Leberkrank sehen meine Augen nur noch gelb. Nicht mehr lange und auch das Fensterglas, seine fabelhafteste Erscheinung, wird den Sand nicht mehr aufhalten können.
Zusammen, was zusammen gehört. Ich gehöre nicht dazu. Wir gehörten nie dazu.
Mach kaputt, was dich kaputt macht. Ich weiß die Schuld trifft uns.
Euch als Tote hatten wir verschleppt und behalten. Konserviert.
Eure Toten gaben wir euch nicht zurück. Eingewickelt oder ausgewickelt lagen die Zwerge, weit weg von ihren sieben Bergen und schon lange über eines der sieben Meere verschiff, in ihren klimatisierten, gläsernen Schneewittchensärgen. Haut so schwarz wie Ebenholz, Lippen so schwarz wie Ebenholz und das Haar, mag es auch einmal schwarz wie Ebenholz gewesen sein, ist nicht einmal mehr zu erahnen.
Euch als Lebenden mussten wir Einhalt gebieten. Konstant.
Um Haltung zu bewahren, sahen wir mit einem Auge konsterniert eurem haltlosen Untergang zu, während das andere konzentriert weggeworfen wurde, in der Hoffnung somit auch die eigene Schuld ungesehen zu machen. Im Aus das Auge, im Aus der Sinn. Das etwas nicht passt ist augenscheinlich, wenn wo das Auge hinsieht, nur ein Meer voll Leichen ist. Unsere Ford‘sche Arbeitsteilung ließ uns die Verantwortlichkeit bis zur ansehnlichen Unkenntlichkeit kernspalten. Mit Fließbandgeschwindigkeit trieb die eigene Unschuld über das Wasser, sodass das Salz der Tränen unbemerkt blieb.
Tot passt ihr ins Museum, lebend nicht auf den Arbeitsmarkt.
Hättet ihr doch mal auf eure Schätze aufgepasst, euch intensiver angepasst. Das habt ihr immer schon verpasst. Nicht immer sind wir im Guten gekommen. In jüngster Zeit schon. Der PromethEUs bringt das Feuer der Zivilisation. Keine Angst vor Verbrennungen, denn ganz ohne Wunden wird es nicht gehen. Nation-Building ist kein Kindergeburtstag. Trotzdem gab es doch immer Geschenke. Statt Feuerwehrautos, Konfetti und Sterndlspucker brachten wir euch Panzer, Granaten und Streubomben. War doch alles lieb gemeint.
Doch unsere camouflierten Liebesbriefe sind an euren übergroßen Nasen abgeprallt.
Als Fälschungen verunglimpft.
Syrieno de Bergkarabach.
Barfüßig steht ihr an unseren Außengrenzen.
Das passt nicht.
Europa ist ein Schuhkarton.
Putz dich, Aschenputtel!
Wir passen schon lange nicht mehr auf. Das Einzige, was stumpfer ist als unsere Emotionen gegenüber eurem Leid, sind unsere Waffen zu dessen Bekämpfung. Eine Schande? Selbst wenn, ist diese nur in Ziegel, nie in Stein gemeißelt. Und wenn die Ziegel zu bröckeln beginnen, müssen sie Schicht für Schicht dem Schichtbeton weichen, der nach innen die Notwendigkeit unserer inneren, schicht- und spezienspezifischen Sicherheit betont.
Nach außen betonen wir Betroffenheit und die Gespräche mit gleichberechtigten Partnern.
Wie aber soll der, der sich nicht mehr in den Spiegel schauen kann, wissen, wo Augenhöhe ist. Überheblich? Unendlich unerheblich.
Alle spürten. Deshalb flößten wir uns lange genug die Droge der Gleichgültigkeit, das Heroin der Heroen, intravenös ein, bis wir taub wurden. Wir haben uns allerlei Ausreden zurechtgelegt, die nie so recht zu passen schienen. Die schlechteste war hierbei immer die effektivste. Wer den Süden geografisch unten verortet, kann dort nur Untermenschen finden. Einzig die Ehrerbietung der Franza ergoss sich einst aus tiefstem Inneren auf euren heimischen Boden. Die ganze Schande kam in ihr zusammen, weil sie sonst niemand spürte, so sagt frau. Um uns von ihr, der Mahnerin, abzugrenzen, mussten wir der Hochmut werden, sie der Fall.
Mit den Fetzen eurer Toten, die wir ausgewickelt, versuchten wir die hinterlassenen Wunden zuzudecken. Mit den Scheinen, die gegen Öl wir abgewickelt, versuchten wir uns schmierig an plastischen Eingriffen, rutschten hin und wieder ab, sodass das rostfreie Skalpell unserer Zivilisation immer neue Schnitte aufzog. Unsere Dreifaltigkeit, in die wir euch eingewickelt, entartete zum Dreieckshandel. Die gordischen Knoten zwischen euren Stämmen, die wir entwickelt, wurden zum Hilfeschrei, als ihr euch gegen uns. Wer unterentwickelt braucht Entwicklungshilfe, wer sie ausschlägt, muss mit Rückschlägen rechnen. Ihr sündigen Südländer wollt uns sühnen? Solange eure Böden voll unsrer Schätze, machen wir von selbst wieder gut. Süffisanten Süßstoff in unseren schneeweißen Gesichtern.
Kontrollierter Kolossalkolonialismus zur Unkenntlichkeit abgestuft.
Handschlag Geldregen UNO-Stacheldraht.
Neuer Mann Demokratie Satellitenstaat.
Letztere verflüchtigen sich immer mehr. Lässt die Gravitation nach, oder warum werden die Ellipsen der Flugkörper im Orbit immer unregelmäßiger, leiern aus, eiern in die Unendlichkeit. Was kommt zurück.
Wir ahnen das Ungeahnte. Zu spät. Das ist kein Zufall. Das ist keine Übung.
Wenn sie je ernsthaft vorhersehbar gewesen sein sollte, dann waren alle Warnungen vor der Vergeltung zwecklos gewesen. Die Versandung Europas; Korn um Korn. Sie ist der einzige Weg, um aufzulösen. Niemand macht je irgendetwas wieder gut. Diesmal musste der Sand nicht mehr ins Getriebe. Er war es selbst. Und egal was unter dem Pflaster gewesen sein mag, anstatt es kurz und schmerzhaft runterzureißen, ist es jetzt voll und ganz verdünt.
Die Rückeroberung erfolgt in Falschfarben. Die Gefahr war schwarz. Dann war sie grün und rot. Vielleicht hätte sie auch hellblau sein können. Immer braun. Weiß auf schwarzem Untergrund. Weiß auf grünem Untergrund.
Millimeter für Millimeter legt sie sich Ockergelb auf Europa.
Die Rückeroberung erfolgt lautlos. Kein Überschall oder Maschinengewehrdonner geht auf uns hernieder. Jede Pforte zum Märtyrertum von vornherein verschlossen. Nicht modern. Nicht antiquiert, unserem mittelalterlichen Feindbild mit Krummsäbeln rasselnd auf dem Rücken von Altweltkamelen entsprechend, kommt Afrika über uns.
Über uns kommt eine diffuse Ahnung. Ein Nebel. Eine diesige Verheißung.
Millimeter für Millimeter legt sich ein schweigender Schleier der Schande auf Europa.
Die Rückeroberung erfolgt friedlich. Welcher Krieg könnte es auch nur ansatzweise in einer der Vergeltung angemessenen Qualität aufnehmen. Verhältnismäßigkeit spielt keine Rolle. Europa wird hellwach in einen Dornröschenschlaf gelegt. Eine sanfte und unbemerkte Euthanasie, als hätte sie selbst es so gewollt.
Millimeter für Millimeter legt sich der Schlaf in das entzündete Auge Europas.
Die Rückeroberung erfolgt unmenschlich. Ohne Grund haben wir gewarnt vor den Wellen, vor den Strömen. Den Vorabend des Abendlandes hätten sie vorankündigen sollen. Neue Höllenkreise haben wir gezogen. Entlarvende Enklaven und Exklaven für Exsklaven. Zwischen- und Endlager, zwischen den Stühlen und am Ende der Welt. Wir hielten euch unter uns, doch nun steh ihr als Phantom darüber.
Millimeter für Millimeter legt sich die postanthropische Hitze auf Europa.
Die Rückeroberung erfolgt atemlos. Die Luft ist draußen auf beiden Seiten. Niemand weiß, ob der tödliche Sand in unseren Lungen eure Atemwege freilegen wird. Selbst wenn wir uns den Moment des letzten Atemzugs teilen sollten, könnte dieser unterschiedlicher nicht sein. Ist es für euch ein erleichtertes Aufatmen, so ist es für uns die röchelnde Erstickung, getarnt als vermeintliche Erlösung vom nahenden Alterstod. Hilfe, ich sterbe.
Millimeter für Millimeter legt sich die ungewollte Sterbehilfe der Entwicklungsgeholfenen auf Europa.
Das Fenster hält noch stand. Ich glühe. Vielleicht bin ich nicht Europa, denke ich und kann euer trockenes Lachen nicht mehr hören, weil der Sand schon das Innerste meiner Ohren erreicht, sich im mittelalterlichen Getriebe, Korn um Korn zwischen Hammer und Amboss gedrängt und die Produktion ein für alle Mal stillgelegt hat. Nur noch die Knochenleitung trägt das ansonsten ohrenbetäubende Zähneknirschen in mein Bewusstsein.
Bald werde ich vollständig eingehüllt sein in ockergelb. Der Mantel des Judas. Wohl kaum.
Kein Verrat. Nur ein endgültiges Herabsteigen aus dem Turm. Keineswegs an den Haaren herbeigezogen. Der Sand dringt in jede Falte. Rapunzel legt ihr Kleid auf uns.
Europa versandet.