Die Nachtkommode

Erzählung

Von

Er fuhr Schrittgeschwindigkeit und begutachtete die Bäume am Straßen­rand. Sie sahen alle unge­fähr gle­ich stäm­mig aus und wür­den ihren Zweck erfüllen. Als Prob­lem kön­nte sich die Protzkarre her­ausstellen, in der er unter­wegs war. Sie gehörte Julia, sein­er Exfrau. Die Knautschzone des SUV war imposant, die Fahrgastzelle durch unzäh­lige Crasht­ests soweit opti­miert, dass man als Insasse wohl beina­he jeden Unfall über­lebt hätte. Wollte er auf Num­mer sich­er gehen, müsste er auf die Tube drück­en, um eine möglichst hohe Auf­pral­len­ergie zu erzeu­gen. Je mehr davon, desto kürz­er und schmer­zlos­er sein Weg ins Nir­wana.

Vielle­icht hätte er bess­er einen Pas­sat gemietet. Bei einem Pas­sat wäre weniger Auf­pral­len­ergie von­nöten gewe­sen. Oder einen Smart. In einen Smart passte allerd­ings keine Nachtkom­mode.

Man kon­nte nicht an alles denken. Er hat­te schon an vieles gedacht, zum Beispiel die Ver­sicherung zu einem unverdächti­gen Zeit­punkt abgeschlossen, also nicht let­zten Monat und auch nicht vor drei Monat­en. Vor einem Jahr, das war unverdächtig, jeden­falls glaubte er das. Vor drei Jahren wäre sich­er noch unverdächtiger gewe­sen, aber damals hat­te er noch ganz andere Pläne gehabt.

Es musste wie ein Unfall ausse­hen. Wegen der Kinder, der Ver­sicherung und der Nach­welt, in dieser Rei­hen­folge. Jen­ny und Chris soll­ten keinen Selb­st­mörder als Vater haben. Ver­sager und Selb­st­mörder, das wäre zu viel, da kön­nte selb­st eine Ther­a­pie nicht mehr viel aus­richt­en.

Bei Selb­st­mord gäbe es keinen Cent. Nicht, dass die Kinder das Geld wirk­lich gebraucht hät­ten. Julia ver­di­ente mit ihrer Bau­fir­ma mehr als genug. Trotz­dem wäre die Ver­sicherungssumme willkom­men. Seine Prekari­at­sex­is­tenz würde nach seinem Tod schließlich doch noch etwas abw­er­fen.

Durch Sekun­den­schlaf aus dem Leben geris­sen, hieße es. Wom­it die fehlen­den Bremsspuren erk­lärt wären. Julia würde sich erin­nern, dass er tagsüber manch­mal unter Sekun­den­schlafat­tack­en gelit­ten hat­te. Reines The­ater, vor ein paar Monat­en hat­te er damit ange­fan­gen, beim gemein­samen Aben­dessen mit den Kindern: Zack, die Augen fie­len ihm zu, zack, er hörte Julia oder die Kinder eine spöt­tis­che Bemerkung deswe­gen machen, zack, die Augen waren wieder auf. Geschnar­cht hat­te er immer schon, wegen der Nasen­polypen, was Julia bezeu­gen kön­nte. Heftiges Schnar­chen und Sekun­den­schlaf, da brauchte die Ver­sicherung nur noch eins und eins zusam­men­zuzählen und käme auf Schlafap­noe.

Aber die Ver­sicherungstypen lebten nicht hin­term Mond. Zu deren Beruf­spro­fil gehörte es, immer und über­all Betrug zu wit­tern. Denen bliebe nicht ver­bor­gen, dass er chro­nisch pleite gewe­sen und häu­fig mit den Unter­halt­szahlun­gen für die Kinder in Rück­stand ger­at­en war. Jahre­lang hat­te er im Auf­trag vom British Coun­cil, der Akademie der Kün­ste und ander­er Kul­turein­rich­tun­gen Videos von Podi­ums­diskus­sio­nen, Dichter­lesun­gen oder Per­for­mances aufgenom­men. Ein Spitzen­ver­di­ener war er deswe­gen nicht gewe­sen, aber es hat­te zum Leben gere­icht. In den let­zten bei­den Jahren dann kaum mehr Aufträge, die Kul­tur­man­ag­er set­zten lieber auf preiswerte Jün­gere oder gle­ich Prak­tikan­ten.

Und seine Doku­men­tarfilmerei? Auch nicht der große Hit. Immer­hin hin­ter­ließe er ein preis­gekröntes Werk über die Rock- und Punkmusik­szene der Achtziger­jahre im Dreilän­dereck, das auf mehreren Fes­ti­vals und sog­ar im Fernse­hen gelaufen war, wenn auch nur spätabends im Region­al­pro­gramm. Schon ein paar Jährchen her, um genau zu sein, vierzehn. Mit seinem zweit­en Pro­jekt steck­te er seit langem fest. Doku über die Berlin­er S-Bahn­surfer­szene. Der Förder­antrag war abgelehnt wor­den und Eigenkap­i­tal besaß er nicht.

Gab er seinen Namen in eine Such­mas­chine ein, erschienen zuerst zahlre­iche Web­seit­en über einen Motor­ra­dren­n­fahrer gle­ichen Namens, bis schließlich sein Name doch noch auf­tauchte.

Vom Alter her wären es jet­zt die Jahre gewe­sen, die seine Altersgenossen zu den besten verk­lärten. Bei ihm war es schon vorher bergab gegan­gen, und im Alter wäre kaum Besserung zu erwarten, im Gegen­teil. Er fragte sich, warum die Deutsche Renten­ver­sicherung die jährlichen Beschei­de an ihn nicht in einem Cou­vert mit Trauer­rand ver­schick­te.

Er streck­te den recht­en Arm nach hin­ten, seine Fin­ger strichen über die küh­le Ober­fläche der Nachtkom­mode, die sich durch die Auf­pral­len­ergie wohl bis zur Unken­ntlichkeit ver­for­men würde. Sie war sein Ali­bi. Es war doch so, dass ein Mann, der seine Selb­st­tö­tung plante, nicht am Vortag der Tat bei Ebay eine Nachtkom­mode ersteigerte und sie dann in einem Kaff im Niederen Fläming abholte, um kurz darauf vorsät­zlich gegen einen Baum zu don­nern. Das wäre absurd. Das würde die Ver­sicherung wohl ähn­lich sehen. Allerd­ings kön­nte sie sich fra­gen, warum er nicht in Berlin eine gebrauchte Nachtkom­mode erstanden hat­te. Da gab’s doch sich­er auch welche. Aber zu dem Zeit­punkt eben keine Mon­do Opaca, wie die Ver­sicherung her­aus­find­en würde. Die aber besaß eine Frau in Gräfendorf, und genau dort hat­te er sie abge­holt. Man würde noch weit­er herum­stochern und dadurch erfahren, dass er sich seit Tagen bei Ebay für Nachtkom­mod­en inter­essiert hat­te, und seine Kinder, die jedes zweite Woch­enende bei ihm waren, kön­nten vom Chaos in sein­er Woh­nung bericht­en, mit Sock­en auf dem Boden, Handtüch­ern auf der Ses­sellehne, Waschlap­pen unauffind­bar irgend­wo im Klei­der­schrank, da war es nachvol­lziehbar, dass er, um Ord­nung in die Bude zu bekom­men, über eine Nachtkom­mode nachgedacht hat­te.

Er näherte sich ein­er Kreuzung, bog nach links ab und lan­dete auf ein­er weit­eren Allee. Auch hier waren die Bäume kräftig und wider­stands­fähig, wie ein Unfal­lkreuz am Straßen­rand bewies.

In Julias Auto herrschte Rauchver­bot. Mit ihrem Emis­sion­s­mon­ster die Gegend ver­pesten, aber hier drin­nen Rauchver­bot. Typ­isch Julia, aber er hielt sich daran. Das Wrack würde ja genau unter­sucht wer­den, man käme im Unfallgutacht­en zu dem Schluss, dass es sich um ein rauch­freies Wrack gehan­delt habe, voraus­ge­set­zt der Wagen gin­ge beim Auf­prall nicht in Flam­men auf. Julia würde ihm das, bei all seinen Fehlern, hoch anrech­nen, dass er sich bis zulet­zt ans Rauchver­bot gehal­ten hätte.

Er fuhr rechts ran, stieg aus, steck­te sich eine Zigarette an. Ein Motor­rad­fahrer zer­fet­zte die Stille, dann war wieder alles ruhig. Ein leichter Wind bewegte die Blät­ter, er ging in die Wiese und weit­er in Rich­tung eines Wäld­chens und stieß an dessen Rand auf einen Tüm­pel. Hier war das Gras noch feucht vom Tau. Er ging hun­dert Meter zurück in die Sonne, zog seinen Pullover aus und benutzte ihn als Decke. Insek­ten zirpten und summten, Vögel zwitscherten, und als er ein­mal einen Raub­vo­gel dicht über sich Kreise ziehen sah, zück­te er das Tele­fon und suchte im Inter­net nach Vogelbes­tim­mungs­seit­en. Ehe er das Objekt seines plöt­zlich erwacht­en ornithol­o­gis­chen Inter­ess­es mit Fotos ver­schieden­er Raub­vögel ver­gle­ichen kon­nte, war es bere­its entschwun­den.

Der hell­blaue Pullover hat­te grüne Gras­fleck­en abbekom­men, die nur schw­er raus­gin­gen. Das bräuchte ihn nicht mehr zu küm­mern. Das Tele­fon vib­ri­erte, auf dem Dis­play leuchtete Julias Name. Er steck­te es in die Gesäß­tasche und ging zum Auto. Ließ den Koloss zurück auf die Straße rollen und fuhr weit­er in gemäch­lich­er Geschwindigkeit. Ein Renault Twingo über­holte, und hätte der Fahrer dabei nicht frech gegrinst, hätte er ihn mit seinem kleinen Tri­umph davonkom­men lassen. Stattdessen tippte er aufs Gaspedal, schon war die Sar­di­nen­büchse abge­hängt. Vibra­tio­nen an seinem Gesäß, er fis­chte das Tele­fon aus der Tasche. Dies­mal nahm er den Anruf an.

„Wo bist du ger­ade?“, fragte Julia

„Noch unter­wegs.“

„Es gibt Prob­leme auf der Baustelle, ich kann nicht wie abge­sprochen zum Eltern­abend, kön­ntest du ein-?“

Die Verbindung war unter­brochen. Nein, er kön­nte nicht ein­sprin­gen, gar nichts kön­nte er mehr am Abend tun.

Wieder so ein Hei­ni, der ihn über­holte, dies­mal mit hun­dert Sachen, BMW-Fahrer, unfrei­williger Selb­st­mord­kan­di­dat.

Wieder das Tele­fon, aufer­standen von den Toten.

„Du warst plöt­zlich weg“, sagte Julia.

„Ich kann dich jet­zt hören“, sagte er.

„Und, kön­ntest du ein­sprin­gen?“

„Sag mir nochmal, wann der Eltern­abend begin­nt.“

„Um acht.“

Julia würde nach seinem Tod aus­sagen, er habe nor­mal gek­lun­gen, nicht deprim­iert­er als son­st. An dem Punkt würde die Ver­sicherung nach­hak­en. Er sei also oft deprim­iert gewe­sen? Na ja, so habe sie das nicht gemeint, ihr Exmann war eben keine Frohnatur. Son­st irgendwelche Auf­fäl­ligkeit­en? Frank habe gern auf dem Bett gele­gen und die Decke anges­tar­rt. Ihm seien dabei ange­blich gute Ideen gekom­men. Sie habe es dage­gen für Zeitver­schwen­dung gehal­ten.

Als seine Tochter klein war und er ihr schon fünf Büch­er vorge­le­sen und sie schon drei Fol­gen vom Kleinen Maulwurf angeschaut hat­te und trotz­dem noch nicht ein­schlafen kon­nte, war das let­zte Mit­tel, dass sie bei­de die Decke anstar­rten. Jen­ny erzählte dann, was sie dort sah, Drachen, Löwen, Schwäne, Meer­jungfrauen oder Finn aus dem Kinder­garten, und irgend­wann ver­langsamte sich ihr Plap­pern und sie schlief.

Er fuhr wieder rechts ran, klet­terte aus dem Asphalt­dom­i­na­tor, näch­ste Zigarette. Beim Rauchen lehnte er sich an einen Baum. Der hier, dieser Lin­den­baum, gefiel ihm. Stand strate­gisch gün­stig, beim Ein­gang der Kurve. Statt die Kurve zu nehmen, würde er ger­adeaus fahren. Auf hun­dert­fün­fzig beschle­u­ni­gen, dann ein­fach ger­adeaus.

Er schloss die Augen, ver­suchte sich das Nichts vorzustellen. Das Nichts hat­te es schon gegeben – vor sein­er Geburt. Er würde bloß ins Nichts zurück­kehren. Sein Leben stellte die Aus­nahme dar, das Nichts die Regel. Das Zeit­fen­ster, in dem er existiert hat­te, es würde ein­fach wieder geschlossen wer­den.

Die Zigarette war aufger­aucht. Kurze Pause, bevor er sich die näch­ste ansteck­te. Er holte die Wasser­flasche aus dem Auto und nahm einen großen Schluck. Legte sie ins Gras und umarmte den Baum. Warum denn nicht, sah ja kein­er zu.

Das Tele­fon ließ nicht lock­er.

„Du brauchst mir den Wagen heute Abend nicht mehr vor­beizubrin­gen, mor­gen Früh reicht völ­lig.“

„In Ord­nung.“

Er steck­te das Ding wieder ein. Noch zwanzig Minuten, er wollte es hin­ter sich brin­gen. Kon­nte nicht schaden, sich den Ein­gang der Kurve mal genauer anzuschauen. Es herrschte ja kaum Verkehr. Einen hal­ben Kilo­me­ter wollte er zurück­ge­hen, dann umdrehen und das Stück abge­hen, auf dem er voll aufs Gaspedal treten würde.

Die let­zten Meter seines Lebens.

Er schwitzte, zog den Pullover aus und hängte ihn über die Schul­tern. Der Quäl­geist am Gesäß machte sich wieder bemerk­bar.

Julia fragte, ob das mit dem Eltern­abend für ihn auch wirk­lich in Ord­nung sei. Was war denn da los? Kurz vor Toress­chluss noch eine let­zte Empathiegeste? Aber laut Wer­bung ver­fügte selb­st ihre Protzkarre über Empathie. Die könne sich näm­lich ins Verkehrs­geschehen und den darin Beteiligten regel­recht hine­in­fühlen.

Näch­ste Zigarette, ihm blieben noch drei, hielt er seinen Zeit­plan ein, bedeutete das alle sieben Minuten eine.

„Aber ich habe doch gesagt, dass das okay ist.“

Eine Spur zu heftig, doch Anspan­nung war in sein­er Lage entschuld­bar. Und ger­ade zis­chte ein Renn­boot an ihm vor­bei.

„Ist alles gut bei dir?“, fragte Julia. „Wo bist du?“

„Noch in Bran­den­burg. Ich vertrete mir ger­ade die Beine.“

Die Sonne bran­nte auf seinen Schädel, er hat­te die Kappe vergessen. Am Vor­mit­tag war es noch wolkig gewe­sen, ein küh­ler Wind hat­te gewe­ht. Die fünfhun­dert Meter waren erre­icht, er über­querte die Straße und ging langsam zurück, der Kurve, sein­er Schick­sal­skurve, ent­ge­gen. An der Unfall­stelle würde Julia wohl ein Kreuz auf­stellen. Oder falls nicht, täte es ein­er von seinen Fre­un­den. Julia und die Kinder, in Begleitung ihres neuen Ehe­manns, kämen nach seinem Tod wohl ein paar Mal hier­her, um am Straßenkreuz Blu­men niederzule­gen und Kerzen aufzustellen. Auch die Fre­unde macht­en sich bes­timmt auf den Weg, mal raus aus der Stadt, kleine Land­par­tie für einen guten Zweck.

Mit­ten aus dem Leben geris­sen, hieße es in der Trauer­anzeige. Oder: Frank hat­te noch soviel vor.

Er hoffte, die Anzeige käme ohne einen Spruch von Rilke oder Hesse aus.

Wieder ein vor­beizis­chen­des Renn­boot, das auch noch wild hupte und dann eine Voll­brem­sung hin­legte, Reifen qui­etscht­en, Schot­ter flog auf, es roch nach Gum­miabrieb. Ein Mann stieg aus und kam auf ihn zugestürzt.

„Sind Sie wahnsin­nig, hier so herumzus­pazieren?“

Er hob entschuldigend den Arm, der Mann beruhigte sich und lief zurück zu seinem Auto. Kava­lier­start und mit Kara­cho zurück auf die Piste.

Noch zwei­hun­dert Meter bis zur Kurve. Nach­her würde er im let­zten Moment vor dem Auf­prall die Augen schließen. So hat­te er es auch bei seinen Radun­fällen gemacht. Als das British Coun­cil und die Akademie der Kün­ste immer sel­tener anriefen und Julia ihm mit Hartz IV in den Ohren lag – dann kommt das Amt für die Unter­halt­szahlun­gen auf! –, war ihm eines Nach­mit­tags an ein­er Kreuzung die Erleuch­tung gekom­men. Die Ampel zeigte grün, er wollte ger­ade die Straße über­queren, da raubte ihm ein rechtsab­biegen­der Toy­otafahrer die Vor­fahrt. Ver­mut­lich wäre ihm bei einem Unfall wegen der gerin­gen Geschwindigkeit nicht viel passiert. Aber der Trot­tel hätte Schmerzens­geld zahlen müssen.

Tele­fonierende Auto­naut­en waren keine Sel­tenheit. Eben­so wenig Leute, die am Steuer einen Kurz­nachricht­en­wech­sel pflegten. Es gab auch welche, die sich ins Gespräch mit dem Beifahrer ver­tieften und drumherum alles ver­gaßen. Die Vor-sich-Hin­träumer und In-Gedanken-Ver­lier­er nicht zu vergessen. Sie alle schaut­en ent­geis­tert, wenn sie mit einem Fahrrad­klin­geln daran erin­nert wur­den, dass sie ger­ade dabei waren, einen Hol­lan­dradpedal­is­ten über den Haufen zu fahren. Jahre­lang war er vorauss­chauend unter­wegs gewe­sen, x-mal hat­te er auf seine Vor­fahrt verzichtet. Es reichte.

Gle­ich am näch­sten Mor­gen postierte er sich hun­dert Meter von der gestri­gen Kreuzung ent­fer­nt und fuhr bei Grün los, natür­lich mit Helm. Zwanzig Mal passierte nichts, dann über­sah ihn eine Focus­fahrerin, die ger­ade mit ihrem Beifahrer quatschte. Bös­er Sturz, kreis­chende Brem­sen, großer Schreck­en, sie ver­suchte es mit ein­vernehm­lich­er Lösung in Form zweier Fün­fzigeu­roscheine, er bestand auf Polizei und Kranken­wa­gen. Das Ergeb­nis der Unter­suchung: leichte Kniev­er­let­zun­gen, Brustko­rb- und Unter­arm­prel­lun­gen sowie Hautab­schür­fun­gen.

Er nahm sich einen Anwalt. Der machte gel­tend, dass sein Man­dant bere­its für den Berlin-Marathon gemeldet war und seit einem hal­ben Jahr dreimal die Woche hart trainierte. Der Marathon würde für ihn jet­zt ins Wass­er fall­en. Er erhielt fün­f­tausend Euro Schmerzens­geld, kaufte davon neue Räder für die Kinder und beglich seine Schulden bei Julia.

Zwei Monate später war er wieder blank. Näch­ste Kreuzung, dies­mal Pren­zlauer Berg, tele­fonieren­der Ham­burg­er, schwere Prel­lun­gen, Gehirn­er­schüt­terung, acht­tausend Euro, zwei Wochen mit den Kindern in Urlaub, die katas­trophale Auf­tragslage über­brückt.

Halbes Jahr später drit­ter Unfall, höheres Tem­po, höheres Risiko, höhere Auf­pral­len­ergie, Mer­cedes­fahrer in Sin­foniekonz­ert ver­sunken, Schleud­er­trau­ma, zehn Tage Vir­chow, fün­fzehn­tausend Euro, das neueste iPhone für die Kinder, vom Rest acht Monate die Leben­shal­tungskosten bestrit­ten und neues Super-8-Film­ma­te­r­i­al gekauft.

Aller guten Dinge waren drei, nicht vier.

Zurück am Auto die näch­ste Zigarette. Er prüfte, ob es Emp­fang gab. Gab es, aber Julia rief nicht mehr an. Warum sollte sie auch, war doch alles gek­lärt. Ander­er­seits hat­te sie gefragt, ob alles gut bei ihm sei. Nichts weit­er als eine Floskel. Eine Floskel, die auch seine früheren Auf­tragge­ber gern benutzten, wenn er sie wegen eines Jobs mal wieder hän­derin­gend angerufen hat­te und sie mantramäßig verkün­de­ten, dass es zur Zeit lei­der schlecht ausse­he. Und son­st alles gut bei dir, Frank?, sagte dann gern eine fes­tangestellte Sylvia oder ein fes­tangestell­ter Bruno, bevor sie sich ver­ab­schiede­ten und auflegten.

Floskel hin oder her, Julia durfte auf keinen Fall Ver­dacht schöpfen. Er öffnete die Heck­klappe, strich zärtlich über die Mon­do Opaca. Sie, die vor Ort wie nagel­neu Ausse­hende, einen kühlen Glanz Ausstrahlende, hat­te durch den Trans­port in dem engen Trep­pen­haus bzw. beim Ein­laden einige Kratzer und sog­ar eine kleine Delle abbekom­men.

Er rief Julia an. Die musste ger­ade in eine Besprechung mit der Bauleitung.

„Ich ruf dich in zwei Stun­den zurück.“

Aufgelegt. Mist! Wer weiß, wie sie später, nach seinem Tod, diesen Anruf inter­pretieren würde. Was hat­te Frank noch sagen wollen? Irgen­dein Abschiedswort? Vielle­icht eine Botschaft an die Kinder? Also vielle­icht doch kein Unfall. Warum war Frank über­haupt so schnell gefahren? Er schimpfte doch immer über die Ras­er, war selb­st, als er noch ein Auto besaß, eher der Typ Son­ntags­fahrer mit Hut auf der Ablage gewe­sen. Oder hat­te Frank etwa das Gas- mit dem Brem­spedal ver­wech­selt? Frank hat­te ja zwei linke Hände gehabt. Vielle­icht hat­te auch mit der Fußko­or­di­na­tion etwas nicht ges­timmt.

Er wählte erneut Julias Num­mer und erwis­chte die Mail­box. Bat um Rück­ruf. Kaum hat­te er die Nachricht hin­ter­lassen, bereute er es schon. Zehn Minuten später, er rauchte ger­ade seine vor­let­zte Zigarette, klin­gelte das Tele­fon.

„Was ist denn so wichtig, dass du nicht zwei Stun­den damit warten kannst?“

„Ich dachte, wir kön­nten näch­ste Woche mal wieder gemein­sam zu Abend essen.“

„Das ist es, was du mir sagen woll­test?“

„Ich meine, wir alle zusam­men, auch Robert und sein Sohn.“

„In dein­er winzi­gen Woh­nung? Wie soll das denn gehen? Muss Schluss machen.“

Seine Woh­nung war tat­säch­lich zu klein für größere Aben­dessen. Er lebte ja immer noch wie ein Stu­dent. Wie der ewige Stu­dent, der mit der Bologna-Reform aber längst aus­gestor­ben war. Sie resi­dierte hinge­gen in einem so genan­nten Alt­bau­juwel. Seit die Kinder größer waren und mehr Platz benötigten, mur­rten sie, wenn sie jedes zweite Woch­enende bei ihm ver­bracht­en. Er räumte für sie sein großes Zim­mer, das gle­ichzeit­ig Schlaf-, Wohn- und Arbeit­sz­im­mer war, und schlief in dem Kabuff von Gästez­im­mer, in dem seit Jahren kein Gast mehr über­nachtet hat­te. Die Fre­unde aus der Stu­den­ten­zeit wählten für ihren Besuch in Berlin lieber ein Hotel oder eine Ferien­woh­nung.

Wenn die Kinder fre­ita­gnach­mit­tags bei ihm ein­rück­ten, lud er sie oft ins Kino und anschließend ins Restau­rant ein und gab dafür soviel Geld aus, wie er son­st allein für sich in ein­er ganzen Woche nicht ver­brauchte.

Er rauchte die let­zte Zigarette, stieg dann ins Auto. Das Tele­fon legte er eingeschal­tet auf den Beifahrersitz, glaubte aber nicht, dass Julia sich noch ein­mal melden würde. Nach der Sitzung riefe sie an, oder auch später am Abend, um sich zu erkundi­gen, wie der Eltern­sprech­tag gelaufen wäre.

Er startete den Motor, fuhr ein Stück zurück und wen­dete an ein­er Park­bucht. Unge­fähr vier Kilo­me­ter bis zur Kurve, er beschle­u­nigte auf sechzig. Hin­ter ihm ein Reise­bus, der aus dem Nichts aufge­taucht war. Er brem­ste ab, doch statt zu über­holen, hupte der Fahrer. Nutzte nichts, er musste weit­er­fahren bis zur näch­sten Abzwei­gung. Sie tauchte erst nach acht Kilo­me­tern auf.

Das ganze Stück zurück­fahren oder eine neue Kurve suchen? Zuerst eine Zigarette, aber das Päckchen war leer. Er fuhr weit­er nach Storkow, brauchte dafür eine halbe Stunde. Wo er ein­mal hier war, kön­nte er auch etwas essen. Es fand sich eine Pizze­ria, er bestellte eine Mine­strone und Piz­za Napoli, abschließend trank er noch einen Kaf­fee. Neue oder alte Kurve? Alte Kurve.

Mehr Verkehr als vorhin, kein Wun­der, bald war Feier­abend. Er ver­fuhr sich, fand das Alleen­stück von vorhin nicht mehr. Eine Stunde irrte er herum, selb­st auf den abgeschieden­sten Alleen war jet­zt jed­erzeit mit Fahrzeu­gen zu rech­nen, er wollte aber ohne Augen­zeu­gen abtreten. Es bliebe ihm nichts anderes übrig, als seine Tat auf den Abend zu ver­schieben. Das wäre ja nicht so schlimm, schließlich gab es in der Gegend über­all Wald und Wiesen. Er kön­nte einen Spazier­gang machen oder sich ins Gras leg­en. Es war warm und Zigaret­ten hat­te er zu Genüge

Das Tele­fon auf dem Neben­sitz vib­ri­erte. Der Name sein­er Tochter leuchtete auf. Jen­ny fragte, ob sie bei ihm ein paar Tage bleiben könne.

„Stress mit Mama und Robert.“

„Du musst sie aber vorher fra­gen.“

„Mach ich.“

„Ich habe eine Nachtkom­mode gekauft.“

„Cool.“

Er fuhr rechts ran, sprang aus dem Wagen. Rauchte eine Zigarette und ging in die Wiese, kehrte aber gle­ich wieder zurück. Schnap­sidee zu glauben, er kön­nte die Stun­den bis zum Abend hier totschla­gen, um dann entschlossen sein Vorhaben umzuset­zen. Mal abge­se­hen davon, dass ihm bis dahin ver­mut­lich wieder die Zigaret­ten aus­ge­gan­gen wären. Schlauer wäre es, den Rück­weg anzutreten und an einem anderen Tag hier­her zurück­zukom­men. Er steck­te sich eine Zigarette an und startete den Motor. Als er in Berlin ankam, war die Schachtel fast leer und in der Protzkarre roch es wie in ein­er Raucherkneipe. Julia würde sie ihm ganz sich­er nicht mehr über­lassen. Die Opaca müsste er über Nacht auf dem Balkon aus­dün­sten lassen.

* * *