, Störung des geoökologischen Gleichgewichts, unsere postapokalyptische Zukunft im Weltall. Ich bin mit meinen Thesen wie immer eine Außenseiterin.

Dann spazieren wir durch die Altstadt, die voller Touristen ist. Darunter viele Amerikaner, die wirken als seien sie einer Kurzgeschichte von Raymond Carver entsprungen. Unwillkürlich schaue ich, ob ich meinen Vater irgendwo sehe, ziehe von jedem Gesicht 30 Jahre ab.

Sie, waren Sie schon mal in Heidelberg, und ich nur, nein, noch nie.

Wir biegen in eine kleine Seitenstraße ein, keine Amerikaner mehr außer mir und ein Jeep, der uns entgegenkommt. Wir weichen aus, der Fahrer lächelt, alle hier lächeln, ununterbrochen. Die Stimmung in Heidelberg erinnert mich an Kalifornien, nur ohne Palmen, Highways, Obdachlose und Fentanyl-Tote. Eigentlich erinnert es mich mehr an das Disneyland Resort in Anaheim, aber das ist natürlich keine sonderlich interessante Beobachtung, darum spreche ich sie nicht laut aus.

Die Menschen spazieren ohne Ziel und setzen sich anschließend in kleine Cafés mit amerikanisierten Namen wie Coffee Nerd oder Coffee Nomad. Sie tragen Klamotten in leuchtenden Farben, auf denen schnell Flecken entstehen könnten, die beim Waschen nie wieder rausgehen, aber das scheint sie nicht zu kümmern. Sie essen Blueberry-Cheese­cake, als ob es kein Morgen gäbe. Mit einem Ereignis, das ihre Erwartungsparameter sprengt, rechnen sie nicht. Vielleicht geht das Leben hier wirklich auf ewig so weiter, ein Parallel­universum von Kaffee, Kuchen und fleckenfreier Kleidung.

Meyerhoff ist Mitte 40, wirkt aber 10 Jahre jünger, trägt im Grunde das Gleiche wie die amerikanischen Touristen, aber ironisiert, und kombiniert es mit einem schicken Blazer, dazu hat sie die lösungsorientierte Ausstrahlung einer Verhaltenstherapeutin oder Personal Trainerin. Dabei ist ihr Forschungsschwerpunkt die Selbstzerstörung der Menschheit durch die technologische Singularität. In ihrem letzten Paper vertritt Meyerhoff die These, dass es sehr wahrscheinlich sei, dass falsch ausgerichtete Agenten die Menschheit als Hindernis für eine Belohnung ansehen könnten und deshalb auslöschen werden. Sie hat auch in Palo Alto geforscht, glaube ich. In Wahrheit befänden wir uns aber schon jetzt in einer Phase der Postapokalypse, schreibt sie, ich weiß aber nicht, wieso, denn ich habe den Text im Flieger angefangen, bin dann aber eingenickt und habe es bisher nicht geschafft, ihn zu Ende zu lesen.

Wir betreten ein Café. Kleine Tischchen, Sofas und Kissen, auf denen narkotisierende Sprüche geschrieben stehen. An der Wand hängt das Foto eines jungen Mannes, der vor einer Kaffeemaschine posiert und lächelt. Das Foto beschäftigt mich eine Weile, ich meine, es irgendwo schon einmal gesehen zu haben, bei einer Konferenz in der Schweiz oder in Kanada. Es ist eine Art Vexierbild: Wenn man länger hinsieht, ist man sich nicht mehr sicher, ob der Mann lacht oder weint.

Ich komme mir etwas fehl am Platz vor, sage ich. Sie, in diesem Café? Ich, nein, in Heidelberg, im Forschungszentrum. „Ich gehe in meiner Forschung ja nicht davon aus, dass die Apokalypse schon stattgefunden hat“, sage ich. „Apokalypse oder Postapokalypse – da sind wir sehr tolerant“, sagt sie und stellt zwei wiederverwendbare Plastikbecher auf die Theke des Cafés, darauf das Logo ihres Instituts: CAPAS. Nacheinander zeigt  sie mit ihrem Daumennagel auf das A, das für Apokalypse und das P, das für Postapokalypse steht. Die Mitarbeiterin des Cafés nimmt die Becher und gibt sie uns gefüllt zurück.

Wir gehen ein paar Schritte entlang des Neckars, LKWs rasen an uns vorbei. Sie haben die Bundesstraße direkt neben den Fluss gebaut; ich fühle mich wieder wohler, alles wirkt ein bisschen echter, urbaner. Meyerhoff findet, der Verkehr sei zu laut, um sich zu unterhalten, also gehen wir zurück in die Altstadt zu den Touristenmassen. Wir setzen uns auf eine Bank an einem Platz, der aussieht wie die Glasur einer Hochzeitstorte auf Hochzeiten, die ich normalerweise meide. Kaffee, Sonne, rote Fassaden, Waldgrün, Amerikaner, Kurpfälzer; wir sprechen über HLMI, Lem, Haraway, Bostrom und Russell.

Sie, ist das nicht herrlich hier?

Ich nicke.

Bei manchen Forschern habe die Schönheit der Stadt schon zu einer Schreibblockade geführt. Die hätten dann plötzlich romantische Lyrik geschrieben. Ich weiß nicht, ob Meyerhoff das ernst meint, also versuche ich es mit einem doppeldeutigen Lachen.

„Manchmal denke ich, es würde die Glaubwürdigkeit unseres Instituts steigern, wenn wir uns in einem 60er-Jahre-Bau in Kaiserslautern befinden würden. Oder in einer stillgelegten Zeche im Ruhrpott.“

„Was ist eine Zeche?“, frage ich.

„Ein Bergwerk.“

„Ja, es ist nicht sonderlich endzeitlich hier“, sage ich, während ich ein Rentnerpaar beobachte, das, eine Flasche Wein leerend, neben uns sitzt und gerade seinen zweiten oder dritten Frühling erlebt. Ein Sightseeing-Bus navigiert durch die engen Gassen, überfährt beinah einen Fahrradfahrer, dem es aber noch gelingt, auszuweichen. Ich rechne damit, dass er auf den Busfahrer losgeht, doch der Mann hupt nur vergnügt mit einer überdimensionierten Hupe und ruft: „Nichts passiert!“

„Wieso wurde Heidelberg im Zweiten Weltkrieg nicht zerstört?“, frage ich Meyerhoff.

„Da gibt es verschiedene Theorien. Die einen behaupten, es wurde heimlich schon auserkoren als US-Hauptquartier.“

„Und die anderen?“

„Gehen davon aus, dass Heidelberg eigentlich das Schicksal von Hiroshima bevorstand. Dazu forscht auch gerade einer unserer Research Fellows. Es gibt aber quasi keine Beweise.“

„Die zweite Version passt jedenfalls besser zu Ihrem Institut.“

„Wenn Sie sich nach Endzeitstimmung sehnen, dann empfehle ich die Bahnstadt oder Emmertsgrund an einem Regentag, das sind die Neubauviertel, aber erwarten sie sich kein zweites La Defense, das haben wir hier leider nicht.“

Ich bedanke mich für den Tipp und sage, dass ich einen Ausflug dorthin machen werde, sollte mich in den nächsten Wochen mal das Unbehagen in der Altstadt packen. Meyerhoff schüttelt einen Rest Kaffee aus den wiederverwendbaren CAPAS-Bechern, steckt sie in ihren Rucksack und steigt auf ihr Fahrrad. Sie, ob mit meiner Unterkunft alles in Ordnung sei und ich, ja, alles in Ordnung.

Dann verabschiedet sie sich und sagt noch, sie freue sich schon auf meinen Vortrag am Abend. Ich denke wieder an meinen ersten Satz, meine infamous first words. Wenn ich mein bisheriges Leben in einem einzigen Satz zusammenfassen müsste …

Ich spaziere ein bisschen durch die Stadt, nehme den Weg zur Schlossruine und gehe mein Vortragsmanuskript ein letztes Mal durch. Auch mir ist auf einmal mehr danach, Lyrik zu schreiben, obwohl ich noch nie in meinem Leben ein Gedicht geschrieben habe und mich nicht als Romantikerin beschreiben würde. Nostradamus hat seine Prophezeiungen auch in Gedichtform verfasst, also versuche ich es, nehme eine schwarzen Stift und notiere auf der Rückseite meines Manuskripts:

Touristen, Touristen,
die Kulisse, das Schloss,
die Ruinen des Profits,
die beinah zerbombte Stadt,
empfinden weder Leid
noch Traurigkeit,
die Natur weint dem
angeschwemmten Wal,
dem verstrahlten Reh,
dem Truthahn mit Schrot zwischen den Federn,
keine Träne nach,
erst im Menschen erwacht die Natur zu Bewusstsein,
und erkennt in sich selbst ihren Anfang
und ihr Ende,
Alpha und Omega,
Weltuntergang ist Menschensache
Mitleid ist vor allen Dingen:
Selbstmitleid.
Bewusstsein ist vor allen Dingen:
Verhängnis.

Wenn wir von Weltuntergang sprechen, dann meinen wir meist nicht das Ende unseres Planeten, sondern ein Absinken unseres Wohlstandsniveaus und das ausgewählter, uns ähnlicher Exemplare der Gattung Mensch. Meyerhoff hat vielleicht recht. Ständig geht irgendwo auf dieser Welt die Welt unter. Ist das ein erster Satz? Nein, zu umständlich.

Ich kann verstehen, dass mein Vater damals hiergeblieben ist. Der Homo heidelbergensis ist guter Dinge. Er scheint nicht damit zu rechnen, dass es bald zu Ende sein könnte; die letzten Tage der Menschheit sind hier noch nicht einmal angezählt.

Ich blicke auf den Neckar, die Prunkvillen und stehe in der altrosa Schlossruine. Das sei der berühmte Neckartäler Sandstein, hat Meyerhoff mir vorher erklärt. Für einen Moment spüre ich etwas, das man Liebe zum Leben nennen könnte, ein Gefühl wie Neckarstein, das ich mir gleich wieder verbiete, weil ich es für unangebracht halte. Ich denke: Unruhe bewahren.

Ich wohne in einem Teil von New York, der mich jeden Tag spüren lässt, dass für die meisten Menschen der Alltag auch ohne Katastrophenszenarios ein Kampf ums Überleben darstellt, auch wenn mein Überleben im Großen und Ganzen gesichert ist, weil ich eine Assistenzprofessur an der NYU habe, Tenure Track. Aber Heidelberg? Ich gehe in mein Hotel, The Heidelberg Exzellenz Hotel, alles exzellent hier, und lege mich aufs frisch gemachte Bett, ziehe die Decke über meinen Kopf und verharre kurz in dieser Position. Ich schreibe meiner Mutter, frage, wie es ihr gehe, versuche, ein einigermaßen guter Mensch zu sein, so wie sie versucht hat, eine einigermaßen gute Mutter zu sein, aber wir beide tun uns schwer. Ich frage sie, wo mein Vater gewohnt hat, als er in Heidelberg stationiert war, aber sie antwortet nicht auf die Nachricht. An der Rezeption frage ich nach einem Bügeleisen, bügele meine Bluse (wasche ein paar Flecken raus, föhne sie trocken) und schaue dabei ein bisschen deutsches Fernsehen. Ich verstehe ungefähr 90 Prozent von dem, was sie sagen. Aus der Minibar nehme ich einen Gin und ein Tonic und mixe die Flüssigkeiten, weil ich kein Glas finde, in meinem Mund, bis eine homogene Masse entsteht, und schlucke.

Im Vortragssaal des CAPAS-Institutsgebäudes warten schon einige Menschen, die mich überschwänglich begrüßen. Ich trinke noch ein Glas warmes Wasser, für die Stimme. Nach und nach füllt sich der Raum. Meyerhoff stellt mich vor, diese unangenehmen Einführungen, Studium, Promotion, Forschungsaufenthalte, ausgewählte Veröffentlichungen, Namen von Universitäten, das ganze Blabla, die ganze Eitelkeit. Ich dachte, in der Wissenschaft wäre man gefeit vor Narzissten; das Gegenteil ist der Fall.

Ich sage meinen neuen ersten Satz, der mir unter der Bettdecke eingefallen ist; das Publikum lacht. Dann halte ich meinen Vortrag über das Unerwartbare. Der Abend läuft wie erwartet. Auf meine Lecture ohne Performance folgt eine Fragerunde ohne Fragen, Meyerhoff improvisiert, das fällt ihr leicht, wie wahrscheinlich alles im Leben. Wie macht Meyerhoff das nur? Wieso geht Meyerhoff das Leben so locker von der Hand? Oder tut sie nur so? Ich mag sie, jeder mag sie, und ihre improvisierten Fragen sind nicht schlecht.

Dann geht man zum eigentlichen Teil des Abends über: dem Sektempfang. Ich stelle mich mit einem Glas an einen Stehtisch und blättere in einem Flyer des Instituts. Meyerhoff kommt gut gelaunt an und bedankt sich für den herrlichen Vortrag. Ich entschuldige mich, weil ich etwas überzogen habe.

„Ach was, ist doch kein Weltuntergang“, sagte Meyerhoff zwinkernd und ich denke nur: Wow, einfach wow.

Einige Menschen treten dazu, es entwickelt sich ein fröhliches Gespräch über verschiedene Szenarien zum Ende der Menschheit und deren jeweilige Wahrscheinlichkeiten. Ein Forscher aus Norwegen, um die 40 Jahre, voller, dunkler Bart, volles Haar, Typ Theater-Regisseur mit dünnem Schal – es ist Mai – um den Hals: Nachdem er mich zu meinen Thesen befragt hat, gibt er zu bedenken, dass er ganz anderer Meinung sei als ich, weil alle existenziellen Risiken für unsere Gattung im Grunde identifiziert seien. Am Institut liefen intern sogar Wetten, die beste Quote gebe es derzeit für das Szenario Schwarzes Loch. Man wette natürlich nicht um Geld, sondern um Sachwerte, weil das Geldsystem, wie wir alle wüssten, kollabieren werde in etwa 2 bis 19 Jahren.

Eine andere Gastforscherin erklärt, dass sie ihre Trinkwasseraufbereitungsanlage darauf verwettet habe, dass westlichen Wohlstandsgemeinschaften ein Zivilisationskollaps bevorstehe wegen der Rückkehr der Pest, aber als Biowaffe einer feindlich gesinnten Nation.

„Wollen Sie mitwetten?“, fragt der Regisseur.

„Nein, danke.“

„Alle Fellows haben bisher eine Wette abgegeben. Das ist eher symbolisch.“

„Aber Sie haben meinen Vortrag ja gehört.“

„Nein, ich habe es leider erst zum Sektempfang geschafft …“, der Regisseur richtet seinen Schal.

Ich erinnere die Runde an all die Apokalypsen, die nicht stattgefunden haben, erzähle vom Markus-Evangelium, von der Johannes-Offenbarung, von Papst Silvester II., der behauptete, dass zum ersten Millennium das Ende anstehe, erzähle davon, wie ich das Jahr 2000 in New York verbracht habe, an das Ende des Maya-Kalenders im Jahr 2012 und verweise auf meine Publikation 208 endings of the world (auf Deutsch erschienen mit dem Titel: Alles hat ein Ende, nur die Welt hat 208, vielen Dank an die Übersetzerin an dieser Stelle), in der ich ebenso viele apokalyptische Fehleinschätzungen analysiere.

Der Regisseur hält dagegen mit einer plastischen Beschreibung des Weltuntergangs mit relativ vielen spezifischen Details und sagt, er habe eine Erstausgabe von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes darauf verwettet, dass es so zu Ende gehe.

„Im Jahr 1910 dachten alle an den Halleyschen Kometen, aber niemand an die Atombombe. 1945 dachten alle an die Atombombe, aber niemand an den Klimawandel. Jetzt denken alle an den Klimawandel, aber niemand denkt an das Undenkbare. Ich wette, die größten Katastrophenrisiken kennen wir nicht, vielleicht, ach, keine Ahnung.“

„Das ist zu vage für eine Wette!“, sagt er.

„Die Kunst der Prophezeiung ist es, vage zu bleiben. Das weiß jedes Medium und jede Astrologin. Weltuntergang: ja. Wie: keine Ahnung. Das war Luthers Fehler. Er tippte auf die Jahre 1532, 1538 und 1541. Hätte er lieber mal gesagt: früher oder später.“

„Das ist doch alles nicht vergleichbar. Wir blicken ja nicht mehr in die Kristallkugel oder legen Tarotkarten. Wir haben solide Prognosemodelle und Datenmodelle.“

„Wir können nicht einmal das Wetter von morgen richtig vorhersagen“, antworte ich.

Der Regisseur wirkt nicht glücklich. Einem Narzissten zu widersprechen ist ein wenig so, wie einen Fluch auf sich zu ziehen. Meyerhoff versucht zu schlichten und lenkt das Gespräch in eine unverfänglichere Richtung. Sie sagt, dass wir jetzt gleich einen Tisch in einem herrlichen Restaurant reserviert hätten und langsam aufbrechen müssten. Dort erwarte uns eine herrliche Lammstelze, aber auch vegetarische Maultaschen, je nachdem, wo man gerade stehe in Sachen Apokalypse und Fleischkonsum. Ich hole mir noch ein Glas Sekt und kippe es hinunter.

Der Regisseur beruhigt sich, wechselt das Thema, erzählt nun von seiner Stute Gulrot und wie gut ihm diese tiefe Verbindung zu einem anderen Lebewesen tue, die Zeit in der Natur, ohne Bildschirm, Endzeit und Datenanalysen. Schon der Gedanke an Gulrot scheint ihn zu entspannen. Das Turnierreiten habe seine Familie ganz schön zusammengeschweißt in den letzten Jahren, und seine Tochter habe schon einige Preise gewonnen, darunter den Oslo Dranstørming Prazak.

Auf dem Weg zum Restaurant erklärt mir die Gastforscherin mit der Trinkwasseraufbereitungsanlage – Portugiesin,  schwarze Locken, Typ Buchhändlerin – warum die Welt ihrer Meinung nach so untergehen werde, wie sie ihrer Meinung nach untergehen werde. Ich stimme ihr der Einfachheit halber zu.

Wir betreten das Restaurant, das mir mehr eine Bierhalle zu sein scheint. Die Stimmung ist ausgelassen, holzvertäfelte Wände, ein württembergisches Deckenfresko, die Oster-Deko hängt noch. (Die Apokalypsevorstellungen des Christentums und Judentums sind doch deutlich angenehmer, weil nach der Vernichtung der Erde eine neue, bessere Welt in Aussicht gestellt wird, damit erfüllte sie noch einen tröstenden Zweck.)

Wir setzen uns an eine große Tafel, ich versuche, maximalen Abstand zum Regisseur, dem norwegischen Nostradamus, zu nehmen und setze mich neben Meyerhoff, die mich irgendwie anzieht mit ihrer positiven Art. Außerdem gibt sie keine Wetten ab. Die Kellner bringen uns eine Menükarte mit vier Gängen. Der Wein, ein Riesling, ist aus der Gegend und nicht schlecht. Wir stoßen an, auf den Vortrag, den Frühling, neue Forschungsgelder, die bewilligt worden sind. Die Kellner bringen den ersten Gang, Spargelsuppe mit Lachsbällchen.

Meinem Sitznachbar – ein Forscher aus Neuseeland, sonnengegerbtes Gesicht, breites Lächeln, Typ Expeditionsleiter, auf die literarische Darstellung geologischer Kataklysmen wie Ausbrüche von Supervulkanen spezialisiert, wenn ich mich richtig erinnere – gelingt es, das gesamte Gespräch mit mir in einem Zustand brodelnder Doppeldeutigkeit zu halten. Dann erklärt auch er mir das Ende der Menschheit: Ein paar Menschen würden überleben, so seine Prophezeiung, wie in der letzten Eiszeit, eine Gruppe Superreicher, die sich in Bunkern in Albanien und Neuseeland durchbeißen und zwei getrennte, neue Zivilisationen aufbauen. Doch er gebe die Hoffnung nicht auf.

„Hat Luther nicht gesagt“, fragt er, „wenn morgen die Welt unterginge, würde er heute noch einen Apfelbaum pflanzen?“

Lange ist mir nicht klar, ob er mich ins Bett kriegen oder ein guter Protestant sein will. Als die Kellner den zweiten Gang bringen, Dodo-Eigelb mit Tomme-Fleurette-Sauce und Baby-Spinat, nutze ich den Moment und drehe mich weg. Dann beobachte ich die Runde, die über das Eigelb staunt, lachend und diskutierend an der Tafel sitzt und flaschenweise Wein leert. Ich höre Gesprächsfetzen von Massenvernichtungswaffen, Nanotechnologie, schlauem Staub, Solar-Geoengineering, Ressourcenmangel, dem großen Massenaussterben, Waldbränden, Plastik im Meer und im Blut und dem herrlichen, herrlichen Riesling.

Ich denke an den Halleyschen Kometen, an die Massenpanik, als die Menschen 1910 dachten, sie würden an einer Cyan-Vergiftung sterben, die dionysischen Exzesse, die Massensuizide dieser Zeit. Und wie war das noch mit dem Untergang Roms? Ich erinnere mich nicht mehr, aber vielleicht war es wie in Heidelberg.

Ich wende mich Meyerhoff zu, um sie zu Rom zu befragen. Sie ist schon ziemlich betrunken und erklärt mir, dass sie Rom liebe, Romulus und Remus, eine herrliche Stadt. Dann werden Lammstelze und Maultaschen serviert. Während des Hauptgangs essen wir und schweigen weitgehend bis auf gelegentliches Stöhnen, um zu signalisieren, dass das Essen schmeckt.

Meyerhoff schließt plötzlich an, so als habe sie die Frage jetzt erst verstanden, und sagt, sie wisse auch nicht, wie Rom untergegangen sei. Aber sie glaube, die Annahme der Apokalypse sei schlicht der Normalzustand des Gehirns, weil es sich die Zukunft vorstellen könne. Die Menschheit fantasiere wahrscheinlich schon immer von ihrem Untergang. Die Katastrophe sei auch immer eine Chance. Als Meyerhoff Derrida zitiert, wird mir kurz schwindelig.

Dann flüstert Meyerhoff. Unter uns: Sie glaube nicht unbedingt an ihre eigenen Thesen. All die anderen Forscher hätten ebenso gute Gründe und Daten für ihre Thesen und Projekte. Aber irgendwann müsse man sich eben entscheiden, um als Expertin auftreten zu können, Interviews, Beratung, Panel-Gespräche, Veröffentlichungen, Modellierungen usw. Da gehe es wie überall im Kapitalismus um Spezialisierung.

Sie verstehe meine Haltung, aber es helfe leider überhaupt nicht, alles anzuzweifeln und zu relativieren. Banken, Versicherungen und Unternehmen wollten konkrete Szenarien. Sie sei sehr früh reingeraten in dieses Thema und dieser Forschungszweig habe eben enormes Zukunftspotenzial, vor allem, weil er noch so jung sei und einem keiner übelnehme, wenn es nicht so kommt, wie man prophezeit, weil alle ebenso froh seien, dass es nicht so gekommen ist, wie man prophezeit hat. Aber eine Dystopie in greifbarer Nähe, das sei – Meyerhoff wird nachdenklich – ein Bedürfnis der Seele.

„Aber“, sagt sie dann und legt das Besteck auf ihrem leeren Teller ab, „das klingt alles so negativ. Ich liebe mein Fachgebiet. Diese Community. Diese herrlichen Menschen. Fühlen wir uns nicht erst im Angesicht des Untergangs wirklich lebendig? Wir erinnern uns hier jeden Tag gegenseitig: Vergesst nicht, dass ihr sterben werdet! Darum gehen wir abends essen und trinken und feiern, weil wir alle wissen, dass es morgen zu 2,9743 Prozent vorbei sein könnte.“

„Memento mori“, sage ich.

„Memento mori.“

Die ganze Runde stimmt mit ein: „Memento mori!“

Wir stoßen an.

„Aber bei Ihnen scheint die Arbeit in diesem Forschungsfeld etwas anderes auszulösen …“, sagt Meyerhoff. Ich nicke.

„Was denn?“

„Ich katastrophisiere …“

„Ach, das ist menschlich. Hat sich evolutionär so bewährt für unsere Gattung. Sehen Sie es positiv: Die Apokalypse ist ein Anfang. Grund und Boden einer besseren Welt. Das apokalyptische Wort.“

Meyerhoff nimmt mich in den Arm, einfach so, eine unkomplizierte Frau, die weiß, wann Worte, auch apokalyptische, an ihre Grenzen stoßen. Vielleicht würde ich mir das auch von meiner Therapeutin wünschen, doch die hält sich strikt an das Abstinenzgebot, dieses verdammte Abstinenzgebot. Zweieinhalb Jahre gehe ich schon zu ihr. Sie war es, die mich dazu ermutigt hat, mich in Heidelberg für diesen Forschungsaufenthalt zu bewerben. Und jetzt sitze ich hier und Meyerhoffs Umarmung wird immer drückender.

Erst als wir mit dem Dessert fertig sind – Schokoküchlein mit flüssigem Kern, Sahne und heißen Erdbeeren mit dem Übertitel „Supervulkanausbruch“ –, fällt mir auf, dass alle Gänge mit apokalyptischer Thematik spielen. Dann brechen wir nicht aus, sondern auf, Wortspiel von Meyerhoff. Einige wollen noch in eine Kneipe, weil: Memento mori.

Meyerhoff fragt mich, ob ich noch mitkomme. Der Melonenschnaps sei herrlich. Müsse man probieren. Ich zögere kurz, mein Blick fällt auf ihren Blazer; ein Erdbeerfleck, der sicher nie wieder rausgehen wird. Man muss im Leben manchmal etwas wagen, und enthemmt vom Riesling oder der Umarmung sage ich ja. Ich merke, dass auch mein Gang hüpfender wird.

Als wir das Restaurant verlassen, beginnt es zu regnen; keiner der Zukunftsforscher hat einen Schirm dabei.

Ich fühle mich plötzlich unwohl, betrunken, infektanfällig, und behaupte, dass ich müde sei, und gehe ohne große Verabschiedung und Umarmung zurück ins Hotel.

Ich ziehe die Decke über meinen Kopf, schließe die Augen und stelle mir vor, wie die Welt untergeht. Es ist ein wohltuender Gedanke, aber wieso? Ich entscheide mich gegen eine Ambien, trete noch einmal vor die Türe.

Heidelberg ist wie ausgestorben, die Touristen schlafen friedlich, laden, analog zu ihren digitalen Spiegelreflexkameras, ihre Akkus wieder auf. Ein weiterer Tag zwischen Sight­seeing und Weinverkostungen steht ihnen bevor. Ich nachtwandele, studiere Klingelschilder, schaue, ob ich seinen, ob ich meinen Namen irgendwo entdecke.

Ich gehe weiter und komme nach einer Weile in einen Wald. Ich war lange nicht mehr in einem Wald, mein Leben in New York ist geprägt von Computerarbeit, Fahrtwegen, guten Bars, schlechten Dates und mittelmäßigem Sex. Ich laufe weiter, einige Stunden lang, bin überrascht, dass mein Körper dazu noch in der Lage ist, auch wenn ich ganz schön außer Atem bin.

In denke in Katastrophen: Kolonialismus, Weltkriege, Genozide, Vertreibungen, Erdbeben, Flutwellen, Krankheiten, doch mit jedem Schritt, den ich machen, rückt der Horror etwas von mir ab.

Ich erreiche eine Stelle im Wald, mit Mammutbäumen und Totempfahl. Bilde ich mir das ein? Bin ich noch in Heidelberg oder wieder in Nordamerika? Die Sonne geht auf, hello, old friend, sage ich leise und komme mir ziemlich pathetisch vor. Zum Glück hat mich niemand gehört.

Ich raste eine Weile, erkunde die Landschaft. Ich fühle schon wieder etwas, das man vielleicht Liebe zum Leben nennen könnte, oder Dopaminausschüttung. Noch immer fühlt es sich an wie eine emotionale Verkleidung. Ich schaue mir Videos auf YouTube an von schweigsamen Männern mit Vollbärten, die anleiten, wie man sich einen Unterschlupf baut. Noch bevor die Sonne untergegangen ist, habe ich einen notdürftigen Unterschlupf errichtet mit einem kleinen Bett aus Stöcken und Laub und ich schlafe nicht gut, aber ich schlafe, ich schlafe.

Zehn Kilometer entfernt gibt es eine Packstation, also gebe ich am nächsten Tag  nach einer längeren Internetrecherche eine Eil-Bestellung auf: Wasserfilter, Biwaksack, aufblasbare Isomatte, Handkettensäge, Trekking-Beil, Feuerstahl, Camping-Wasserkessel und eine solarbetriebene Powerbank für mein Handy. (Jetzt hätte ich einiges zu verwetten.) Ich esse, wie ich es in einem Video gelernt habe, hauptsächlich Früchte, Samen, Wurzeln, Insekten und Wildkräuter und beschließe, vorerst keine Trapperfallen aufzustellen, um kleinere Nagetiere zu fangen.

In den nächsten Tagen baue ich an einem neuen Unterschlupf, deutlich geräumiger als mein erster, spanne ein im Internet bestelltes Sonnensegel darüber und baue mir eine Sitzbank. So langsam wird es gemütlich, mein Kopf ist voll mit Erinnerungen an meine Kindheit in den Wäldern Maines, der Einsamkeit Alaskas, doch ich war in meiner Kindheit nie in den Wäldern, persönliche Erinnerungen und Filmbilder haben sich in meinem Kopf zu einer ununterscheidbaren Masse vermischt. Ich denke an deutsche Romantik, Thoreau, Emerson, Sigismunde Uthke, Lasse Hallström, Coffee Nomad, meinen Vater, eigne mir immer mehr Geheimnisse des Waldes an. Bald weiß ich nicht mehr, wie viele Tage ich hier schon lebe, verliere den Überblick über den Kalender, lebe mit einer anderen Zeitrechnung, richte mich nach den Zyklen der Natur – Sonnenaufgang und -untergang, Regen und Trockenheit – und den Empfangsbestätigungs-Terminen der Lieferstation. Die Wolken sind mein Sekundenzeiger, die Sonne mein Minutenzeiger, die Jahreszeiten mein Stundenzeiger. Ich schreibe immer mehr Gedichte; sie werden fröhlicher. Ich stelle mir den Weltuntergang vor – und der Gedanke stimmt mich traurig. Ich weiß jetzt, ob ich lachen oder weinen soll, denke das Leben nicht mehr vom ersten, sondern vom letzten Satz her.

Noch habe ich Zeit. Für den Winter plane ich, mit kalorienreicher Nahrung wie Eierlikör und Marshmallows etwas Fett anzusetzen, um nicht zu erfrieren. Ich habe seit einer Ewigkeit nicht mehr in den Spiegel geschaut und vergesse allmählich die Form meines Gesichts: Verwehen und Verlöschen. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob meine Hand wirklich getrennt ist vom Ast der Buche. Zum Sonnenuntergang begebe ich mich auf den Gipfel des Königstuhl. In sicherer Entfernung zur Station der Bergbahn und des Luxushotels klettere ich auf einen Baum. Im Tal sehe ich Heidelberg, das Schimmern des Neckars, das Leuchten der Altstadt, rötlich, warm, idyllisch, immer noch nicht untergegangen. Dort speisen die Propheten goldene Dodo-Eier.

Als ich zurück zu meinem Unterschlupf kehre, wartet dort schon Meyerhoff mit einem Suchtrupp. Ich hatte natürlich nicht daran gedacht, aus dem Hotel auszuchecken oder mich von den verpflichtenden Forschungskolloquien abzumelden. Ich behaupte, dass dies der performative Teil meines Forschungsprojekts sei: Überleben nach dem Zivilisationskollaps. Sie, das sei ja eine herrliche Idee und ich, ich nicke nur. Dann bringen sie mich zurück ins Hotel, wo alles so auf mich wartet, wie ich es vor acht Tagen zurückgelassen habe.

So war das. Ironischerweise sind letzte Sätze nicht meine Stärke.