Er fuhr Schrittgeschwindigkeit und begutachtete die Bäume am Straßenrand. Sie sahen alle ungefähr gleich stämmig aus und würden ihren Zweck erfüllen. Als Problem könnte sich die Protzkarre herausstellen, in der er unterwegs war. Sie gehörte Julia, seiner Exfrau. Die Knautschzone des SUV war imposant, die Fahrgastzelle durch unzählige Crashtests soweit optimiert, dass man als Insasse wohl beinahe jeden Unfall überlebt hätte. Wollte er auf Nummer sicher gehen, müsste er auf die Tube drücken, um eine möglichst hohe Aufprallenergie zu erzeugen. Je mehr davon, desto kürzer und schmerzloser sein Weg ins Nirwana.
Vielleicht hätte er besser einen Passat gemietet. Bei einem Passat wäre weniger Aufprallenergie vonnöten gewesen. Oder einen Smart. In einen Smart passte allerdings keine Nachtkommode.
Man konnte nicht an alles denken. Er hatte schon an vieles gedacht, zum Beispiel die Versicherung zu einem unverdächtigen Zeitpunkt abgeschlossen, also nicht letzten Monat und auch nicht vor drei Monaten. Vor einem Jahr, das war unverdächtig, jedenfalls glaubte er das. Vor drei Jahren wäre sicher noch unverdächtiger gewesen, aber damals hatte er noch ganz andere Pläne gehabt.
Es musste wie ein Unfall aussehen. Wegen der Kinder, der Versicherung und der Nachwelt, in dieser Reihenfolge. Jenny und Chris sollten keinen Selbstmörder als Vater haben. Versager und Selbstmörder, das wäre zu viel, da könnte selbst eine Therapie nicht mehr viel ausrichten.
Bei Selbstmord gäbe es keinen Cent. Nicht, dass die Kinder das Geld wirklich gebraucht hätten. Julia verdiente mit ihrer Baufirma mehr als genug. Trotzdem wäre die Versicherungssumme willkommen. Seine Prekariatsexistenz würde nach seinem Tod schließlich doch noch etwas abwerfen.
Durch Sekundenschlaf aus dem Leben gerissen, hieße es. Womit die fehlenden Bremsspuren erklärt wären. Julia würde sich erinnern, dass er tagsüber manchmal unter Sekundenschlafattacken gelitten hatte. Reines Theater, vor ein paar Monaten hatte er damit angefangen, beim gemeinsamen Abendessen mit den Kindern: Zack, die Augen fielen ihm zu, zack, er hörte Julia oder die Kinder eine spöttische Bemerkung deswegen machen, zack, die Augen waren wieder auf. Geschnarcht hatte er immer schon, wegen der Nasenpolypen, was Julia bezeugen könnte. Heftiges Schnarchen und Sekundenschlaf, da brauchte die Versicherung nur noch eins und eins zusammenzuzählen und käme auf Schlafapnoe.
Aber die Versicherungstypen lebten nicht hinterm Mond. Zu deren Berufsprofil gehörte es, immer und überall Betrug zu wittern. Denen bliebe nicht verborgen, dass er chronisch pleite gewesen und häufig mit den Unterhaltszahlungen für die Kinder in Rückstand geraten war. Jahrelang hatte er im Auftrag vom British Council, der Akademie der Künste und anderer Kultureinrichtungen Videos von Podiumsdiskussionen, Dichterlesungen oder Performances aufgenommen. Ein Spitzenverdiener war er deswegen nicht gewesen, aber es hatte zum Leben gereicht. In den letzten beiden Jahren dann kaum mehr Aufträge, die Kulturmanager setzten lieber auf preiswerte Jüngere oder gleich Praktikanten.
Und seine Dokumentarfilmerei? Auch nicht der große Hit. Immerhin hinterließe er ein preisgekröntes Werk über die Rock- und Punkmusikszene der Achtzigerjahre im Dreiländereck, das auf mehreren Festivals und sogar im Fernsehen gelaufen war, wenn auch nur spätabends im Regionalprogramm. Schon ein paar Jährchen her, um genau zu sein, vierzehn. Mit seinem zweiten Projekt steckte er seit langem fest. Doku über die Berliner S-Bahnsurferszene. Der Förderantrag war abgelehnt worden und Eigenkapital besaß er nicht.
Gab er seinen Namen in eine Suchmaschine ein, erschienen zuerst zahlreiche Webseiten über einen Motorradrennfahrer gleichen Namens, bis schließlich sein Name doch noch auftauchte.
Vom Alter her wären es jetzt die Jahre gewesen, die seine Altersgenossen zu den besten verklärten. Bei ihm war es schon vorher bergab gegangen, und im Alter wäre kaum Besserung zu erwarten, im Gegenteil. Er fragte sich, warum die Deutsche Rentenversicherung die jährlichen Bescheide an ihn nicht in einem Couvert mit Trauerrand verschickte.
Er streckte den rechten Arm nach hinten, seine Finger strichen über die kühle Oberfläche der Nachtkommode, die sich durch die Aufprallenergie wohl bis zur Unkenntlichkeit verformen würde. Sie war sein Alibi. Es war doch so, dass ein Mann, der seine Selbsttötung plante, nicht am Vortag der Tat bei Ebay eine Nachtkommode ersteigerte und sie dann in einem Kaff im Niederen Fläming abholte, um kurz darauf vorsätzlich gegen einen Baum zu donnern. Das wäre absurd. Das würde die Versicherung wohl ähnlich sehen. Allerdings könnte sie sich fragen, warum er nicht in Berlin eine gebrauchte Nachtkommode erstanden hatte. Da gab’s doch sicher auch welche. Aber zu dem Zeitpunkt eben keine Mondo Opaca, wie die Versicherung herausfinden würde. Die aber besaß eine Frau in Gräfendorf, und genau dort hatte er sie abgeholt. Man würde noch weiter herumstochern und dadurch erfahren, dass er sich seit Tagen bei Ebay für Nachtkommoden interessiert hatte, und seine Kinder, die jedes zweite Wochenende bei ihm waren, könnten vom Chaos in seiner Wohnung berichten, mit Socken auf dem Boden, Handtüchern auf der Sessellehne, Waschlappen unauffindbar irgendwo im Kleiderschrank, da war es nachvollziehbar, dass er, um Ordnung in die Bude zu bekommen, über eine Nachtkommode nachgedacht hatte.
Er näherte sich einer Kreuzung, bog nach links ab und landete auf einer weiteren Allee. Auch hier waren die Bäume kräftig und widerstandsfähig, wie ein Unfallkreuz am Straßenrand bewies.
In Julias Auto herrschte Rauchverbot. Mit ihrem Emissionsmonster die Gegend verpesten, aber hier drinnen Rauchverbot. Typisch Julia, aber er hielt sich daran. Das Wrack würde ja genau untersucht werden, man käme im Unfallgutachten zu dem Schluss, dass es sich um ein rauchfreies Wrack gehandelt habe, vorausgesetzt der Wagen ginge beim Aufprall nicht in Flammen auf. Julia würde ihm das, bei all seinen Fehlern, hoch anrechnen, dass er sich bis zuletzt ans Rauchverbot gehalten hätte.
Er fuhr rechts ran, stieg aus, steckte sich eine Zigarette an. Ein Motorradfahrer zerfetzte die Stille, dann war wieder alles ruhig. Ein leichter Wind bewegte die Blätter, er ging in die Wiese und weiter in Richtung eines Wäldchens und stieß an dessen Rand auf einen Tümpel. Hier war das Gras noch feucht vom Tau. Er ging hundert Meter zurück in die Sonne, zog seinen Pullover aus und benutzte ihn als Decke. Insekten zirpten und summten, Vögel zwitscherten, und als er einmal einen Raubvogel dicht über sich Kreise ziehen sah, zückte er das Telefon und suchte im Internet nach Vogelbestimmungsseiten. Ehe er das Objekt seines plötzlich erwachten ornithologischen Interesses mit Fotos verschiedener Raubvögel vergleichen konnte, war es bereits entschwunden.
Der hellblaue Pullover hatte grüne Grasflecken abbekommen, die nur schwer rausgingen. Das bräuchte ihn nicht mehr zu kümmern. Das Telefon vibrierte, auf dem Display leuchtete Julias Name. Er steckte es in die Gesäßtasche und ging zum Auto. Ließ den Koloss zurück auf die Straße rollen und fuhr weiter in gemächlicher Geschwindigkeit. Ein Renault Twingo überholte, und hätte der Fahrer dabei nicht frech gegrinst, hätte er ihn mit seinem kleinen Triumph davonkommen lassen. Stattdessen tippte er aufs Gaspedal, schon war die Sardinenbüchse abgehängt. Vibrationen an seinem Gesäß, er fischte das Telefon aus der Tasche. Diesmal nahm er den Anruf an.
„Wo bist du gerade?“, fragte Julia
„Noch unterwegs.“
„Es gibt Probleme auf der Baustelle, ich kann nicht wie abgesprochen zum Elternabend, könntest du ein-?“
Die Verbindung war unterbrochen. Nein, er könnte nicht einspringen, gar nichts könnte er mehr am Abend tun.
Wieder so ein Heini, der ihn überholte, diesmal mit hundert Sachen, BMW-Fahrer, unfreiwilliger Selbstmordkandidat.
Wieder das Telefon, auferstanden von den Toten.
„Du warst plötzlich weg“, sagte Julia.
„Ich kann dich jetzt hören“, sagte er.
„Und, könntest du einspringen?“
„Sag mir nochmal, wann der Elternabend beginnt.“
„Um acht.“
Julia würde nach seinem Tod aussagen, er habe normal geklungen, nicht deprimierter als sonst. An dem Punkt würde die Versicherung nachhaken. Er sei also oft deprimiert gewesen? Na ja, so habe sie das nicht gemeint, ihr Exmann war eben keine Frohnatur. Sonst irgendwelche Auffälligkeiten? Frank habe gern auf dem Bett gelegen und die Decke angestarrt. Ihm seien dabei angeblich gute Ideen gekommen. Sie habe es dagegen für Zeitverschwendung gehalten.
Als seine Tochter klein war und er ihr schon fünf Bücher vorgelesen und sie schon drei Folgen vom Kleinen Maulwurf angeschaut hatte und trotzdem noch nicht einschlafen konnte, war das letzte Mittel, dass sie beide die Decke anstarrten. Jenny erzählte dann, was sie dort sah, Drachen, Löwen, Schwäne, Meerjungfrauen oder Finn aus dem Kindergarten, und irgendwann verlangsamte sich ihr Plappern und sie schlief.
Er fuhr wieder rechts ran, kletterte aus dem Asphaltdominator, nächste Zigarette. Beim Rauchen lehnte er sich an einen Baum. Der hier, dieser Lindenbaum, gefiel ihm. Stand strategisch günstig, beim Eingang der Kurve. Statt die Kurve zu nehmen, würde er geradeaus fahren. Auf hundertfünfzig beschleunigen, dann einfach geradeaus.
Er schloss die Augen, versuchte sich das Nichts vorzustellen. Das Nichts hatte es schon gegeben – vor seiner Geburt. Er würde bloß ins Nichts zurückkehren. Sein Leben stellte die Ausnahme dar, das Nichts die Regel. Das Zeitfenster, in dem er existiert hatte, es würde einfach wieder geschlossen werden.
Die Zigarette war aufgeraucht. Kurze Pause, bevor er sich die nächste ansteckte. Er holte die Wasserflasche aus dem Auto und nahm einen großen Schluck. Legte sie ins Gras und umarmte den Baum. Warum denn nicht, sah ja keiner zu.
Das Telefon ließ nicht locker.
„Du brauchst mir den Wagen heute Abend nicht mehr vorbeizubringen, morgen Früh reicht völlig.“
„In Ordnung.“
Er steckte das Ding wieder ein. Noch zwanzig Minuten, er wollte es hinter sich bringen. Konnte nicht schaden, sich den Eingang der Kurve mal genauer anzuschauen. Es herrschte ja kaum Verkehr. Einen halben Kilometer wollte er zurückgehen, dann umdrehen und das Stück abgehen, auf dem er voll aufs Gaspedal treten würde.
Die letzten Meter seines Lebens.
Er schwitzte, zog den Pullover aus und hängte ihn über die Schultern. Der Quälgeist am Gesäß machte sich wieder bemerkbar.
Julia fragte, ob das mit dem Elternabend für ihn auch wirklich in Ordnung sei. Was war denn da los? Kurz vor Toresschluss noch eine letzte Empathiegeste? Aber laut Werbung verfügte selbst ihre Protzkarre über Empathie. Die könne sich nämlich ins Verkehrsgeschehen und den darin Beteiligten regelrecht hineinfühlen.
Nächste Zigarette, ihm blieben noch drei, hielt er seinen Zeitplan ein, bedeutete das alle sieben Minuten eine.
„Aber ich habe doch gesagt, dass das okay ist.“
Eine Spur zu heftig, doch Anspannung war in seiner Lage entschuldbar. Und gerade zischte ein Rennboot an ihm vorbei.
„Ist alles gut bei dir?“, fragte Julia. „Wo bist du?“
„Noch in Brandenburg. Ich vertrete mir gerade die Beine.“
Die Sonne brannte auf seinen Schädel, er hatte die Kappe vergessen. Am Vormittag war es noch wolkig gewesen, ein kühler Wind hatte geweht. Die fünfhundert Meter waren erreicht, er überquerte die Straße und ging langsam zurück, der Kurve, seiner Schicksalskurve, entgegen. An der Unfallstelle würde Julia wohl ein Kreuz aufstellen. Oder falls nicht, täte es einer von seinen Freunden. Julia und die Kinder, in Begleitung ihres neuen Ehemanns, kämen nach seinem Tod wohl ein paar Mal hierher, um am Straßenkreuz Blumen niederzulegen und Kerzen aufzustellen. Auch die Freunde machten sich bestimmt auf den Weg, mal raus aus der Stadt, kleine Landpartie für einen guten Zweck.
Mitten aus dem Leben gerissen, hieße es in der Traueranzeige. Oder: Frank hatte noch soviel vor.
Er hoffte, die Anzeige käme ohne einen Spruch von Rilke oder Hesse aus.
Wieder ein vorbeizischendes Rennboot, das auch noch wild hupte und dann eine Vollbremsung hinlegte, Reifen quietschten, Schotter flog auf, es roch nach Gummiabrieb. Ein Mann stieg aus und kam auf ihn zugestürzt.
„Sind Sie wahnsinnig, hier so herumzuspazieren?“
Er hob entschuldigend den Arm, der Mann beruhigte sich und lief zurück zu seinem Auto. Kavalierstart und mit Karacho zurück auf die Piste.
Noch zweihundert Meter bis zur Kurve. Nachher würde er im letzten Moment vor dem Aufprall die Augen schließen. So hatte er es auch bei seinen Radunfällen gemacht. Als das British Council und die Akademie der Künste immer seltener anriefen und Julia ihm mit Hartz IV in den Ohren lag – dann kommt das Amt für die Unterhaltszahlungen auf! –, war ihm eines Nachmittags an einer Kreuzung die Erleuchtung gekommen. Die Ampel zeigte grün, er wollte gerade die Straße überqueren, da raubte ihm ein rechtsabbiegender Toyotafahrer die Vorfahrt. Vermutlich wäre ihm bei einem Unfall wegen der geringen Geschwindigkeit nicht viel passiert. Aber der Trottel hätte Schmerzensgeld zahlen müssen.
Telefonierende Autonauten waren keine Seltenheit. Ebenso wenig Leute, die am Steuer einen Kurznachrichtenwechsel pflegten. Es gab auch welche, die sich ins Gespräch mit dem Beifahrer vertieften und drumherum alles vergaßen. Die Vor-sich-Hinträumer und In-Gedanken-Verlierer nicht zu vergessen. Sie alle schauten entgeistert, wenn sie mit einem Fahrradklingeln daran erinnert wurden, dass sie gerade dabei waren, einen Hollandradpedalisten über den Haufen zu fahren. Jahrelang war er vorausschauend unterwegs gewesen, x-mal hatte er auf seine Vorfahrt verzichtet. Es reichte.
Gleich am nächsten Morgen postierte er sich hundert Meter von der gestrigen Kreuzung entfernt und fuhr bei Grün los, natürlich mit Helm. Zwanzig Mal passierte nichts, dann übersah ihn eine Focusfahrerin, die gerade mit ihrem Beifahrer quatschte. Böser Sturz, kreischende Bremsen, großer Schrecken, sie versuchte es mit einvernehmlicher Lösung in Form zweier Fünfzigeuroscheine, er bestand auf Polizei und Krankenwagen. Das Ergebnis der Untersuchung: leichte Knieverletzungen, Brustkorb- und Unterarmprellungen sowie Hautabschürfungen.
Er nahm sich einen Anwalt. Der machte geltend, dass sein Mandant bereits für den Berlin-Marathon gemeldet war und seit einem halben Jahr dreimal die Woche hart trainierte. Der Marathon würde für ihn jetzt ins Wasser fallen. Er erhielt fünftausend Euro Schmerzensgeld, kaufte davon neue Räder für die Kinder und beglich seine Schulden bei Julia.
Zwei Monate später war er wieder blank. Nächste Kreuzung, diesmal Prenzlauer Berg, telefonierender Hamburger, schwere Prellungen, Gehirnerschütterung, achttausend Euro, zwei Wochen mit den Kindern in Urlaub, die katastrophale Auftragslage überbrückt.
Halbes Jahr später dritter Unfall, höheres Tempo, höheres Risiko, höhere Aufprallenergie, Mercedesfahrer in Sinfoniekonzert versunken, Schleudertrauma, zehn Tage Virchow, fünfzehntausend Euro, das neueste iPhone für die Kinder, vom Rest acht Monate die Lebenshaltungskosten bestritten und neues Super-8-Filmmaterial gekauft.
Aller guten Dinge waren drei, nicht vier.
Zurück am Auto die nächste Zigarette. Er prüfte, ob es Empfang gab. Gab es, aber Julia rief nicht mehr an. Warum sollte sie auch, war doch alles geklärt. Andererseits hatte sie gefragt, ob alles gut bei ihm sei. Nichts weiter als eine Floskel. Eine Floskel, die auch seine früheren Auftraggeber gern benutzten, wenn er sie wegen eines Jobs mal wieder händeringend angerufen hatte und sie mantramäßig verkündeten, dass es zur Zeit leider schlecht aussehe. Und sonst alles gut bei dir, Frank?, sagte dann gern eine festangestellte Sylvia oder ein festangestellter Bruno, bevor sie sich verabschiedeten und auflegten.
Floskel hin oder her, Julia durfte auf keinen Fall Verdacht schöpfen. Er öffnete die Heckklappe, strich zärtlich über die Mondo Opaca. Sie, die vor Ort wie nagelneu Aussehende, einen kühlen Glanz Ausstrahlende, hatte durch den Transport in dem engen Treppenhaus bzw. beim Einladen einige Kratzer und sogar eine kleine Delle abbekommen.
Er rief Julia an. Die musste gerade in eine Besprechung mit der Bauleitung.
„Ich ruf dich in zwei Stunden zurück.“
Aufgelegt. Mist! Wer weiß, wie sie später, nach seinem Tod, diesen Anruf interpretieren würde. Was hatte Frank noch sagen wollen? Irgendein Abschiedswort? Vielleicht eine Botschaft an die Kinder? Also vielleicht doch kein Unfall. Warum war Frank überhaupt so schnell gefahren? Er schimpfte doch immer über die Raser, war selbst, als er noch ein Auto besaß, eher der Typ Sonntagsfahrer mit Hut auf der Ablage gewesen. Oder hatte Frank etwa das Gas- mit dem Bremspedal verwechselt? Frank hatte ja zwei linke Hände gehabt. Vielleicht hatte auch mit der Fußkoordination etwas nicht gestimmt.
Er wählte erneut Julias Nummer und erwischte die Mailbox. Bat um Rückruf. Kaum hatte er die Nachricht hinterlassen, bereute er es schon. Zehn Minuten später, er rauchte gerade seine vorletzte Zigarette, klingelte das Telefon.
„Was ist denn so wichtig, dass du nicht zwei Stunden damit warten kannst?“
„Ich dachte, wir könnten nächste Woche mal wieder gemeinsam zu Abend essen.“
„Das ist es, was du mir sagen wolltest?“
„Ich meine, wir alle zusammen, auch Robert und sein Sohn.“
„In deiner winzigen Wohnung? Wie soll das denn gehen? Muss Schluss machen.“
Seine Wohnung war tatsächlich zu klein für größere Abendessen. Er lebte ja immer noch wie ein Student. Wie der ewige Student, der mit der Bologna-Reform aber längst ausgestorben war. Sie residierte hingegen in einem so genannten Altbaujuwel. Seit die Kinder größer waren und mehr Platz benötigten, murrten sie, wenn sie jedes zweite Wochenende bei ihm verbrachten. Er räumte für sie sein großes Zimmer, das gleichzeitig Schlaf-, Wohn- und Arbeitszimmer war, und schlief in dem Kabuff von Gästezimmer, in dem seit Jahren kein Gast mehr übernachtet hatte. Die Freunde aus der Studentenzeit wählten für ihren Besuch in Berlin lieber ein Hotel oder eine Ferienwohnung.
Wenn die Kinder freitagnachmittags bei ihm einrückten, lud er sie oft ins Kino und anschließend ins Restaurant ein und gab dafür soviel Geld aus, wie er sonst allein für sich in einer ganzen Woche nicht verbrauchte.
Er rauchte die letzte Zigarette, stieg dann ins Auto. Das Telefon legte er eingeschaltet auf den Beifahrersitz, glaubte aber nicht, dass Julia sich noch einmal melden würde. Nach der Sitzung riefe sie an, oder auch später am Abend, um sich zu erkundigen, wie der Elternsprechtag gelaufen wäre.
Er startete den Motor, fuhr ein Stück zurück und wendete an einer Parkbucht. Ungefähr vier Kilometer bis zur Kurve, er beschleunigte auf sechzig. Hinter ihm ein Reisebus, der aus dem Nichts aufgetaucht war. Er bremste ab, doch statt zu überholen, hupte der Fahrer. Nutzte nichts, er musste weiterfahren bis zur nächsten Abzweigung. Sie tauchte erst nach acht Kilometern auf.
Das ganze Stück zurückfahren oder eine neue Kurve suchen? Zuerst eine Zigarette, aber das Päckchen war leer. Er fuhr weiter nach Storkow, brauchte dafür eine halbe Stunde. Wo er einmal hier war, könnte er auch etwas essen. Es fand sich eine Pizzeria, er bestellte eine Minestrone und Pizza Napoli, abschließend trank er noch einen Kaffee. Neue oder alte Kurve? Alte Kurve.
Mehr Verkehr als vorhin, kein Wunder, bald war Feierabend. Er verfuhr sich, fand das Alleenstück von vorhin nicht mehr. Eine Stunde irrte er herum, selbst auf den abgeschiedensten Alleen war jetzt jederzeit mit Fahrzeugen zu rechnen, er wollte aber ohne Augenzeugen abtreten. Es bliebe ihm nichts anderes übrig, als seine Tat auf den Abend zu verschieben. Das wäre ja nicht so schlimm, schließlich gab es in der Gegend überall Wald und Wiesen. Er könnte einen Spaziergang machen oder sich ins Gras legen. Es war warm und Zigaretten hatte er zu Genüge
Das Telefon auf dem Nebensitz vibrierte. Der Name seiner Tochter leuchtete auf. Jenny fragte, ob sie bei ihm ein paar Tage bleiben könne.
„Stress mit Mama und Robert.“
„Du musst sie aber vorher fragen.“
„Mach ich.“
„Ich habe eine Nachtkommode gekauft.“
„Cool.“
Er fuhr rechts ran, sprang aus dem Wagen. Rauchte eine Zigarette und ging in die Wiese, kehrte aber gleich wieder zurück. Schnapsidee zu glauben, er könnte die Stunden bis zum Abend hier totschlagen, um dann entschlossen sein Vorhaben umzusetzen. Mal abgesehen davon, dass ihm bis dahin vermutlich wieder die Zigaretten ausgegangen wären. Schlauer wäre es, den Rückweg anzutreten und an einem anderen Tag hierher zurückzukommen. Er steckte sich eine Zigarette an und startete den Motor. Als er in Berlin ankam, war die Schachtel fast leer und in der Protzkarre roch es wie in einer Raucherkneipe. Julia würde sie ihm ganz sicher nicht mehr überlassen. Die Opaca müsste er über Nacht auf dem Balkon ausdünsten lassen.
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