Tag siebzig – 11/01/24
BUCHUNGSSALDO: - 120,76 € / DISPOSALDO: 8.879,24 €
In Wirklichkeit bist du keinen Cent im Minus. Jedenfalls nicht bei der Bank. Du magst Geld bei Freunden und Familie geliehen haben, um die Zeit bis zur nächsten Film-Optionszahlung aus Hollywood zu überbrücken, und hast nicht gewusst, dass der Streik aufschiebende Wirkung auf den nächsten Hollywood-Zahlungstermin haben würde. Doch dein Bankkonto ist keinen Cent im Minus. Du hast es nur geglaubt, weil es doch die längste Zeit – in Worten: nie – anders war.
So wie damals, vor bald 25 Jahren, noch als Student. Es muss der Bankomat in Roscoff gewesen sein. Am Fährhafen von Cork hatte die Bankomatkarte noch funktioniert. In Roscoff kam die Fehlermeldung. Also sind für die verbleibende Zugfahrt zu einem Freund ins spanische Salamanca nur eine Flasche Wasser, ein Baguette und wenige Zigaretten übrig geblieben. Dazu eine Adresse in Salamanca, doch kein fix vereinbarter Ankunftstermin und keine Telefonnummer. Die letzte Zigarette hast du dann nach der Nachtfahrt über Paris vormittags am Strand von San Sebastian geraucht, Baguette gegessen und etwas Wasser für die Tagfahrt nach Salamanca aufgehoben. Bis am Ende nicht nur der Freund zu Hause war, sondern auch die Karte am nächsten Tag wieder funktionierte, als hätte sie nie etwas anderes getan als Geld auszuspucken. In Roscoff war es nur ein Leitungsproblem gewesen, eine unterbrochene Verbindung zu den Servern der Bank in Wien. Nicht deine Schuld. Dennoch hast du nichts anderes angenommen, so automatisch wie blind.
Und jetzt? Immerhin prangt vor deinem Buchungssaldo seit Jahr und Tag ein Minus. Selten mit einer niedrigen Zahl dahinter, seitdem sich zwischen 2005 und 2008 dein Überziehungsrahmen, wie noch gesondert zu berichten ist, wegen der Aussicht auf die erste Verfilmung deines Romans von 3000 € auf 9000 € verdreifachte. Die meiste Zeit hast du seither am unteren Rand der Einkaufsreserve verbracht und Sollzinsen dafür bezahlt. Genauer nachgerechnet hast du das aus Scheu vor zu erschreckenden Zahlen nie. Ganz deiner altbewährten Taktik folgend, wie du sie vor jedem Geldausgabeautomaten deiner Bank, bevor dein Minus erscheint, mit der selben Selbstverständlichkeit praktizierst, mit der du Verbindungsfehler in der Bankenkommunikation nur allzu schnell unter deiner Schuld, deinem Schuldenstand und einer unzweifelhaften Überschreitung des Überziehungsrahmens zuschreibst.
Beim Minus auf deiner Bank genügt eine einfache Rechnung. Du beginnst mit einem die Realität ohnedies nur beschönigenden Wert von etwa 6000 € für dein durchschnittliches Minus seit 2008. Dann rechnest du aus, was 15 Jahre bei einem Zinssatz von 9,875 % ergeben, wie sie deine Bank als Sollzinswert angibt. Und landest bei 8.887,50 €, die du der Bank seither bezahlt hast, um ein Minus in ähnlicher Höhe bei ihr zu haben. Eine Nullsumme, sagen die Zahlen. Und was sagst du? It´s the economy, stupid! Aber sag das einmal deiner Bank ...
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Sehr geehrte Bank Austria! Seit kurzem zähle ich meine Schulden nicht nur, sondern erzähle sie. Es ist eine wahre Geschichte und keine Erfindung, wie mich nicht wenige hoffnungsvoll fragen, seitdem sie hier unter dem Titel „Tagebuch meiner Insolvenzverschleppung“ erscheint. Darin erzählt sie eine Realität unter null, einen Alltag im Überziehungsrahmen, der im Vokabular Ihres Geldinstituts Einkaufsreserve genannt wird, von Einkünften, die das Minus zumeist nur minimieren, und natürlich von den Sollzinsen. Das ist die eine Seite. Als bloßer Wirklichkeit wäre daran nichts auszusetzen. Als Geschichte aber fehlte darin nicht nur jede Traumhöhe, sondern allmählich auch jede Fallhöhe. Zum Glück gibt es dafür Hollywood, und damit Traum- wie Fallhöhe auf einen Schlag. So wird seit geraumer Zeit nirgendwo anders als in der Traumfabrik an einem Kino-Remake meines ersten Romans „Der Räuber“ gearbeitet, in dem Ihre Bank unter ihrem damaligen Namen mehrmals ausgeraubt vorkam, ohne dass auch nur ein Cent der Beute bei mir landete.
Ein in greifbare Nähe gerückter Traum, was will man mehr. Doch auch dafür gilt, wäre das bereits alles, für eine gute Geschichte reichte es keineswegs. So verschwände mein Minus irgendwann diesen Sommer oder Herbst höchstens still und etwas verschämt in der weit größeren Hollywoodsumme, und jede Erinnerung an Überziehungsrahmen, Karteneinzug, Einkaufsreserve oder Dauerauftrags-Stornos rückte in der Erleichterung nur allzu schnell weg.
Doch da kam der Streik in Hollywood, der bezeichnenderweise nichts weniger als die täuschend echten Fiktionen von Artificial-Intelligence-Hybride im Visier hatte. Ein unverhoffter Stolperstein, ganz wie im echten Leben, für eine Geschichte war das perfekt. Indem der Streik an der Weiterarbeit in der Traumfabrik und damit an meiner persönlichen Aussicht auf das Räuber-Remake in keiner Weise rüttelte, blieb die Traumhöhe gewahrt, dafür ragte die Fallhöhe schon einen Schritt weiter auf. Es sind die doppelten Böden meiner Buchführung, die fein säuberlich frei liegen, kaum wurde klar, dass die für 7. Februar diesen Jahres terminisierte Optionszahlung sich um exakt jene 191 Tage der Streikdauer verschob. Damit war nicht nur die zweite größere Einnahme des Jahres weit weg gerückt, sondern hatte sich eine reale Lücke von beinahe ebenso vielen Tagen vor mir aufgetan.
Es versteht sich von selbst, dass das „Tagebuch meiner Insolvenzverschleppung“ zwischen Überziehungsrahmen und Hollywood vorerst eher Countdown denn Fortsetzungsgeschichte ist. Beginnend damit, dass bereits nach Abzahlung diverser Rückstände von Sozialversicherung, Kreditkarte oder des zu Jahresbeginns nicht mehr durchgeführten Dauerauftrages der Monatsmiete gerade genug übrig bleibt, um bestenfalls den Februar und mithilfe einer ungedeckten Kreditkarte vielleicht noch ein Stück des März zu schaffen. All das ist natürlich meine Schuld und mein Minus. Und obwohl es im Vergleich zu den Ausständen des Herrn Benko nur ein Klacks ist, hätte ich Sie deshalb nie auch nur mit einer Zeile mit meinem Minus behelligt. Bis ich die Sollzinsen nachrechnete, indem ich etwa den dafür noch beschönigenden Wert von lediglich zwei Drittel des Überziehungsrahmens als regelmäßiges Minus über all jene Jahre hinweg annahm, seitdem eine Kundenberaterin Ihres Unternehmens meine Einkaufsreserve auf erstaunliche 9000 € erhöht hatte. Doch Überraschung, Überraschung, was kommt heraus, wenn ich die nunmehr 15 Jahre bei durchschnittlich 6000 € Einkaufsreserve mit der hübschen Zinshöhe von 9,875 % per Annum verrechne? Nicht mehr und nicht weniger als die Summe von 8.887,50 €.
Auch wenn das so ziemlich genau meinem Minus entspricht, dürfte ich Sie, meine Bank, dafür keineswegs verantwortlich machen. Mein Minus bleibt meine Schuld und ich bleibe Ihr Schuldner. Genauso Schuldner, und hier werden nun doch Vergleiche nötig, wie auch Ihr Hausherr, Herr Benko, seit Jahr und Tag Schuldner bei Ihnen ist. Oder wie so viele andere, zehn- oder hunderttausende, vielleicht sogar Millionen Menschen ebenfalls Ihre Schuldner sind. Und die Selbstverständlichkeit, mit der Schuldner wie ich seit Jahr und Tag Ihnen regelmäßig den Zinssatz ihrer Schulden bezahlen, bedingt nun zumindest die Nachfrage, ob das auch bei einem so großen Schuldner wie Herrn Benko stets der Fall war? Oder deutlicher gefragt: Seit wann begleichen unzählige kleinen Schuldner wie ich die Säumigkeiten und die Schulden der großen Schuldner? Ist das etwa bei Benko erst jetzt, mit seinem Konkurs, der Fall, oder zahlen wir schon länger für ihn, wie das nun angesichts unbezahlter Steuern und anderer Zahlungsausfälle nicht sonderlich überraschen dürfte. Genau so wie sie umgekehrt, so nehme ich an, als Bank wohl auch weiterhin pflichtschuldig Ihre Miete an eine der Gesellschaften dieses Herrn begleichen, dessen behaupteter Reichtum sich von meinem vielleicht unterscheiden mag, keineswegs aber sein bis heute gepriesenes Geschäftsmodell:
Sind es bei ihm Gebäude, die er manchmal durch tatsächliche Sanierungen aufwertet, oft genug aber lediglich über sogenannte Buchwerte, die am Ende den sogenannten Realwert steigern, so verstecken meine Gebäude von Anfang an nicht, dass es in Wirklichkeit nur Geschichten sind. Mit einer einzigen Ausnahme, diese Geschichte hier, sie ist Realität. Weshalb nicht einmal der Anschein erweckt werde dürfte, Sie wären als meine Bank in dem „Tagebuch meiner Insolvenzverschleppung“ bloß zwischen den Zeilen Bewohner des darin Erzählten. Ganz im Gegenteil, sie spielen neben mir eine der Hauptrollen, wofür ich Sie seit Jahr und Tag auch anständig bezahle, anstatt wie Herr Benko Miete dafür zu verlangen. Nun soll aber dessen Hybris in keiner Weise Vorbild sein, zumal er selbst von diesen Zahlungen augenscheinlich die längste Zeit profitierte. Die Frage, wie all das weitergehen soll, im Großen wie im Kleinen, stellt sich dennoch umso mehr. 70 Tage sind es bei mir noch, der Countdown läuft, länger kann ich mir Ihre Dienste nicht mehr leisten. In Wirklichkeit, also nicht nur in dieser Geschichte, Ihr Martin Prinz.
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Das Geld ist da. 9000 € per 10.1.2024. Der Kontostand am Donnerstagmorgen, 11.1.2024, liegt bei einem Buchungssaldo von 120,76 €, der Disposaldo bei 8.879,24 €. Kaum zu glauben (und es ist auch nicht glaubhaft), da noch der Unterhalt für den Sohn, die Miete sowie der unbezahlte Sozialversicherungsrest von 2023 zu bezahlen sind, womit du bei nur mehr 6.504,24 € landest. Ebenso müssen die Skilanglaufskier und -schuhe als Weihnachtsgeschenk und Notwendigkeit für den schnell wachsenden Jugendlichen beglichen werden, die trotz Großelternbeteiligung den Saldo auf 6.304,24 € drücken. Und spätestens mit der Kreditkartenabrechnung für Dezember 2023 wird der Rest im Überziehungsrahmen schon kommende Woche bei kaum mehr als 5350 € liegen. Bis Mitte Februar stehen zudem bei einem der Geldausleiher, einem Freund, der sich Summe und Rückzahlungstermin sicherheitshalber schriftlich bestätigen ließ, 2.000 € Rückzahlung an. Dementsprechend bleiben die nächste Miete, der nächste Unterhalt, die eigenen Lebenshaltungskostenn und derlei mehr hier lieber vorerst ohne Zahlenwert und Subtraktion, sonst stimmt schon nach wenigen Folgen nicht einmal der Titel dieser Aufzeichnungen, kann doch angesichts dessen weder von 80 Tagen die Rede sein, noch von nunmehr 70 verbleibenden. So, sagst du, ist das eben im „Tagebuch meiner Insolvenzverschleppung“. Und nicht anders mit den ersten Ausgaben in diesem 11.1.2024 für Frisör und Wein. Denn in Wirklichkeit bist du keinen Cent im Minus. Jedenfalls nicht bei deiner Bank. Gesagt hättest du ihr das jetzt!