Riesenkrokodile

Von

Die Wahrheit des Auto­bi­ographis­chen liegt im radikal sub­jek­tiv­en Blick. Ich habe immer schon zur Übertrei­bung geneigt. Als Kind waren alle Häuser, Wiesen, Berge, Strände und Bäume größer als sie es heute sind.

Am größten war das Krokodil in Mey­ers Lexikon meines Vaters aus dem Jahr 1929. Das schlamm­far­bene Tier schnellte aus einem sump­fi­gen Tüm­pel, ragte mit weit geöffnetem Maul fast senkrecht aus dem Wass­er, um ein am Ufer spie­len­des Kind zu schnap­pen. Unter dem Foto stand, dass Krokodile ihre Beute unter Wass­er zer­ren und sie ertränken, bevor sie die Beute in mundgerechte Por­tio­nen reißen und ver­schluck­en. Das Kind war ich. Mon­ster lauerten über­all.

Später hat mir mein Schwa­ger, der in Südafri­ka geboren und in Indi­en aufgewach­sen ist, erzählt, dass seine erste Ver­lobte im Indis­chen Ozean neben ihm schwim­mend von einem Riesenkrokodil gefressen wor­den ist. (Oder war es ein weißer Hai?) Die Geschichte kostete mich weit­ere schlaflose Nächte.

Viel später war ich lange Zeit in meinem Fre­un­deskreis berüchtigt für meine Geschichte über Sieben-Meter-Krokodile, die sowohl im Süßwass­er als auch ins Meer schwim­men und auf ein­er kleinen Insel im süd­chi­ne­sis­chen Meer, auf der sich zwanzig japanis­che Sol­dat­en nach dem Ende des Zweit­en Weltkrieges infolge eines durch Kriegshand­lun­gen gesunke­nen Schiffes ver­schanzt hat­ten, diese Sol­dat­en alle­samt aufge­fressen hat­ten. „Die Schrein­er und ihre Sieben-Meter-Krokodile“ hieß es, „die zu ein­er Insel mit­ten im Meer schwim­men und dort zwanzig Japan­er ver­putzen“. Wie kam ich zu der Geschichte und warum glaubte mir nie­mand?

Möglicher­weise lag es an der falschen Verteilung von Über- und Untertrei­bung in mein­er Geschichte. Die Übertrei­bung betraf die Sieben-Meter-Krokodile. Die größten Krokodile weltweit sind derzeit die Leis­tenkrokodile, die höch­stens sechs-Meter–und-ein-bisschen groß wer­den. Ein Leis­tenkrokodil, das übri­gens sowohl in Süß- als auch in Salzwass­er schwimmt und das am weitesten ver­bre­it­ete Krokodil ist, das auch schon öfter tausend Seemeilen vom Land ent­fer­nt gesichtet wurde, ist sehr groß. Fürchter­lich groß in mein­er Vorstel­lung. Nehme ich jet­zt die durch­schnit­tliche Größe eines Leis­tenkrokodils – die Weibchen sind wesentlich klein­er, etwa 3 bis 3,5 Meter, die Män­nchen durch­schnit­tlich etwa 4,5 Meter, dann stellt sich der Zuhör­er mein­er Geschichte ein Krokodil von etwa, sagen wir, vier Meter Länge vor. Lächer­lich kleine, vier Meter große Krokodile deck­en sich aber nicht mit mein­er Vorstel­lung von riesi­gen Krokodilen. Um den Zuhör­er an meine Vorstel­lung von unbeschreib­lich großen Krokodilen her­anzuführen, gebe ich eine Länge von sieben Metern an, die er ohne­hin, wie meine Erfahrung mit der Geschichte gezeigt hat („Die Schrein­er und ihre Sieben-Meter-Krokodile“), nicht glaubt, son­dern von der er im vorn­here­in etwa zwei Meter abzieht, woraufhin er auf ein Leis­tenkrokodil von fünf Meter Länge kommt, was, wenn ich mein Arbeit­sz­im­mer von fünf Meter Länge zum Ver­gle­ich hernehme, mein­er Vorstel­lung von dem unge­heuer großen Krokodil aus Mey­ers Lexikon sehr nahe kommt. Und damit dem Schreck­en, den dieses Mon­ster mir damals ein­flößte.

Die Untertrei­bung lag bei den zwanzig japanis­chen Sol­dat­en auf ein­er kleinen Insel, die von Krokodilen gefressen wur­den. Ich hat­te gele­sen, dass 1945 tausend japanis­che Sol­dat­en im Rah­men des Paz­i­fikkrieges auf der Insel Ram­ree vor der Süd­küste Bur­mas (heute Myan­mars) einen Kapit­u­la­tionsvorschlag der englisch-indis­chen Kampf­grup­pen, die die Insel beset­zten, abgelehnt hat­ten und nachts aus der feindlichen Umzin­gelung aus­ge­brochen und quer durch Man­groven­sümpfe zum offe­nen Meer hin geflo­hen sind. Leis­tenkrokodile, die in den Sümpfen stark ver­bre­it­et waren, haben alle japanis­chen Sol­dat­en bis auf zwanzig aufge­fressen. Was mich nicht weit­er wun­derte, weil Krokodile bis zu einem Jahr ohne Nahrung auskom­men. Wenn sie nun in anson­sten nahrungsar­men Man­groven­sümpfen plöt­zlich tausend Sol­dat­en serviert bekom­men, wer­den sie, dachte ich, ordentlich zuschla­gen. Manche sagen, dass es sich um einen mod­er­nen Mythos han­delt. Aber Mythos hin oder her, kein Men­sch hätte mir die Geschichte von den neun­hun­der­tachtzig von Krokodilen gefresse­nen japanis­chen Sol­dat­en geglaubt, nach­dem man mir ja nicht ein­mal sieben Meter große Krokodile glaubte. Also reduzierte ich instink­tiv die tausend Sol­dat­en auf die zwanzig, die damals – ange­blich – über­lebt hat­ten, und ließ aus Rache, dass ich aus Grün­den der Glaub­haftigkeit hat­te untertreiben müssen, die zwanzig Über­leben­den in mein­er Erzäh­lung auch noch auf­fressen.

Die Geschichte von den sieben Meter großen Krokodilen und den zwanzig von ebendiesen gefresse­nen japanis­chen Sol­dat­en ver­tiefte sich noch durch Umstände in meinem Leben.

Ich habe drei Jahre in Japan gelebt. In der englis­chsprachi­gen Aus­gabe der japanis­chen Zeitung Asahi Shim­bun las ich von dem let­zten japanis­chen Sol­dat­en, der 1974 nach Japan zurück­gekom­men ist. Er hat­te sich 1945 geweigert, die Kapit­u­la­tion Japans im Paz­i­fikkrieg anzuerken­nen, und im philip­pinis­chen Dschun­gel fast dreißig Jahre lang einen pri­vat­en Gueril­lakrieg geführt. Erst nach­dem man seinen ehe­ma­li­gen Vorge­set­zten im hohen Alter von sech­sun­dachtzig Jahren aus­find­ig machen und, bek­lei­det mit der ehe­ma­li­gen Uni­form, vor Ort schaf­fen kon­nte, wo er per­sön­lich den Befehl zur Kapit­u­la­tion aussprach, gab der Mann auf. Jemand, der fast dreißig Jahre lang im Urwald under­cov­er lebt, hätte genau­so gut auf ein­er kleinen Insel vor Myan­mar lan­den und dort von sieben Meter großen Krokodilen gefressen wer­den kön­nen.

Das größte Krokodil auf der Croc­o­dile farm in Thai­land war 6,13 Meter. Alle anderen Krokodile waren wesentlich klein­er. Die meis­ten der dort gezüchteten Tiere waren zwis­chen zehn Zen­time­ter und drei Meter groß und har­rten reg­los in der Hitze ihrer Ver­ar­beitung zu Krokodilled­er­taschen ent­ge­gen, die in der Verkauf­shalle der Farm ange­boten wur­den. 6,13 Meter Länge ist der Beweis, dass auch sieben Meter Länge möglich wären.

In der Asahi Shim­bun las ich auch, dass es im süd­chi­ne­sis­chen Meer vor riesi­gen Krokodilen nur so wim­melte. (Oder waren es Haie?)

Während ein­er stür­mis­chen Schiff­süber­fahrt auf den Philip­pinen von Mani­la nach Zam­boan­ga, als ich im süd­chi­ne­sis­chen Meer auf einem ver­rosteten Trans­ports­chiff in einen Sturm geri­et und in der einzi­gen Kabine des Schiffes aus dem Bett und in der Kabine hin- und hergeschleud­ert wurde, sind mir die zwanzig schiff­brüchi­gen Sol­dat­en, die auf eine Insel flüchteten und dort von Krokodilen gefressen wer­den, plöt­zlich ganz deut­lich vor Augen ges­tanden. Meine Angst während der Über­fahrt hat sie mir einges­tanzt. Bis heute. Die sieben Meter großen Krokodile und die zwanzig von ihnen gefresse­nen japanis­chen Sol­dat­en gehören zu mein­er ganz per­sön­lichen Erin­nerung.

Ich kann heute, als sehr Erwach­sene mit siebe­nund­sechzig Jahren die Geschichte von den Sieben–Meter–Krokodilen und den zwanzig schiff­brüchi­gen Sol­dat­en, die auf ein­er kleinen Insel ratzekahl von diesen aufge­fressen wur­den, nicht mehr so erzählen, wie sie in mein­er Erin­nerung für immer als wahr gespe­ichert ist. Aber ich kann, wie ich ger­ade ver­sucht habe zu zeigen, erzählen, wie es zu dieser Erin­nerung kam. Das ist für mich das Wun­der der auto­bi­ographis­chen Lit­er­atur, die den Blick des Kindes, den unschuldigen Blick, mit dem des a pri­ori schuldigen Erwach­se­nen verbindet. Die Wahrheit des Auto­bi­ographis­chen liegt im radikal sub­jek­tiv­en Blick.

Jet­zt, nach­dem ich die Geschichte der japanis­chen Sol­dat­en, die von sieben Meter großen Krokodilen gefressen wur­den, erzählt habe und auch, wie sie ent­standen ist und wie sie sich verän­dert hat, ist sie nicht ein­mal mehr sym­bol­isch wahr. Es ist die Geschichte ein­er notorischen Lügner­in, eines alt gewor­de­nen Kindes, dem nie­mand zuhört, wenn es nicht übertreibt. Das ist wahr.