Patres und Fratres

Von

Im Jahr 2001 ver­brachte Mar­tin Aman­shauser als Stadtschreiber zwei Monate bei Tirol­er Mönchen. Die Aufze­ich­nun­gen aus dem Refek­to­ri­um waren über zwanzig Jahre unter Ver­schluss.

An der Pforte des Tirol­er Franziskan­erk­losters befind­en sich zwei Glock­en und zwei Schilder: „1. Glocke, hier läuten“ und „2. Glocke. Hier nur läuten, wenn sich Pfört­ner nach dem Läuten der 1. Glocke nicht meldet.“ Ein klein­er Brud­er mit grauem Haar öffnet. Ich folge seinem schlur­fend­en Gang. Er führt mich durch ver­wirrende Flure zu einem dick­en Mönch, Frater Kil­ian, der mich in Emp­fang nimmt und mir mein Zim­mer zeigt: Ich bin Stadtschreiber und wohne mit den Mönchen.

15 m2, Duschk­abine in einem tür­losen Bad, Klo am Gang. Ein Schreibtisch mit grün­er Lampe. Tele­fon. Eiskas­ten. Wäschekas­ten. Plas­tik­bo­den. Blick auf die andere Seite des Inntals. Ein Nachtkästchen mit rot­er Lampe, äußerst ungün­stig zum Lesen. Nur wenn man sie „umwirft“, also flach hin­legt, kriegt man einen Strahl zusam­men. Ich werde zwei Monate mit ein­er liegen­den Lampe zusam­men­leben. Schal­tet man am Abend die Beleuch­tung aus, bleibt ein von der Straßen­beleuch­tung erzeugtes orange­nes Licht­ge­bilde an der Decke. Das Fen­sterkreuz spiegelt sich im Schein ein­er Straßen­lampe, so entste­ht der Ein­druck eines Gefäng­n­is­fen­sters. Im Hin­ter­grund, vielle­icht vom Dachbo­den, das Geschrei von Eulen.

Das Essen im Saal, dem Refek­to­ri­um, mit zehn Mönchen. Platz wäre für 150. Der Guardian (Chef) sagt: „Kön­nen Sie sich kurz vorstellen?“ Ich: „Ich bin 1968 in Salzburg geboren ...“ Guardian: „Des isch guat.“ Ich: „... und ich lebe in Wien ...“ Guardian: „... weniger guat.“ Er lacht schal­lend. Langes Essens­ge­bet. Ich bete nicht mit – bin unge­tauft, kann das gar nicht. Ich schaue ihnen beim Beten in die Augen. Der Mönch gegenüber schaut zurück.

Beim Früh­stück habe ich mein Notizbuch dabei. „Sie sind der erste Stadtschreiber mit Notizbuch“, sagt Frater Clau­dio, ein­er der jun­gen Brüder. Klingt wie ein Kom­pli­ment. Ich erk­läre ihm, dass ich mir Träume auf­schreibe, dass beim Trau­mauf­schreiben Ehrlichkeit wichtig sei. „Sehen Sie, drum mach ich sowas nicht“, sagt Clau­dio, „bei mir würd da ein Pent­house rauskom­men.“

Pater Petrus zeigt mir einen kopierten Zettel: „Das ist der Text der Gebete – zum Mit­beten. Man lernt es schnell auswendig.“ Ich schweige. Ich muss ihm irgend­wann meine Bet-Weigerung deut­lich mit­teilen.

Nach dem Aben­dessen wer­den die Namen von Mit­brüdern ver­lesen, die am betr­e­f­fend­en Tag gestor­ben sind, ab dem 16. Jahrhun­dert. Es sind meist 5 bis 10 Namen. „Ein san­fter und ruhiger Mit­brud­er, ein hil­fs­bere­it­er Men­sch, ein aus­geze­ich­neter Koch.“ Danach die Formel: „Diese und alle nicht genan­nten Mit­brüder und die See­len aller ver­stor­be­nen Wohltäter und Ver­wandten sollen ruhen in Frieden.“

Zwei der Mönche, die zufäl­lig leib­liche Brüder sind, wohnen nicht im Kloster, son­dern in einem Pflege­heim. Sie sind über neun­zig. Bei einem dieser Brüder über­legen die Ärzte, ob sie ihm den Fuß abnehmen sollen. Über dieses The­ma wird beim Essen viel gesprochen: Ob sie dem jet­zt den Fuß amputieren, ob nicht.

Das Tis­chge­bet begin­nt 30 Sekun­den vor dem Essen. Mein Weg ins Refek­to­ri­um dauert ca. 40 Sekun­den. Daher ist es nötig, 80 Sekun­den vor 12.15 bzw. 18.30 das Zim­mer zu ver­lassen. Ich spüre auch eine andere Zeitver­schiebung. Ich frage mich, wie spät es jet­zt in Wien ist.

Essen­sritu­al: Zunächst das lange Gebet mit der gebenedeit­en Frucht des Leibes (Vor­beter und Chor), gegen Schluss das Vaterunser. Nach dem Amen wün­scht der erste Vor­beter: „An guatn Appetit!“ Frater Franz fährt die Suppe auf einem Wagerl her­an. Jed­er packt Besteck und Servi­ette aus einem mit seinem Namen verse­henen Plas­tike­tui („Fr. Fridolin“, oder „P. Christoph“, auf meinem ste­ht: „Stadtschreiber“). Most und Apfel­saft, son­ntags Rotwein. Nach der Suppe fährt Frater Franz den Sup­pen­topf weg und holt neue Schüs­seln: Fleisch, Reis, Salate. Sie gehen durch die Runde. Zum Abschluss serviert er zwei mit heißem Wass­er und Geschirrspülmit­tel gefüllte Bierkrüge, zum Abwaschen. Jed­er Pater/Frater trock­net sein Besteck mit einem Tuch, rollt es in die Servi­ette und ver­staut es im Etui. Schlussge­bet, Dank für das Essen: „Deo gra­tias“. Frater Oliv­er set­zt meist noch formel­haft hinzu: „Wün­schen, wohl gespeist zu haben“, was mir gefällt. Nach­dem sich die Patres und Fratres bei Gott bedankt haben, bedanke ich mich bei ihnen.

Ich über­legte, ob passieren kann, dass sich ein­er ver­betet. Ich kam zu dem Schluss, das sei unmöglich. Heute passierte es: Pater Petrus ver­betete sich! Frater Fridolin wäre dran gewe­sen, Petrus kam ihm verse­hentlich zuvor und entschuldigte sich: „Ah, du bis­cht dran.“ Es war nicht Pater Petrus bester Tag. Nach seinem Ver­sprech­er schüt­tete er noch den Most beim Ein­schenken daneben, und dann hätte er fast den Schnit­t­lauch (für die Suppe) in sein Trink­glas gestreut.

Bei einem Gespräch mit Pater Petrus stelle ich klar, dass ich nicht Mit­beten werde. Petrus reagiert fre­undlich, man könne ja nie­man­den zum Mit­beten „ver­gat­tern“. Das Wort „ver­gat­tern“ kommt häu­fig vor, eben­so wie das Wort „zukehren“ (= vor­beis­chauen). Unun­ter­brochen kehren die Patres und Fratres irgend­wo zu.

Pater Petrus spricht über das Ver­beten: Jede Woche wird eine Betord­nung fest­gelegt. In jen­em Moment habe er einen Teil des Gebets zu sprechen begonnen, der erst zu einem späteren Zeit­punkt gekom­men wäre. Beim Beten komme es manch­mal zu unwillkür­lichen Ver­be­tun­gen, im Prinzip müsse, laut Petrus, „drin sein, dass ein­mal ein Mit­brud­er unter dem Beten in unbändi­ges Lachen aus­bricht – auch das gibts.“

Petrus erzählt von der einst stark hier­ar­chis­chen Ord­nung im Kloster, als der Unter­schied zwis­chen einem studierten Pater und einem Frater als der­ar­tig groß emp­fun­den wurde, dass sie an getren­nten Tis­chen mit einem Leer­tisch dazwis­chen saßen. Für einen The­olo­giepro­fes­sor sei es damals über­haupt unvorstell­bar gewe­sen, mit einem Gärt­ner oder Koch zu reden. Allerd­ings sei diese Tren­nung gegen den franziskanis­chen Gedanken, der Gle­ich­heit der Brüder untere­inan­der vorschreibe. Viele jün­gere Patres wollen als „Brud­er“ ange­sprochen wer­den, nicht als Pater. Früher ließen sich die Patres von den Fratres bedi­enen, vom Holz aufs Zim­mer Brin­gen bis zum Schuh­putzen. Bis heute seien die Unter­schiede zu spüren. Das sei auch die Schuld von ihm und den anderen Patres, die sich manch­mal aus Unaufmerk­samkeit oder Faul­heit bedi­enen lassen.

Was mir vage bewusst war, wird nun klar: Die anderen mobben Frater Franz. Das ist der Pfört­ner, ein klein­er, servil­er, etwas ungeschick­ter Mönch mit grauweißer Bea­t­les-Frisur.
Szene1: Frater Franz: „Man soll sich jet­zt gegen Grippe impfen lassen, Influen­za heißt die Imp­fung.“ Pater Christoph, halb lächel­nd: „Also soll man sich jet­zt gegen Grippe oder gegen Influen­za impfen lassen, kennscht du da an Unter­schied?“ Frater Franz: „Bei der Apotheke ste­ht Influen­za.“ Pater Christoph: „Also i lass mi nur gegen was Deutsches impfen, net gegen was Lateinis­ches, was sagst du, Franz?“.
Szene 2: Franz teilt Pud­dinge aus, Pater Christoph bekommt keinen hingestellt. Pater Christoph: „Und ich?“ Franz: „I hab ma denkt, du willst nie...?“ Er läuft mit einem Pud­ding zu Christoph. Pater Christoph lehnt den Pud­ding mit ein­er ungeduldigen Hand­be­we­gung ab: „Will i eh keinen. Aber gfragt möcht i wer­den.“
Szene 3: Franz serviert die Teller und Gläs­er ab. Vor Frater Lukas ste­ht ein voller Pud­ding, den dieser nicht berührt hat. Franz nimmt ihn. Lukas: „Jet­zt lassn halt da ste­hen!“ Franz: „Entschuldige, ich hab gedacht ...“ Lukas zis­cht, fast mit geschlossen­em Mund: „Lassn stehn, Herrschaft­seitn!“

Gestern Abend störte mich der Jesus über meinem Bett, ein Holzkreuz mit „INRI“, darunter die lack­ierte Holz­fig­ur, Nägel durch Hände und Füße, ver­wis­cht­es Blut. Unter seinen Füßen ein Totenkopf, statt ein­er Kinnlade ein län­ger­er Knochen. Als Ungläu­biger benötigt man beträchtliche Tol­er­anz für diese blutrün­stige Lei­den­sre­li­gion.

Ein­er der Brüder aus dem Alter­sheim, Pater Anselm, starb vorige Nacht, 94-jährig. Er ist der leib­liche Brud­er von jen­em Pater Placidus, dem let­zte Woche ein Fuß abgenom­men wurde. Nach dem Essen wird ein mehrstim­miger Gesang anges­timmt. Trau­riges Lied.

Frater Franz wurde von Pater Petrus zurecht­gewiesen („Schlaf­st jet­zt ein im Ste­hen?“), heute wird Franz von den anderen rüde ange­fasst.
Ein Kind habe län­gere Zeit an der Pforte gewartet, habe sich nicht getraut zu läuten, sei wieder gegan­gen.
„Das ist schon gut, wenn sie ler­nen, dass ein Pfört­ner nicht immer bei der Pforte sitzt, son­dern auch woan­ders im Haus zu arbeit­en hat“, sagt Frater Franz.
Pater Christoph mit tirol­er „R“: „Der Pfört­ner arbeit­et nicht an der Pforte? Das ist ja, wie wenn der Gärt­ner nicht im Garten arbeit­et!“
Alle lachen, der Guardian wiehernd.
Frater Franz ist halb­wegs schlagfer­tig: „Horch, Christoph, jet­zt lacht dich der Guardian aus.“

Beim Aben­dessen kommt die große Stunde von Frater Franz. Ein zivil­er Gast isst mit, Zvon­imir aus Kroa­t­ien, dessen Brud­er offen­sichtlich Franziskan­er ist. Schwierige Ver­ständi­gung, schlecht­es Englisch, kein Deutsch. Frater Franz bemerkt, dass er Slowenisch spricht, weil er in einem zweis­prachi­gen Gebi­et aufwuchs. Als einziger kann er sich mit Zvon­imir ver­ständi­gen.

Begräb­nis Pater Anselms, die erste kom­plette Messe meines Lebens. Pater Petrus hält die Ein­führung und führt die Messe. „Er war ein beschei­den­er, selb­st­los­er Mit­brud­er, dessen fröh­liche, humor­volle Art ihn liebenswert machte.“ Der erste Satz in der darauf fol­gen­den Rede des Guardians geht schief, er beze­ich­net Anselm als „Ans­gar“, verbessert sich. Ich kriege beim Guardian das Gefühl der fehlen­den Authen­tiz­ität nicht los. Mit seinem blech­er­nen Lachen und sein­er Umgänglichkeit hat er etwas Amerikanis­ches, Schaus­pielerisches. Pater Petrus kön­nte die Num­mer 1 glaub­hafter repräsen­tieren, allein sein Gesicht ist mön­chis­ch­er – während der Guardian einem Schilehrer ähnelt.
Erst­mals sitzen Frauen im Refek­to­ri­um. Es gibt Nudel­suppe, zwei Sorten von Würstchen, Bier in Flaschen. Patres aus anderen Klöstern sitzen unter uns. Es herrscht Fest­stim­mung, oder, wie Pater Petrus in der Ein­leitung meinte: Der Tod eines Priesters sei immer auch ein fröh­lich­es Ereig­nis.

Zum ersten Mal bin ich zum Essen knapp zu spät gekom­men; selt­samer­weise began­nen die Brüder heute dreißig Sekun­den früher als üblich mit dem Gebet. Werde kün­ftig nicht mehr so knapp kalkulieren.

Pater Petrus lässt zu Mit­tag einen bemerkenswerten Satz fall­en: „Der Men­sch ist der furcht­barste Irrtum der Schöp­fung.“ Lässt man die Möglichkeit bei­seite, dass Petrus es iro­nisch gemeint hat, dann sagt er hier etwas, was im Wider­spruch zu jed­er christlichen Auf­fas­sung ste­ht.
Petrus über Marien­bild­nisse: Eine Maria ohne Kind würde „irgend­wie nack­ert“ ausse­hen; eine Maria mit gefal­teten Hän­den gin­ge ja noch. Aber wenn die ein­fach nur dasitzt, „schaut das nix gle­ich.“ Inter­es­sant die männliche Per­spek­tive auf die Flag­ship-Frau dieser Reli­gion. Eine Maria ohne Kind und ohne Hän­de­fal­ten wäre entre­li­giosiert und auf ihre weib­lichen Eigen­schaften zurück­ge­wor­fen. Das erregt ästhetis­chen und prak­tis­chen Unmut.

Fre­itags servieren sie dies­mal Fis­chlaibchen. „Des isch der erschte Fis­chmäc, den ma hier im Kloster essen“, sagt Pater Christoph. Ein Trubel entste­ht, alle sprechen durcheinan­der. Es geht nicht nur um Fisch. „Wenn die Elis­a­beth nicht so schöne Beine hätt“, singt Frater Lukas beim Austeilen des Essens.

Frater Franz sagt im Gespräch: „Zum Teufel!“. Frater Lukas: „Jet­zt hast den Namen des Teufels aus­ge­sprochen – in einem Kloster. Das ist ganz schlecht. Jet­zt musst schon sagen, dass du das nicht so gmeint hast.“ Frater Franz: „Also, Herr Teufel, ich wollt zu dir gar nicht ´zum Teufel´ sagen! Ich habs nicht so gemeint.“ Frater Lukas (mit Entset­zen): „Jet­zt hat er sog­ar noch mit dem Teufel gere­det!“

Frater Oliv­er erzählt, Pater Placidus (jen­er mit dem amputierten Fuß, der Brud­er des verblich­enen Pater Anselm) gin­ge es „gar nicht gut“. Ich mach mir Sor­gen, dass auch Pater Placidus noch während mein­er Stadtschreiber-Zeit ins Jen­seits überge­ht. Bin ich ihre Lainz­er Todess­chwest­er?

Frater Franz erzählt mir, er sei als „Spät­berufen­er“ mit 27 in den Orden einge­treten. Vorher war er im Gast­gewerbe. Nach einem „Gespräch mit einem Bibelforsch­er“ hätte ihn zunehmend der spir­ituelle Weg inter­essiert. Nach einiger Zeit bei den Franziskan­ern habe er daher das Noviziat gemacht. 10 Jahre lang war er Koch in einem anderen Kloster, doch „hier hab ich schon geschluckt, als ich die ganzen alten Mit­brüder gese­hen habe“. Mönch zu wer­den sei die richtige Entschei­dung gewe­sen. Seine Fam­i­lie ver­ste­ht sie bis heute nicht ganz.

Mit­tags wieder einige Sekun­den zu spät. Sie haben nicht um 12.15 ange­fan­gen, son­dern um 12.14. Werde noch früher erscheinen: 2 Minuten vor dem Ter­min.

Pater Petrus ist in der Sit­zord­nung aufgerückt! Er sitzt jet­zt auf dem Platz am Tis­chende, direkt gegenüber vom Guardian. Er find­et seinen unge­wohn­ten Platz kaum. „Muass er si erscht dran gwöh­nen“, sagt jemand.
Und auch sein dunkel­grünes Besteck­e­tui hat eine neue Auf­schrift: Nicht mehr „P. Petrus“, son­dern „Pater Prov­inzial“!
Wein wird aus­geschenkt, wie son­st nur am Son­ntag.
Später verkün­det der Guardian, wie schade es sei, dass Pater Petrus uns für höhere Auf­gaben ver­lassen würde. „Aber hier ist immer Platz für dich, in eini­gen Jahren, wenn du zurück­kom­men willst“, alle brechen in Gelächter aus, am lautesten der Guardian selb­st. Das „zurück­kom­men“ bedeutet in diesem Zusam­men­hang offen­bar: Alter und Pflege.

Nach dem Aben­dessen ent­deckt Frater Franz im Refek­to­ri­um eine Riesen­spinne. Unter den Brüdern entste­ht ein mit­tlerer Trubel. Kein­er will dem Tier zu nahe kom­men. „Nicht umbrin­gen, das bringt Unglück.“ – „Raus muass sie aber schon.“
Meine große Stunde! Behut­sam stülpe ich ein Glas über die Spinne. Ihre lan­gen Beine passen ger­ade unter das Glas. Frater Kil­ian gibt mir einen Kar­ton, ich trage sie hin­aus.
Die Brüder sind erle­ichtert, man dankt mir.

Frater Kil­ian: „Heute Nacht ist wieder ein Pater gstor­ben.“ Gegen 3 Uhr früh ist Pater Placidus, wie sie sagen, „hinüberge­gan­gen“. Frater Oliv­er erzählt, zwis­chen 1 und 2 Uhr sei das Gesicht des Ster­ben­den „ganz schwarz“ gewor­den, am Ende sei er friedlich gestor­ben. Der Tod sei genau zwei Wochen nach dem Pater Anselms einge­treten.
„Jet­zt bist du der älteste Kärnt­ner Franziskan­er in der Prov­inz, Franz!“ – Alle lachen.
Franz ist jedoch wirk­lich geschockt: „Schon unheim­lich, wenn zwei Kärnt­ner in so kurz­er Zeit ster­ben.“

Das Begräb­nis von Placidus gle­icht jen­em von Anselm fast aufs Haar, wie Pop­stars ziehen sich die Mönche zwis­chen­durch um, zuerst sind sie vio­lett, am Ende alle weiß gek­lei­det, außer dem Guardian mit Pracht­man­tel. Der Trick mit dem Weihrauch, der rund um den Sarg ver­sprüht wird, funk­tion­iert dies­mal schlechter. Weniger Rauch.
Ich erkenne einen ein­deuti­gen Fokus auf die Mut­ter des Propheten. Ein­er der wun­der­baren, fast bedrohlichen Gesänge am Grab ist das mir schon bekan­nte „Ulti­ma“. Er hat so unge­fähr den Refrain „dass wir selig schei­den hin – Jungfrau Mut­ter Köni­gin“. Zuerst wird der Text auf Latein gesun­gen, dann auf Deutsch. Er kreist um den Tod, die Melodie ist getra­gen, feier­lich. Irgend­wie rührend, auch schock­ierend, wenn erwach­sene Män­ner, die, zumin­d­est the­o­retisch, nie sex­uelle Beziehun­gen führen, in inbrün­stigem Gesang eine Frau anbeten.
Auch im Mit­tags­ge­bet ist Maria über­repräsen­tiert, sie wird unter anderem als „Heilige Gottes­ge­bärerin“ ange­sprochen, was auf mich blas­phemisch wirkt, wegen „Gotte­san­be­terin“.
Kaum reden sie von Maria, regt sich Mitleid in mir. Am lieb­sten würde ich die Mönche tätscheln: Das wird schon mit den Frauen!

Frater Franz ver­hält sich ungeschickt, er set­zt z.B. mit dem Reden an, wenn das Gebet begin­nen soll, fällt anderen verse­hentlich ins Wort, formt ver­legen Sätze, die ins Nichts führen. Dauerthe­ma ist der Vor­wurf an den Pfört­ner, nicht in sein­er Pforte zu sitzen. Würde Frater Franz jedoch dort sitzen, würde ihm Faul­heit vorge­wor­fen. Alle „Beschuldigun­gen“ sind spaßar­tig vorge­bracht, den­noch nicht lustig. Frater Franz ist der einzige wirk­lich hart Arbei­t­ende. Manch­mal verzichtet er aufs Essen, weil er noch herumzuräu­men hat.
Lei­der glaubt Franz, allen anderen über seine Tätigkeit­en Rechen­schaft schuldig zu sein. Er agiert naiv ehrlich. Das Resul­tat: Kri­tik, Demü­ti­gung, Selb­stern­iedri­gung.
Kein­er springt Brud­er Franz je bei, nur er selb­st find­et manch­mal orig­inelle Auswege aus dem Gelächter. Ich muss auf­passen, dass sich mein Mitleid nicht zu sehr auf Franz konzen­tri­ert. Es sollte eher Frater Lukas tre­f­fen, der darauf angewiesen ist, sein Selb­st­be­wusst­sein mit Hil­fe des Schwäch­sten aufzupolieren.

Frater Franz erzählt, ein Bet­tler habe an der Pforte gek­lin­gelt und von ihm Wurst erhal­ten. Aber eigentlich sei die Armenküche oben bei den Non­nen. Die Non­nen hät­ten heute nur mehr Reis gehabt. Der Guardian: „Da siagstas, Franz, ich möchte ja nix sagen, aber wenn du immer so fre­undlich bist, dann kom­men die dauernd.“ Franz: „Was soll i tuan. Er hat halt gfragt.“

Ich zeige den Brüdern die neue Währung: Eine neue 1-Euro-Münze und einen 10-Euro-Schein. Sie haben das noch nicht gese­hen. Sie sind begeis­tert. Es kommt zu ein­er Bal­gerei zwis­chen Petrus und dem Guardian, der laut­stark Witze macht: „Danke, ich nehm mas gle­ich mit“, etc. – Net­ter Anblick, wenn sie herum­tollen.

„Brud­er Franz, du hast die Damen ja lieber als den Guardian!“
Franz genießt den zweifel­haften Ruf, sich allzu gerne mit Frauen zu unter­hal­ten, sie nen­nen sie „Weiber­leut“ oder „Damen“, wobei ich an die Toi­lette denken muss.
Der ange­grif­f­ene Frater antwortet über­raschend: „Das stimmt schon, da bin ich ehrlich.“ – Entset­zen und Gelächter unter den Brüdern. Franz: „Ist eh wahr. Aber es heißt nicht, dass das, was man lieb hat, einem auch guat tuat.“ Der Guardian: „Und da hascht gar nicht an mi dacht?“ Franz, sim­pel und charis­ma­tisch: „An dich hab ich als let­ztes dacht!“
Unter­drück­tes Gejohle.
Ich weiß nicht, wieso mir immer vorkommt, dass Franz jen­er ist, der den Ide­alen des heili­gen Franziskus am näch­sten kommt. Wenn ein­er der Brüder irgend­wann ein­mal heilig oder zumin­d­est selig wird, dann Frater Franz.

Meine let­zte Woche im Kloster. Noch ein­mal konzen­triere ich mich, um während dem Beten ihre Gefüh­le und Gedanken zu errat­en. Aber sie sind ein­fach Profis.

Frater Bertrand feiert Geburt­stag – schon beim Früh­stück bekam er ein Tis­chtücherl unter seinen Teller. Wir stoßen mit Wein an. Der Guardian über­re­icht ein Geschenk. Plöt­zlich, total über­raschend, stim­men die Brüder „Ulti­ma“ an, jenes Lied, das bei Todesta­gen und offe­nen Gräbern zum Ein­satz kommt.
Pater Petrus muss meine Ver­störung bemerkt haben. Er nimmt mich bei­seite und erk­lärt, dass es ein Brauch der Franziskan­er sei, mit­ten unter einem fröh­lichen Fest innezuhal­ten und dieses „Ulti­ma“ zu sin­gen. Beim Feiern hält man sich den bevorste­hen­den Tod vor Augen.
Petrus zeigt mir auch den Spruch „Cer­ta sed igno­tus“, eine Inschrift auf der Uhr im Refek­to­ri­um, die ich zwar ver­standen hat­te, aber nie so recht inter­pretieren kon­nte. „Sich­er, aber unbekan­nt“, der Spruch bezieht sich auf die Todesstunde, kön­nte laut Petrus aber auch bedeuten, dass die Uhr tod­sich­er falsch gehe.

Heute fährt Zvon­imir zurück nach Zagreb. Er hat es geschafft, während seinem gesamten Aufen­thalt zu jedem Essen im gle­ichen Pullover zu erscheinen – dunkel­rot mit einem ver­wasch­enen Muster.
Der Guardian trägt (ich weiß nicht, ob wegen Zvon­imirs bevorste­hen­dem Abschied oder wegen dem sich näh­ern­den Wei­h­nachts­fest) einige Zeilen aus einem Buch vor. Dann bedankt er sich bei Zvon­imir für dessen Arbeit und wün­scht ihm eine gute Reise, „aber die kann eh nur guat wer­den, weil sie durch den Pinz­gau geht. Dort bin ich geboren!“

Guardian: „Franz, an welchem Tag ist Servi­et­ten­wech­sel?“ (Die Stoff­servi­et­ten in den Etu­is wer­den ein­mal pro Woche gewech­selt.) Franz: „Am Sam­stag.“ Guardian: „Und welch­er Tag ist heute, Franz?“ Franz: „Heute ist Sam­stag, Guardian.“ Guardian: „Und wann wer­den die Servi­et­ten gewech­selt?“ Franz: „Am Sam­stag.“ Danach betretene Stille. Daraufhin Lukas, zu Franz gewandt: „Das ist ja unglaublich, wie unhöflich du zum Guardian bist. Das klingt ja, als würdest du dich lustig machen über ihn. Sam­stag, Sam­stag! Sag halt gle­ich, du hast es vergessen und tu nicht so blöd.“
Der Guardian weist nicht etwa Lukas zurecht, wegen dieser Anmaßung. Brud­er Franz ist zu schwach für eine Antwort. Er ste­ht auf und holt die Servi­et­ten.
Dies­mal bin ich nahe daran, Brud­er Lukas zurechtzuweisen: Das Auf­polieren des eige­nen Selb­st­be­wusst­seins auf Kosten des Schwäch­sten der Gruppe ist eine beschä­mende Strate­gie, lieber Lukas.
Nach dem Essen sage ich zu Franz: „Heute Abend ist mein let­ztes Essen.“
„Let­ztes Abendmahl“, antwortet Franz und lächelt.