Im Anfang war das Wort

„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“

Von

Martin Prinz. Foto: © Lukas Beck

Mar­tin Prinz. Foto: Lukas Beck

Er hat­te ein Ende gesucht, keinen Anfang.

Harmer klappte das Notizbuch zu, nein, schob es ein Stück weg. Ring­sum die Papiertürme der ver­gan­genen Monate. Hun­derte Seit­en. Es war früher Nach­mit­tag. Auf einem der Stapel das kurze Sum­men seines Smart­phones. Er blick­te durch das Fen­ster auf das lichte Weiß des ersten Schnees hin­aus, wartete auf das Erin­nerungssum­men. Der Schnee an den Wegen, den Wiesen, selb­st an kle­in­sten Obst­baumverästelun­gen haftete er in unwirk­lich dün­nen Käm­men.
Kein Roman, hat­te Harmer an diesem Novem­bertag in sein Notizbuch geschrieben. Wie fast an jedem Tag. Sein Gebet nan­nte er das in guter Stim­mung. Oft schrieb er tage­lang nicht ein­mal kein Roman, ver­grub sich in das Mate­r­i­al, ver­lor sich darin, schüt­telte sich selb­st ab und tauchte wieder auf. Zumin­d­est darin war er ein guter Mönch.
Darunter eine Zeile Joseph Brod­skys: Am Ende der Ger­ade ist der Punkt immer bess­er zu sehen. Die ersten Spuren von Nach­mit­tags­grau lagen am Berghang gegenüber. Das weiße Schneestrahlen blieb darin unange­focht­en. Zwei Wel­ten, für Augen­blicke, und darin alles andere als eine Gle­ichung. Auch um das zu wis­sen, saß er hier in sein­er Klause, in der er Recherche­ma­te­r­i­al zur Krise ange­häuft hat­te – Ein­träge ein­er Zeit, in der selb­st Geräusche Rän­der bekom­men, schrieb er an einem dieser Mor­gen in sein Notizbuch: Alles davor ist schon Gespenst, und das Begreifen bekommt seine Schön­heit zurück.
Ich höre ver­schwun­de­nen Flugzeu­gen hin­ter­her, zäh­le ein, zwei, drei Men­schen in Straßen­bah­nen, manch­mal keine. Plakate kündi­gen Ver­anstal­tun­gen an, die nicht mehr stat­tfind­en. Ich steuere meinen Wagen über Auto­bah­nen und Land­straßen, oft bleibe ich länger das einzige Fahrzeug weit und bre­it, als ich dabei die Luft anhal­ten kön­nte. Das weiß ich und weiß es nicht. Ich erlebe das und hätte es mir nie vorstellen kön­nen, und merke, wie mir das eigene Davor verblasst. Unvorstell­bar auf ein­mal bei­des, das erin­nerte Leben und das ger­ade Erlebte.

Kein Roman. Darauf verzichtete er nicht. Obwohl sein Mate­r­i­al nun an Form gewann. Zum Glück hat­te er sich von der Unmenge und ihrer Wucht nicht abschreck­en lassen. Irgend­wann nicht ein­mal mehr von sich selb­st.
24. Feb­ru­ar 2020: Coro­n­avirus. Wollt nur auch was dazu posten.
27. Feb­ru­ar 2020: Beim Hofer war null los, kein­er mask­iert, die Regale voll. Typ­isch Ger­sthof.
28. Feb­ru­ar 2020: Beim Gourmet Spar in Währing ist der Pros­ec­co ausverkauft.
In einem Monat war Wei­h­nacht­en. Er blick­te sich um. Schreibtisch, Mate­r­i­al, Notizbuch. Die Nach­mit­tagss­chat­ten hat­ten das Klausen­fen­ster erre­icht, darin die Umrisse seines Gesichts.
8. März 2020: Die Zahlen in Ital­ien gestern, 8.3.2020: 6.387 Erkrank­te, davon 366 Tote, 622 Gesun­dete. Heute, 9.3.: 7.985 Erkrank­te, davon 463 Tote und 724 Gesun­dete. Ganz Ital­ien ist nun Sper­rzone.
8. März 2020: Ich: Love is in the air! Frau: In meina ned.
10. März 2020: Mein Bub wird näch­ste Woche 8, sagt aber, er bleibt so lange 7, bis die Omi wieder mit­feiern kann.
10. März 2020: Bekomme viele Absage­mails von Ver­anstal­tun­gen, von deren Exis­tenz ich auch auf diesem Weg erfahre.
11. März 2020: Die Betr­e­ffs der heuti­gen Mails von den Schulen der Kinder: „E-Learn­ing“, „Lern­plat­tform“. Ich habe jet­zt 4 große Pack­un­gen Klopa­pi­er geham­stert.
12. März 2020: Wusstet ihr schon, dass die Illu­mi­nat­en das Virus aus Atom­müll, Gen­mais und Rotz zusam­mengeschraubt und per 5G-Netz ver­bre­it­et haben, damit wir alle schwule Kom­mu­nis­ten wer­den?

Nichts. Früher Mor­gen, kein Mucks. Nur ein weit­er­er Novem­bertag. Das Gerät am Rand der Schreibtis­ch­plat­te hielt still. Es hielt die ganze Klause so still, wie es der tiefe Schnee draußen mit der noch dun­klen Land­schaft tat. Ähn­liche Maße wie eine Gefäng­niszelle hat­te der Raum, etwas über zwei mal drei Meter, weiß ver­putztes Gemäuer. Das Bett an der Seit­en­wand, ein schmales Einzel­bett, unmit­tel­bar daneben der Schreibtisch am Fen­ster, kaum Platz dazwis­chen, um an die Flügel zu treten, sie weit zu öff­nen, ganz gle­ich zu welch­er Jahres- oder Tageszeit, und einzu­tauchen ins Dunkel oder Mondlicht, in den Wind eines Tages oder in die Hitze der Sonne an der Süd­seite des Gebäudes, die man hin­ter dem dick­en Gemäuer selb­st an den heißesten Tagen nur ahnen, besten­falls an der erstaunlichen Abwärme der inneren Fen­ster­scheiben fühlen kon­nte.
Kein Sur­ren. Seit dem Auf­ste­hen nicht. Wie immer war Harmer mit dem Auf­bruch der Mönche zum Chorge­bet aufge­s­tanden und in die Basi­li­ka. Danach set­zte er sich gle­ich an den Schreibtisch, um vor dem Früh­stück bere­its etwas geschafft zu haben.
An diesem Mor­gen hat­te Harmer nicht ein­mal die Schneeräu­mung gehört. Vor ihm der Stoß der dig­i­tal­en Stim­men der let­zten über einein­halb Jahre und alles übrige Mate­r­i­al.
12. März 2020: Coro­n­age­spräche. Ich: Also, ab näch­ste Woche bis nach Ostern keine Schule. – Kind: Was machen wir da die ganze Zeit? – Ich: Waldspazier­gang. – Kind: ... – Kind: ... – Kind: ... ja, find­et da kein­er eine Medi­zin??? – Ich: Es wird geforscht. Auch ein ganz berühmter Wis­senschaftler aus Öster­re­ich ist dabei . – Kind: Adolf Ein­stein?
12. März 2020: Die ersten Väter aus der Volkss­chule melden sich für Mi zum Playsta­tion Spie­len an.
13. März 2020: Der Men­sch muss wieder von sein­er Schwäche, sein­er Zer­brech­lichkeit aus­ge­hen, um neue vergessene Dinge zu ent­deck­en, ohne von der Angst erfasst zu wer­den.
13. März 2020: Es ist so weit, ich hab mit dem Ein­rex­en ange­fan­gen.
13. März 2020: Nice move! „Porn­hub is Giv­ing Ital­ians Free Pre­mi­um Access Dur­ing Coro­n­avirus Quar­an­täne“, pcmag.com
13. März 2020: Mir vergam­melt grad der Ham­sterkauf von vorgestern.

Als er das erste Mal an eine solche Klausur gedacht hat­te, vor gut zweiein­halb Jahren, war von den Geschehnis­sen noch nichts zu erah­nen gewe­sen. Harmer hat­te einen Roman fer­tiggeschrieben gehabt, an dem er über zehn Jahre gear­beit­et hat­te. Danach wollte er sich Zeit lassen, Abstand gewin­nen, die leeren Tage genießen, nichts zu tun. Bis er nachts aufwachte. Zuerst nicht jede Nacht und auch noch nicht länger wach liegend. Dann aber began­nen Nack­en- oder Kopf­schmerzen, die er auf den Wein schob. Bis sie auch ohne Wein auf­trat­en und nicht erst mit­ten in der Nacht, son­dern bere­its mit dem Nieder­legen ein­hergin­gen.
Tagsüber hall­ten die Par­ket­ten, die Wände, die Flächen. Draußen die helle Kraft des Früh­lings, herin­nen eine Art der Schat­ten, die ger­ade aus dem Alltäglich­sten wuch­sen.
Welche Halt­losigkeit ihn hier erre­ichte, erkan­nte er erst, als er nachts hochschrak, wie er das nur aus den Alp­träu­men sein­er Kind­heit kan­nte: Rund um ihn ein riesiger Schacht und er darin in die Boden­losigkeit eines Wel­traums stürzend. Schreiend war er davon als Bub aufgewacht und lau­thals in Panik durchs Haus gelaufen, als ließe sich diesem Fall­en mit gel­len­der Laut­stärke und rasender Bewe­gung etwas ent­ge­genset­zen.
Doch da waren im Schlafz­im­mer nur mehr Wörter und Sätze. Sobald er am Ein­schlafen war, standen sie da, mussten nicht ein­mal schreien, um ihn aus dem Schlaf zu reißen, es genügte, dass sie ihn jedes Mal wieder glauben macht­en, sie allein wären jene entschei­den­den Klip­pen, die ein für alle Mal geortet und umschifft wer­den müssten, bevor es endlich auf das offene Meer hin­aus gin­ge.
Er saß im Bett und nichts war da, keine Klip­pen, kaum Wörter, halbe Sätze. Kein Roman.
14. März 2020: Unser Ham­ster ist tot. Kein Witz.
14. März 2020: Gehen uns zaus schon ganz bis­si am Arsch.
14. März 2020: Ern­sthaft: drin­bleiben. Manche bitte dauer­haft, aber das ist ein anderes The­ma.
15. März 2020: Kind rülpst nachm Essen in die Arm­beuge

Sein let­ztes Mal in der Stadt lag lange zurück. Anstatt in sein­er Woh­nung hat­te Harmer im Hotel über­nachtet. Hoch über der Stadt, nur von der dick­en, so gut wie jeden Schall schluck­enden Glaswand vom weit­en Stadt­panora­ma getren­nt.
Aufgewacht war er allein. Draußen die niedrige Sonne, ihr langes Strahlen über die Stadt. Lichtrosa, licht­gelb, licht­blau. Für einen Augen­blick meinte er, ein Handy­surren gehört zu haben. Er griff nicht hin, wartete, doch nichts kam, kein Wieder­hol­ungssur­ren. Nur ein Rauschen meinte er wahrzunehmen, so weit ent­fer­nt, dass er zu den dick­en Scheiben hin­aus­blick­te. Auf den Kanal, die Brück­en, die Häuser, auf ein Bild völ­liger Geräuschlosigkeit. Er dachte an die Schuss­waffe eines Fre­un­des, die er sich bere­its vor Jahren zugelegt hat­te. Jet­zt belächelte er ihn nicht mehr.
Der Sonne nach musste er seit dem ersten Aufwachen noch ein­mal eingeschlafen sein. Ein einzel­ner Wagen fuhr über eine der Kanal-Brück­en und bog auf die völ­lig leeren Kai-Fahrbah­nen. Harmer sah, wie das Luftkissenboot der täglichen Schnel­lverbindung in die flussab­wärts gele­gene Haupt­stadt des Nach­bar­lan­des anlegte, und auf ein­mal staut­en sich unter den Ampeln der Kai-Fahrbah­nen auch die gewohn­ten Autop­ulks wieder.
Bis irgen­det­was irgend­wo flat­terte, wie von einem ger­ade auf­fliegen­den Vogel. Er sah sich um, doch wed­er im hel­l­licht­en Zim­mer noch draußen an der Glaswand rührte sich etwas – stattdessen hörte er das Rauschen wieder, hörte es immer deut­lich­er, doch um keinen Deut näher. Harmer ging ins Badez­im­mer, trat an den Spiegel, sah sich an. Auch hier nichts. Er suchte sein Gesicht nach ein­er Regung ab. Die Augen, die Wan­gen, den Mund. Keine Bewe­gung, nicht ein­mal an den Wim­pern. Nur das Rauschen. Bewegte er jet­zt seine Augen, seinen Mund oder auch den ganze Kopf ‒ es star­rte ihn ein­fach nur weit­er an.
Dann habe er, wie er sich später sagen hörte, Wass­er ins Beck­en ein­ge­lassen, das Mess­er glatt gestrichen und den Pin­sel eingeschäumt. Er habe das Mess­er gespürt, das Rauschen und dahin­ter einen Schmerz, einen ständi­gen Schmerz, der so weit ent­fer­nt war, dass er ihn wohl selb­st mit größter Gewalt nie erre­ichte.
Fürchtete er sich allein vor dem Mess­er, sollte Harmer leichthin sagen, sei alles gut, fürchtete er sich vor sein­er Hand, dürfte er sich nicht rasieren. All das hörte er, wann immer es wirk­lich gesagt wor­den war, oder zu wem, hörte es näher rück­en, näher und näher und schon war es wieder unerr­e­ich­bar an ihm vor­bei. Jedes Mal wieder. Nur Wörter, Echos und das Rauschen danach.
Das eigene Blut. So nah und gle­ichzeit­ig so weit ent­fer­nt, wie der Hall und Hauch von Gebirgs­bächen im Früh­ling. Dieses Rauschen könne man nicht hören, sagte Harmer, ein solch­er Höl­len­lärm sei es. Es sei wie ein Phan­tom­schmerz, fügte er noch hinzu, ohne dass einem selb­st etwas fehle, da einem run­dum alles fehle. Eine Art Fahrtwind, in dem sich nichts mehr bewege.
Dann sei es so weit, antwortete ihm sein Gegenüber im Spiegel: Die Augen, die Nase, der Mund. Nur Wörter. Sein Gesicht und ein Wort. Und noch eines. Hotel. Im Spiegel lachte es, doch auch Spiegel war nur ein Wort. Danach holte er die let­zten Dinge aus sein­er Woh­nung.
Das war im Feb­ru­ar. Es war Nach­mit­tag, es wurde Abend. Er stand an der Glas­front des Hotelz­im­mers und schaute hin­aus. Kurz darauf ver­schwan­den die Men­schen. Die Straßen leerten sich, Schulen und Geschäfte schlossen, es war März und der Him­mel blieb jeden Tag blau. Straßen­bah­nen fuhren ohne Pas­sagiere durch die nächtliche Stadt. Was war geschehen?, schrieb er: Kein Roman.
Nachts erre­icht­en selb­st Gespräche aus hochgele­ge­nen Woh­nun­gen so deut­lich die Gassen und Gehsteige, als befän­den sich alle im sel­ben Raum. Küchengeräusche, Stüh­lekratzen. Am hel­l­licht­en Tag hörte man die Gangschal­tun­gen der Fahrräder in der Stadt eben­so wie die Schritte von Tauben. Die Men­schen auf Abstand, auf Plätzen im Gespräch, beim Zigaret­ten­rauchen oder mit Bier in der Hand. Zwei Meter, drei Meter. Genug, dass nacheinan­der aus­gestreck­te Arme hil­f­los aus­ge­se­hen hät­ten.
15. März 2020: Ok, ihr habt es ja so gewollt: mor­gen lese ich live aus mein­er Bade­wanne alle 23 Hilbertschen Prob­leme plus ihre Lösung per Livestream vor!
15. März 2020: Ok. Also ich sing heute Abend um 18.00 die Inter­na­tionale aus dem Fen­ster. Wer ist dabei?
16. März 2020: Ich habe eine Frage, die nicht block­wart­mäßig rüber kom­men soll, es inter­essiert mich nur: Am Nach­bar­grund­stück ein­er mir bekan­nten Dame wohnt eine recht wohlhabende Fam­i­lie. Heute waren dort einige Arbeit­er zugange, die den Zaun gestrichen haben, die Hecke geschnit­ten etc. Es ist keine Reparatur eines Wasser­rohrbruch­es oder sowas. Fällt das unter Arbeit, die getan wer­den muss, also ist das im Rah­men? Oder müssten die Arbeit­er für so einen Garten­ver­schönerung­ster­min nicht daheim bleiben?
16. März 2020: Seit 18:00 singe ich laut auf dem Balkon „Fang das Licht“, noch immer kein Applaus.

Zer­brech­lich kamen ihm die Steine vor. Seit acht Jahrhun­derten aneinan­der gefügt. Plat­ten und Blöcke, unter­schiedlich­er Größe und Form, behauen wie unbe­hauen. Manche rund, wie riesen­hafte Kiesel­steine, mit­ten im Gefüge, als hätte sich jemand einen Spaß gemacht und eine Flaschen­post aus Stein ins Mauer­w­erk ver­suchter Ewigkeit geschickt. Dann wieder klumpige Brock­en.
Immer wieder war Harmer während der Früh­lingswochen nach sein­er Ankun­ft in der Basi­li­ka, im Kreuz­gang oder an anderen Stellen des Stift­skom­plex­es ges­tanden und hat­te ges­taunt. Ob Böden, Wände, Säulen oder Por­tale, Tor- oder Fen­ster­bö­gen. Manch­es erschüt­tert von Brän­den und Kriegen, zer­stört und wieder aufgeschichtet. Manch­es seit dem Jahr 1230 so fest gefügt, als wäre es für alle Zeit­en. Längst hat­te Harmer die Baugeschichte des ganzen Klosterkom­plex­es abzu­rufen ver­mocht, die unter­schiedlichen Abschnitte auswendig zu ertas­ten. Doch früh­mor­gens, in den Halb­schat­ten des Weges von der Klausur hin­unter, und durch den Kreuz­gang in die Basi­li­ka, kamen ihm all die Steine zer­brech­lich vor. Die Geräusche sein­er Schritte und gle­ichzeit­ig eine Stille, in der ihn die Stim­men der Mönche weit vor jenen Momenten erre­icht­en, in denen das zit­trige Chorge­bet der weni­gen verbliebe­nen Geistlichen in Wirk­lichkeit erst zu hören sein dürfte.
Nicht ein­mal mehr zu zehnt waren sie, zusam­menge­sunken in ihren kabi­ne­nar­tig voneinan­der abge­tren­nten Plätzen im Chorgestühl, dessen dop­pelte Sitzrei­hen aus kun­stvoll gedrech­sel­tem Holz ein Vielfach­es an Betenden zuließen. Alte Stim­men, die brachen, und selb­st jene der Jun­gen klan­gen dünn. Harmer kon­nte nicht sagen, wann und wie und wo sie in ihm zu klin­gen began­nen, wusste nur, dass er ihrer auf eine Weise gewahr wurde, als hät­ten sie ihn jedes Mal wieder seit dem Ver­lassen sein­er Klausur hin­unter begleit­et.
Als Näch­stes dann, auch das jeden Mor­gen seit Monat­en, die Luft des Win­ters, sobald er die Basi­li­ka betrat. In den meis­ten Jahren, so hat­te ihm der Abt erk­lärt, spüre man den Win­ter in den Winkeln selb­st im Hochsom­mer noch. Harmer musste an sein erstes Aufwachen im Feb­ru­ar, den ersten Gang durch das Halb­dunkel des Stiegen­haus­es, des Kreuz­gangs und der Basi­li­ka denken. Draußen die Nacht, herin­nen das Auf­set­zen sein­er Schritte auf den Steinen und die Stim­men. Damit hat­te das Tas­ten begonnen, das Klin­gen und eine Bewe­gung, die namen­los war.
Er könne jed­erzeit mit­beten, sei im Chorgestühl willkom­men, hat­te die Ein­ladung an ihn gelautet, und Harmer kon­nte noch immer nicht. Vielle­icht ger­ade weil er bere­its im Augen­blick der Frage nichts als Sehn­sucht danach gespürt hat­te. Er sprach im Stillen mit und tat es, ohne einen Blick in die Gebet­büch­er. Es war ein­fach da, wie eine lange Zeit nicht mehr gesproch­ene Sprache. Woher es kam, wusste er nicht. So müsste man erzählen. Wenn er es je wieder täte.
16. März 2020: Nur ein­mal kurz lesen, erst dann toben. Es ist genau das, was über kurz oder lang sowieso kommt. Denn der Lock­down müsste monate­lang durchge­hal­ten wer­den, um zu funk­tion­ieren, dann näch­sten Win­ter wieder. Das wird nicht passieren. („Coro­n­avirus: Kon­trol­lierte Infizierung ist die beste Strate­gie“, welt.de)
16. März 2020: Also wir haben 492 Badez­im­mer Fliesen

Kein Mor­genge­bet hat­te Harmer seit sein­er Ankun­ft im Kloster aus­ge­lassen. Kein einziges Mal hat­te er all die Monate dafür den Weck­er gebraucht. Kurz nach fünf Uhr set­zten in den benach­barten Zellen die ersten Geräusche ein. Klospülun­gen, das kurze Qui­etschen von der Stelle gerück­ter Ses­sel, Schritte, sog­ar vom Wasser­gurgeln in den Leitun­gen war er bere­its aufgewacht.
Für nicht wenige der Hand­griffe und Ver­rich­tun­gen hat­te er die Geräusche und Ver­läufe wie automa­tisch abspiel­bare Echos im Ohr. Anstatt dass er sich über das Langsame, Schlep­pende viel­er dieser Augen­blicke noch im ger­ing­sten wun­derte, oder dies, wie in den ersten Tagen, gar als unheim­lich emp­fand, waren all die Abfol­gen in der Zwis­chen­zeit zu einem bre­it­en Rhyth­mus gewor­den, inklu­sive sein­er eige­nen Bewe­gun­gen darin.
Er gab ihnen stets Vor­sprung und fol­gte ihnen mit Abstand, sodass er sich beim Absper­ren sein­er Klause eigentlich jedes Mal sich­er war, das Domine, labia mea aperies et os meum annu­tiabit lau­dem tuam, mit dem das nächtliche Schweigege­bot aufge­hoben wurde, zu ver­passen. Doch das Klimpern sein­er Schlüs­sel, das Auf­set­zen der ersten Schritte, der Weg durch die Gänge, durch das Stiegen­haus und den Kreuz­gang in die prachtvolle Basi­li­ka fügte sich stets so genau in den Sog der Vor­ange­gan­genen, in den let­zten Hall eines Schneuzens oder Räus­perns, in die Abfolge der gän­zlich unter­schiedlichen Schrit­tweisen der Alten und ganz Alten, die er stets viel deut­lich­er als jene der bei­den Jung­mönche wahrnahm, dass er an jedem Mor­gen wieder zumin­d­est zum Abschluss der ersten Vig­ilie zurecht kam.
Er nahm in ein­er der hin­teren Bankrei­hen der Basi­li­ka Platz, murmelte unwillkür­lich den gesproch­enen Singsang der Gebete mit, kan­nte jedes Wort darin und kan­nte keines, ohne sich über die Unmöglichkeit ein­er solchen Kom­bi­na­tion zu wun­dern, war es doch jen­em Gefühl nur zu ähn­lich, mit dem er in den entschei­den­den Momenten nicht nur sein Schreiben wahrnahm, son­dern eben­so sich selb­st. Das Eigene, das Fremde, das Erlebte, das Erin­nerte, Schmerz und Erle­ichterung, es ver­mis­chte sich nicht nur, bekam nicht allein durch die jew­eilige Zusam­menset­zung Stimme und Klang, son­dern tat es bere­its in der bloßen Vorstel­lung. Darin tauchte er hier ein. Schritt für Schritt. Stein für Stein.
16. März 2020: „IS warnt Ter­ror­is­ten vor Ein­reise nach Europa: Der Coro­n­avirus hält die ganze Welt im Griff. Auch Ter­ro­ror­gan­i­sa­tio­nen zeigen sich unsich­er gegenüber der Krankheit.“ – Das bericht­en „Politi­co“, „Home­land Secu­ri­ty Today“ und auch die „New York Post“. So wurde Ter­ror­is­ten tat­säch­lich vom Islamis­chen Staat eine Reise­war­nung erteilt. Auf­grund des Coro­n­avirus, soll­ten sie nicht nach Europa gehen. IS-Sol­dat­en, die krank sind, sollen nicht zurück­kehren. Sie haben im „Land der Epi­demie“ zu bleiben und möglichst viele Men­schen anzusteck­en.
16. März 2020: Frau blockt Annäherungsver­suche mit Fake-Hus­ten ab
17. März 2020: Auf­grund der all­ge­meinen Beliebtheit geistiger Krankheit­en (nicht ansteck­end) mache ich ein Fol­ge­for­mat, und zwar indem ich die Her­leitung der Rel­a­tiv­ität­s­the­o­rie auf eine Rolle Klopa­pi­er schreibe und per Livestream lesend abrolle. Fun fun fun!

Das Kloster war eine andere Welt. So fremd sie ihm war, genug wäre das dies­mal nicht gewe­sen. Trotz aller Regeln und Beschränkun­gen, die er sich vom ersten Tag an aufer­legt hat­te – wie etwa der auch im Ruhe­modus aktivierte Timer am Smart­phone-Dis­play, das Gerät am Schreibtis­chrand, am Tisch das aufgeschla­gene Notizbuch:
Sechs Minuten hat­te das Gerät in solchen Augen­blick­en etwa angezeigt, vier waren ver­gan­gen. Meist hat­te er dann noch kein Wort geschrieben, doch zumin­d­est auch kein einziges Mal auf Eingänge in seinem Gerät geschaut. Mit zehn Minuten, so hat­te sein Vorhaben vom ersten Mor­gen an gelautet, wollte er begin­nen. Zehn Minuten schreiben, und wenn es nur dem Birn­baum galt, der Wiese oder den Fen­sterkreuzen, doch zumin­d­est ohne Nachricht­en, ohne ein Bild, ohne Video, ohne Gier, so hat­te er begonnen.
Er schaute auf, hat­te den Birn­baum vor sich, es war Spät­früh­ling oder Früh­som­mer, es wurde Herb­st, und er hörte es in seinem Kopf: Jet­zt der Birn­baum. Alles andere war Echo. Fünf Minuten, hat­te das Dis­play angezeigt. Oder sieben oder drei. Egal. Erst ein Wort. Oder keins. Im Birn­baum­schat­ten und am Heck­en­rand der Wiese waren Schneer­este gele­gen. Im Grün die ersten, beina­he grell strahlen­den Blu­men, wie hingestreut. Beina­he vor­eilig hat­te es aus­ge­se­hen, nicht nur angesichts der Schneefleck­en.
18. März 2020: Liebe Leute! Meine Lesung aus der Rel­a­tiv­ität­s­the­o­rie ist wegen famil­iär­er Hil­f­stätigkeit auf MORGEN VERSCHOBEN.
18. März 2020: Meine Frau und ich sind auf Tin­der
Drei Minuten. Sieben waren geschafft. Die Schneer­este, die grellen gel­ben Blu­men, der Birn­baum. So hat­te er noch jeden Mor­gen hier begonnen, das Notizbuch aufgeschla­gen, das Gerät im Ruhe­modus. Wochen, Tage. Im Gang ein­er der sieben Mönche beim Train­ing.

Wie Wochen war es ihm vorgekom­men, seit­dem er wieder zu schreiben begonnen hat­te. Dabei war es kaum mehr als ein Dutzend Tage her. Alles andere war Wun­schdenken, war Sehn­sucht nach Beständigkeit, nach Ablenkung, nach einem lang und bre­it auss­chwin­gen­den Rhyth­mus und Strom der Tage, in dem das Eigene, nichts als das Eigene, allmäh­lich wieder so selb­stver­ständlich wurde wie das Amen im Gebet.
19. März 2020: Ich frage mich, ob da draußen noch Leben ist. Vom Balkon sehe ich eine alte Dame, die so aussieht, dass es die Frage nicht beant­wortet. Ich ver­suche, zu Don­ner­stag einen Meter Abstand einzuhal­ten. Hier singt kein­er, dafür hört man von der Straße ein Hus­ten, ver­mut­lich von den Amseln.
20. März 2020: „Echt jet­zt? Hast du mir ger­ade in den Mund gespuckt?“ - Die Kinder dürften wach ein.
Harmer blick­te auf. Sein Handy sur­rte, oft genug hat­te es das in solchen Augen­blick­en bere­its getan, dass er nicht sagen kon­nte, ob er auf das Sur­ren reagierte, oder das Sur­ren bere­its auf ihn. Draußen der Tag, doch in seinem Blick ein ander­er. Vielle­icht mit Schnee, sich­er mit dem Berghang, ver­mut­lich auch dem Birn­baum, darüber das Stück Him­mel.

* * *