In Fünferschritten. Oder: Sich neue Bilder aus alten machen

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Ich bin jet­zt fün­fund­sechzig. Pen­sion­sreif, heißt das in der Welt da draußen. In weni­gen Wochen wird ein umfan­gre­ich­er Band über mein Werk und – bis zu einem gewis­sen Grad – den Men­schen dahin­ter erscheinen. Es mag ein Zufall sein, aber mir passt das ins Bild, das mir nicht so recht passen will: Bilanz wird gezo­gen. Zwis­chen­bi­lanz, wider­spricht man mir auf­munternd.

Soll­ten auch Sie bere­its über eine erkleck­liche Zahl an Jahres­rin­gen ver­fü­gen, ken­nen Sie das sicher­lich: Dimen­sio­nen verän­dern sich, Zeit­ebe­nen schieben sich ineinan­der, manch ein biographis­ch­er Stein hat es satt, auf dem anderen zu bleiben. Die Wege der Kind­heit, so noch vorhan­den, sind viel kürz­er als behar­rlich gespe­ichert. Wenn ich länger zurück­liegende Ereignisse spon­tan zeitlich einord­nen soll, irre ich mich mit­tler­weile nicht sel­ten um ein ganzes Jahrzehnt oder mehr. Mein vom Krebs aus­ge­mergel­ter, grauhaariger Vater in seinen Vierzigern mit den gelb­falti­gen Hän­den, ein Greis für sein kleines Kind, wird dem­nächst von meinem sportlichen, jugendlich ausse­hen­den Sohn altersmäßig einge­holt wer­den. Ich war fas­sungs­los, als mir das neulich in den Sinn kam, und ich glaube es immer noch nicht ganz.

Mit zehn war ich felsen­fest davon überzeugt, dass im Prinzip alles erfun­den sei. Gut, die Autos und die Fernse­her sahen etwas eck­iger aus als noch ein paar Jahre zuvor, die Astro- und die Kos­mo­naut­en wür­den sich bald weit­er ins Weltall hin­aus­trauen, und der nahe Eis­erne Vorhang dürfte tech­nisch weit­er aufgerüstet wer­den, um bis zum Sankt Nim­mer­le­in­stag gute Dien­ste zu leis­ten. Aber das alles gab es bere­its, ich kon­nte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass da noch etwas fehlte. Die Gren­zen schienen endgültig gezo­gen, auch in meinem kleinen Kopf.

Sci­ence fic­tion war nie mein Ding. In der schw­er text­lasti­gen Kinderzeitschrift Wun­der­welt fand sich neben den reich bebilderten, betulich gereimten Aben­teuern Zwerg Bum­stis, der immer­hin eine leib­haftige Maus zur Gat­tin genom­men hat­te, mit der er zufrieden in einem Pilzhaus wohnte, sog­ar ein Comic­strip. Der hat­te einen Erfind­er zum Gegen­stand. Durch Dutzende Fol­gen werk­te der gute Mann Mitte der Neun­zehnsechziger mit vie­len Rückschlä­gen an dem, was heute autonomes Fahren heißt. Ich sehe noch die Bilder vor mir: Seine Kinder hin­ten im Fahrzeug, nie­mand am Steuer. Erstens völ­lig irre­al, zweit­ens: Wozu um alles in der Welt? So dachte der Zehn­jährige.

Der Fün­fzehn­jährige besuchte mit Freude das Freifach Lit­er­aturpflege, in welchem uns ein kurz vor sein­er Pen­sion­ierung ste­hen­der Gym­nasiallehrer, der, wie ich viel später erst erfuhr, das KZ über­lebt hat­te, unter anderem mit Antikriegslit­er­atur bekan­nt­machte, auch mit Wolf­gang Borcherts Lese­buchgeschicht­en. Von Borchert und diesen Tex­ten hat­te ich noch nie etwas gehört, aber eine sein­er Kürzest­geschicht­en erst Wochen davor selb­st geschrieben, zumin­d­est was den Inhalt mit sein­er Pointe anlangte. Der Weißhaarige mit dem auf­fäl­lig roten Gesicht, von den Schülern als Glüh­birne tit­uliert, meinte auf meine schüchterne Frage, wie das möglich sein kon­nte, entspan­nt, die Idee von den bei­den ver­fein­de­ten Sol­dat­en, durch deren benach­barte Gräber sich später der­selbe Wurm frisst, ohne einen Unter­schied zu bemerken, habe Borchert nicht für sich gepachtet, sie sei einem anderen sen­si­blen Gemüt dur­chaus eben­falls zuzu­trauen. Und der Pro­fes­sor wollte meine Texte lesen und er hielt sie für gut und er überre­dete mich, einige davon im Jahres­bericht zu pub­lizieren. Und er riet mir, andere für ein Antholo­gievorhaben junger Lit­er­atur an einen Ver­lag zu schick­en, und ich wurde auch dort gedruckt, und vielle­icht ver­danke ich Glüh­birne alles, ganz sich­er aber den Mut, mich mit meinen Geschicht­en und Gedicht­en hin­auszuwa­gen aus der Schreibtis­chlade.

Ladies of the Canyon hörte ich noch nicht mit fün­fzehn, als Joni Mitchells grandios­es Album erschien. Mit Big Yel­low Taxi daraus machte mich etwas später vielmehr Bob Dylan bekan­nt, und die bit­ter-iro­nis­che Refrainzeile They paved par­adise and put up a park­ing lot dieser frühen ökol­o­gis­chen Hymne mit dem sarkastis­chen pri­vat­en Anhängsel ein­er gescheit­erten Beziehung gehörte zu den ersten nach­halti­gen Ein­drück­en, die neben der stets dräuen­den Gefahr des Atom­kriegs mein Grundge­fühl, an der Verbesserung der Welt werde trotz Viet­nam an vie­len Eck­en und Enden mit Elan gear­beit­et, ein wenig ins Wanken bracht­en. Aber, wie hieß es doch gle­ichzeit­ig aus dem Munde der Spon­tis opti­mistisch: Unter dem Pflaster liegt der Strand.

Heute ste­he ich ver­loren auf diesem unsäglichen Park­platz, der längst bis an den Hor­i­zont reicht, unter mir der glutheiße Asphalt und unter ihm das ges­tran­dete Paradies, an das ich ohne­hin nie glaubte. Von dort kam, als ich zwanzig war, ein vazieren­der Stu­dio­sus auf den Hof und um eine milde Gabe ein. Die Bäuerin, allein daheim, ließ er wis­sen, er käme von weit her, näm­lich von Paris, was ihr nichts sagte, weswe­gen sie glaubte, das ihr ver­traute Wort Paradies ver­nom­men zu haben. Vor­sichtig fragte sie nach, ob er dort zufäl­lig ihren früh ver­stor­be­nen ersten Mann getrof­fen habe. Sie musste ihn nur sehr ober­fläch­lich beschreiben, und der junge Mann war sich ganz sich­er. Dem würde es dort lei­der elend gehen, er friste sein ewiges Leben im alten Leichen­hemd, immer noch habe er es wed­er zu ein­er Hose noch zu Schuhen gebracht. Trotz der weit­en Wan­derung, die ihm bevorstünde, bevor er zurück ins Paradies käme, erk­lärte sich der Stu­dent bere­it, sich mit tadel­los­er Klei­dung voll­pack­en zu lassen und sie dem dar­ben­den Verblich­enen samt einem hüb­schen Sümm­chen Bares auszuhändi­gen. Solcher­maßen aus­ges­tat­tet, zog er von dan­nen. Beglückt erzählte die Bäuerin ihrem heimgekehrten zweit­en Mann die unglaubliche Geschichte, worauf der flugs aufs Pferd sprang und dem Kerl mit dem auf­fäl­li­gen gel­ben Hal­stuch und dem schw­eren Gepäck sporn­stre­ichs nach­jagte. Der Stu­dio­sus sah ihn schon von weit­em kom­men, ver­steck­te die Bün­del samt Hal­stuch in ein­er Dor­nen­hecke und schick­te den Bauern ins Unter­holz, wohin sich der Gesuchte mit Blasen an den Füßen und vom Gewicht des Mit­geschleppten außer Atem ver­zo­gen habe. Gerne wolle er der­weil auf das Pferd schauen. Spät erre­ichte der ins Bock­shorn gejagte Land­mann auf Schus­ters Rap­pen den heimatlichen Hof. Sein­er Frau erk­lärte er, dem Paradies­boten auch noch das beste Pferd über­lassen zu haben, damit der schneller dor­thin gelan­gen und seinen bet­te­lar­men Vorgänger beliefern könne. Sie aber solle unbe­d­ingt Stillschweigen über die Geschichte bewahren. Doch das war der Bäuerin nicht mehr möglich, hat­te sie doch bere­its das ganze Dorf unter­richtet.

Ich las Hans Sachs‘ Fast­nachtsspiel aus 1550 während meines Ger­man­is­tik­studi­ums und fand es mäßig erheit­ernd. Als Autor mit der Schlichtheit von Men­schen Sch­aber­nack treiben, das wollte sich mit meinen dama­li­gen moralis­chen Ansprüchen nicht recht vere­in­baren lassen, auch wenn das Geschehen im fer­nen sechzehn­ten Jahrhun­dert zu verorten war. Wenig­stens war 1976 hof­fentlich nie­mand mehr so gren­zen­los dumm.

Und heute? Jeden Tag lassen sich im Netz Zeitgenossin­nen und Zeitgenossen in großen Stück­zahlen nicht nur mit den hirn­ris­sig­sten Ver­schwörungs­the­o­rien ansteck­en, son­dern auch auf die aber­witzig­ste Weise abzock­en. Und das ganze glob­ale Dorf wei­det sich an ein­schlägi­gen Bericht­en, nicht sel­ten von den exhi­bi­tion­is­tis­chen Opfern selb­st online gestellt, die zwar die dig­i­tal­en Seg­nun­gen des Binär­codes vir­tu­os anzuwen­den wis­sen, aber eins und eins nicht zusam­men­zählen kön­nen. Der uralte, ver­staubte Hans Sachs hat sich also gegen alle Wahrschein­lichkeit zum Propheten gemausert, zum hochak­tuellen Kom­men­ta­tor ein­er gesellschaftlichen Dynamik, die unter anderem hun­dert­tausende anspruchs­freie Kids dröge Influ­encerin­nen anbeten lässt und selb­ständi­ges Denken de fac­to aus dem Bil­dungskanon eli­m­iniert.

Dem Zwanzigjähri­gen wäre solch ein Blick in die Zukun­ft genau­so unwirk­lich vorgekom­men wie dem Fün­fundzwanzigjähri­gen im ersten Moment die bit­tere Erfahrung der dama­li­gen Gegen­wart, dass ihn die geliebte Frau mir nichts dir nichts ver­lässt, unwirk­lich vorgekom­men ist. Doch schon mit dreißig hat­te ich ganz plöt­zlich zwei großar­tige Kinder im Haus, eines davon als ele­mentar­er Bestandteil des Dop­pel­packs, dessen ander­er Teil mein Lebens­men­sch gewor­den ist, mein Kraft­spender, und ich der ihre.

Als ich dann fün­fund­dreißig war, raunte man mir von aller­lei Seit­en das Wort vom Ende der Geschichte zu. Mit der uner­warteten Implo­sion des real existieren­den Sozial­is­mus in Europa würde das Paradies aus­brechen. Schon wieder das Paradies. Ich war mir gle­ich sich­er, das gelte einzig und allein für den Raubtierkap­i­tal­is­mus, der die Asphaltierungsar­beit­en des Park­platzes ab sofort mas­siv beschle­u­ni­gen würde, und sollte wenig über­raschend Recht behal­ten. Inzwis­chen war ich mir auch längst bewusst gewor­den, dass doch noch nicht alles erfun­den war. Mit fün­fund­dreißig leis­tete ich mir den ersten PC, schleppte die Kugelkopf­schreib­mas­chine in den Keller, lediglich ein­er ihrer Köpfe durfte es sich auf dem Schreibtisch unter dem Bild­schirm zum Andenken bequem machen.

Ach ja, natür­lich, ich schrieb. Schrieb, seit ich sieben war. Vor­erst immer noch neben dem anstren­gen­den Brot­beruf als Lehrer, aber mit vierzig war mir klar, jet­zt war es höch­ste Zeit umzusat­teln, wenn ich denn noch das eine oder andere Buch vor­legen wollte, das ich mir nicht neben allem anderen müh­selig abgerun­gen, son­dern mit voller Konzen­tra­tion und aufwendi­ger Recherche zu Papi­er gebracht haben würde.

Ich nahm Verbindung mit unter­schiedlichen Ver­gan­gen­heit­en auf und fand bestätigt, was ich schon eine Zeit­lang ver­mutet hat­te: So ver­gan­gen war das alles nicht, dass sich keine tragfähi­gen Brück­en dahin schla­gen ließen. Heute würde ich unter anderem auch den Kol­le­gen Hans Sachs dafür in den Zeu­gen­stand bit­ten. Die Ver­gan­genen, sog­ar die Vergesse­nen hin­ter­ließen oft erstaunliche Spuren, und ich bildete mir ein, für mich waren sie sog­ar manch­mal bere­it, wieder lebendig zu wer­den.

Fün­fund­vierzig, Mitte des Lebens, wenn’s gut geht. Für meinen Vater war dieses Alter schon fast der End­punkt gewe­sen. Jet­zt war ich haupt­beru­flich Schrift­steller, jedes neue Buch verkaufte sich vor­läu­fig entsch­ieden bess­er als das vorherige. Ich hat­te mich im frühen neun­zehn­ten Jahrhun­dert umge­tan und in der Zeit­geschichte bis unmit­tel­bar vor mein­er Geburt. Jet­zt, da ich Vaters kurze Lebenss­panne bald hin­ter mir lassen würde, wollte ich jene ersten fün­fzehn Jahre meines eige­nen Lebens, an denen ich lange zu kiefeln hat­te, in einem Roman besichti­gen und wählte trotz des Umstands, dass er nur die ersten sechs davon da gewe­sen war, den Vater als Ansprech­part­ner dafür. Und siehe da, was beim jüng­sten Sohn Mozarts funk­tion­ierte und bei den Struk­turen der Bar­barei im NS-Staat, gelang auch auf der pri­vat­en Ebene. Der Vater ließ sich tat­säch­lich überre­den, wir durch­streiften gemein­sam wieder die Spazier­wege mein­er frühen Kind­heit, die ich in Teilen sog­ar umschreiben musste, denn manch­es ver­hielt sich in Wirk­lichkeit ganz anders, als er und die Mut­ter mir zu ihren Lebzeit­en weis­gemacht hat­ten. Zornig machte mich das gar nicht, es war ja alles so lange her und gle­ichzeit­ig so gegen­wär­tig, dass ich stattdessen bloß ins Staunen geri­et.

Mit dem Älter­w­er­den wur­den in mir also nicht nur die Lin­ear­ität und Ein­deutigkeit chro­nol­o­gis­ch­er Abläufe ordentlich durchgerüt­telt. Auch einiges von dem, was ich als meine per­sön­liche Geschichte gespe­ichert hat­te, wurde in seinen Grund­festen erschüt­tert. Außer­dem lagen, als ich fün­fund­vierzig war, die Eltern und die Schwiegerel­tern bere­its vol­lzäh­lig auf dem Fried­hof, meine Frau und ich fan­den uns allzu früh an die Spitze der famil­iären Alter­spyra­mide gestellt. Manch­mal hat­te ich das Gefühl, dieser Umstand machte uns ein wenig älter, als wir waren.
Mein Ver­trauen in einen steten gesellschaftlichen Wan­del zum Besseren hin war gründlich aus­ge­höhlt, und doch began­nen für mich – auch jenen grim­mi­gen mor­gen­ländis­chen Män­nern zum Trotz, die soeben eine prak­tis­che Abkürzung ins jungfrauengesät­tigte Paradies ihrer Ein­bil­dung über bis­lang geheime Eingänge in den New York­er Twin Tow­ers und im Pen­ta­gon fan­den – nun die bei­den sta­bil­sten Dezen­nien, Voraus­set­zung für kon­tinuier­liche Arbeit mit reich­lich Ertrag auf einem Fun­da­ment per­sön­lichen Glücks. Glück: ein Wort, das ich immer noch nicht leicht über die Lip­pen bringe.

Der Fün­fzigjährige schlug einem Dutzend Men­schen, die ihm viel bedeuteten oder zumin­d­est ein­mal bedeutet hat­ten, vor, ihn je eine Etappe ein­er anspruchsvollen Weit­wan­derung zu begleit­en. Täglich um etwa achtzehn Uhr fand der Wech­sel statt. Ich wollte es nach einigem Zögern riskieren, auch aus den Augen ver­lorene ehe­mals eng ver­traute Frauen und Män­ner einzu­laden. Sie kamen alle und bescherten mir zwei Wochen höch­ster Inten­sität. Nicht alle blieben sei­ther in meinem Leben, denn zwei oder drei gehörten, wie sich her­ausstellte, tat­säch­lich unwider­ru­flich mein­er Ver­gan­gen­heit an. Doch auch das stimmt nur bis zu einem gewis­sen Grad, denn schließlich bin ich das noch höchst gegen­wär­tige Resul­tat ein­er kom­plex­en Sozial­i­sa­tion, an der ger­ade auch sie entschei­den­den Anteil hat­ten.

Mit fün­fund­fün­fzig kon­nte ich einem sehr neuen, gle­ichzeit­ig sehr alten Fre­und die deutschsprachige Aus­gabe sein­er Auto­bi­ogra­phie zum Geschenk machen, die meine Tochter – war sie nicht ger­ade erst auf die Welt gekom­men? – mit mir über­set­zt hat­te. Darin beschrieb er auch seine schein­bar aller­let­zte Bestei­gung eines öster­re­ichis­chen Gipfels mit dem Vater kurz vor dem Ein­marsch Hitlers, der ihm jüdis­ches Blut nicht nur nachge­sagt, son­dern es auch liebend gern ver­gossen hätte. Jet­zt lebte der im let­zten Moment Entkommene als ange­se­hen­er Geri­ater in Kana­da, wo er mich nach ein­er Lesung in Ottawa ange­sprochen hat­te, als ich dort aus einem gle­ichzeit­ig auf Franzö­sisch und Englisch erschiene­nen Roman von mir las. Eine uner­wartete let­zte inten­sive Beziehung zu einem trotz seines Schick­sals lebens­fro­hen Men­schen mein­er Eltern­gener­a­tion ergab sich aus dieser Begeg­nung, und ich ermunterte den Fün­fun­dachtzigjähri­gen erfol­gre­ich, mit mir nach fast siebzig Jahren doch wieder auf einen ordentlichen öster­re­ichis­chen Berg zu steigen. Mit län­geren Rast­pausen gelang es, und es bedeutete ihm viel. Sag niemals nie, wusste schon James Bond.

Über­haupt die Natur, das Gehen, ein Leben lang uner­set­zliche Begleitung des Schreibens. In meinem sechzig­sten Leben­s­jahr versper­rten meine Frau und ich die Haustür und marschierten zu Fuß vom oberöster­re­ichis­chen Innvier­tel schnurstracks nach Süden über alle Berge, die sich in den Weg stell­ten, ans Meer nach Mon­fal­cone. Die Welt war weit, und unsere Füße tru­gen. Endor­phine ohne Ende. Dem Fün­fzehn­jähri­gen dage­gen waren schon die fün­fzehn Kilo­me­ter bergauf durch den Hasel­graben unendlich weit erschienen, als er sie sich das erste Mal vor­nahm.

Und jet­zt das Pen­sion­salter der anderen. Wahrschein­lich wäre es mir weit weniger bewusst gewor­den ohne die anderen, gewichtigeren gle­ichzeit­i­gen Zäsuren in meinem Leben: Hän­de­waschen, Abstand hal­ten, Maske. Vor­sicht allen­thal­ben. Wann kommt die Imp­fung? Langes Ban­gen wegen der mit Covid aus­ge­broch­enen lebens­bedrohlichen Kreb­serkrankung mein­er Frau aus heit­erem Him­mel, die sie mit der ihr eige­nen Diszi­plin und Fokussierung inzwis­chen doch über­winden kon­nte. So ähn­lich ging es mir schon ein­mal mit fünf, als der Vater zuse­hends ver­fiel. Zum ersten Mal, seit ich denken kann, Monate ohne eine Zeile Textpro­duk­tion, voll­ständi­ger Rück­zug wegen Coro­na und der hohen Vul­ner­a­bil­ität mein­er Pati­entin, Einkauf durch junge Nach­barn. Pfleger mit fün­fund­sechzig.

Ich schreibe inzwis­chen wieder, Kürz­eres und Langes. Dieser Tage erre­ichte mich die Anfrage eines bedeu­ten­den Muse­ums, ob ich eines der grauen Schul­hefte, die ich zwis­chen sieben und neun mit meinen selb­st ver­fassten Roma­nen und Gedicht­en befüllte, für eine Ausstel­lung zur Ver­fü­gung stellen und gle­ich auch ein­er dig­i­tal­en Fak­sim­i­lierung zus­tim­men würde, damit das Pub­likum darin blät­tern könne. Ich holte Hen­ry, der Loko­mo­tivführer her­vor und blät­terte selb­st darin. Das erste Kapi­tel Ein komis­ch­er Gast begin­nt mit den Worten: Man schrieb das Jahr 1873. Irgend­wo im West­en ertönte der schrille Pfiff ein­er Loko­mo­tive und gle­ich darauf ein Zis­chen. Ein Jahr früher, 1872, wurde mein Groß­vater geboren.

In diesem Som­mer traf mein zweites Enkelkind ein, und meine Frau zer­schnei­det oben in ihrem Ate­lier alte Lein­wände von Bildern, die ihr nicht so gelan­gen, wie sie hoffte. Noch hat sie nicht ganz die Kraft, wieder zu malen, wie ihr kräftiger Strich es ver­langt. Stattdessen verblüfft sie mich mit ihrem neuen Pro­jekt: Etliche Frag­mente der zer­störten, an die Unge­gen­ständlichkeit streifend­en Groß­for­mate sind mit einem Mal per­fekt gelun­gene kleine Gemälde, wir betra­cht­en die Details und sehen anderes in ihnen als vorher.

Soll­ten auch Sie bere­its über eine erkleck­liche Zahl an Jahres­rin­gen ver­fü­gen, ken­nen Sie das sicher­lich: Dimen­sio­nen verän­dern sich, Zeit­ebe­nen schieben sich ineinan­der, manch ein biographis­ch­er Stein hat es satt, auf dem anderen zu bleiben. Man macht sich neue Bilder von alten. Und man staunt.