Singen im Wald

Von

Pflanzen duck­ten sich: es herrschte Wind, der umso wüten­der wurde, je näher man der Meer-Land-Gren­ze kam. Hais­chwärme trieben ver­mehrt Oktopo­den ans Ufer. Für den Schlaf wählte Arman­da den Rück­zug in den Nacht­bere­ich, in die Trock­en­struk­tur des Waldes, die Veg­e­ta­tion war auch aus dem Tritt gekom­men, irgend­wo war immer Herb­st. Arman­da suchte nach geeigneten Stellen für Liege­plätze in der Hoff­nung auf Rück­endeck­ung, die Möglichkeit, sich in eine Mulde, eine Laub­höh­le zu drück­en, den Aus­gang stets im Blick. Die Füße tat­en weh. Die Ein­samkeit machte ihr nur gele­gentlich zu schaf­fen, das Bewusst­sein, in sich mit sich ganz allein zu sein, das mit steigen­dem Alter gewach­sen war, suchte nach Ord­nun­gen im Äußeren, die sie in ihren regelmäßi­gen Wan­derun­gen fand, deren Umkehrpunk­te sich ein­gruben, wenig­stens eine Zeit lang. An Feuern in Wind­schat­ten­zo­nen traf sie auf andere, deren Leben­srhyth­men halb­wegs mit ihrem kor­re­lierten. Lan­dein­wärts war die Luft ruhiger. Wind­parks hat­ten sich als mit­tel­fristig einiger­maßen sta­bile Gel­dan­lage her­aus­gestellt, sofern man sich auf den Wert der Währung eini­gen kon­nte und die Räder nicht umgeris­sen wur­den, was vorkam. Auch die Zer­störung aus schein­bar rein­er Freude war ein ver­bre­it­etes Phänomen, dessen Poten­tial nur zu leicht unter­schätzt wurde, das feine Gefühl für die Dinge, die Angst gener­ieren, macht sich bezahlt.

Es war also ein vor­sichtiges Her­an­tas­ten, da Vorteil, dort Gefahr, das gemein­same Essen gab den Beteiligten ein wenig Halt, flüchtig zwar, und das wussten alle, doch unmit­tel­bar inten­siv. Man kon­sum­ierte auch ver­gorene Früchte, ein Suchtver­hal­ten, das Men­schen mit bes­timmten Tieren teil­ten, man musste ihren Spuren nur fol­gen, um fündig zu wer­den. Manch­mal, sel­ten, kam es zu sex­uellen Inter­ak­tio­nen, manch­mal auch zum Auf­flam­men von Buschbrän­den. Immer ein biss­chen riskant, sich auf andere einzu­lassen. Auf die Grup­pen­größe kam es an, fand Arman­da, doch auch das beileibe nichts, auf das man sich ver­lassen kon­nte. Sie hat­te ein Kon­den­sa­tion­szelt aufge­baut und wollte eben das Rohrsys­tem zum Ableit­en des Wassers anbrin­gen, während rund­herum ein paar ältere Men­schen saßen, die eine lose Gemein­schaft zu for­men schienen, als eine Rei­he von Quad­bikes ange­fahren kam, und der Lärm und die infan­tile Wucht dieser Maschi­nen ver­hieß nichts Gutes. Man wusste schließlich auch nie, wer wie bewaffnet war, die Quad­bikes drossel­ten das Tem­po, als sie sich annäherten, eines hin­ter dem anderen in klar­er Hor­den­hier­ar­chie. Ein­er der Män­ner am Feuer begann zu sin­gen, eine Melodie, die man zu ken­nen schien, ohne nachzu­denken (es war eine Wer­be­jin­gle, die Arman­da später aus dem Gedächt­nis rekon­stru­ierte). Andere san­gen mit, und das in unter­schiedlichen Sprachen, die bloße Exis­tenz dieses Liedes schuf eine hauchdünne Hülle, die über der Gruppe waberte und sie zu beschützen schien. Das erste Quad­bike beschle­u­nigte, zu wenig zu holen hier, der Mühe nicht wert, die anderen fol­gten und ver­schwan­den aus dem Blick­feld, wenn auch das Geräusch der Motoren noch lange nach­hallte.

Arman­da spürte wieder Schmerzen im Fußgewölbe, set­zte sich hin, zog die Schuhe aus und massierte die Fuß­sohlen, die ärg­sten Blasen waren abge­heilt. Sie dachte an Nora, ihre einzige Tochter, eine starke und schöne junge Frau, wie sie fand, aber das war eben die Wahrnehmung ein­er Mut­ter, aus Stolz geboren. Der Sänger ver­s­tummte. Eine weib­liche Stimme füllte die Stille mit Infor­ma­tio­nen über die Fil­terung von Wass­er mith­il­fe von Gras, Moos und Holzkohleresten vom Vortag, was Arman­da an ihren Kohletablet­ten­man­gel erin­nerte. Und Sand natür­lich, set­zte die Frau hinzu. Arman­da erhob sich aus ihrem Schnei­der­sitz, die Beine schon ein wenig einge­froren, der Gang toll­patschig, bis wieder aus­re­ichend Blut in die Glied­maßen kam, sie ging zu einem pro­vi­sorisch errichteten Tisch, auf dem noch die Reste des gemein­sam Gekocht­en herum­standen. Das Veg­ane war übrig geblieben, und sie nahm sich noch ein­mal davon. Sie set­zte sich wieder und betra­chtete ihre behosten Ober­schenkel. Der Stoff hat­te auch schon bessere Tage gese­hen.

Der Ges­tank des Anfangs war ver­flo­gen, die Bio­masse ver­formte sich ständig, was zu ver­ar­beit­en war, wurde wieder in den Kreis­lauf einge­speist, und ein wenig ver­mutete Arman­da, dass sich der Geruchssinn ein­fach anpasste an die Gegeben­heit­en. Sie nahm an, dass sie die Gren­zen dessen, was sie ger­ade noch erträglich fand, vor sich her­schob wie eine Bug­welle. Sie dachte wieder an Nora, die so begeis­tert gewe­sen war, als sie dieses neue Wort gel­ernt hat­te: Ho-se, dass sie es mehrfach wieder­holt hat­te, so gut hat­te es ihr gefall­en. Das Bild des fröh­lichen Kleinkindes, das Nora gewe­sen war, ver­we­hte nicht. Sie sah das zwei­jährige kurzge­lock­te Mäd­chen ganz deut­lich vor sich, das angesichts neuer Erleb­nisse erst ein­mal abwartete, was auf es zukam, das ruhig wurde beim Anblick ele­mentar­er Dinge wie des anrol­len­den Meeres, schweigend die Kraft der materiellen Über­wäl­ti­gung ein­saugend, noch ohne den Ein­druck in Sprache ver­wan­deln zu kön­nen. Dann hat­te sie - sich in urmen­schlich­er Manier hin­hock­end, die Unter­arme auf die Ober­schenkel gestützt, ohne mit dem Hin­tern den Boden zu berühren - älteren Kindern dabei zuge­se­hen, wie die von ein­er Kaimauer ins Wass­er sprangen, durch die Bran­dung hüpften, an Land zurück­liefen, um erneut zu sprin­gen, und die Muskeln in Noras kleinem Kör­p­er hat­ten gezuckt, die Abläufe ansatzweise imi­tiert, Bewe­gungsmuster vor­bere­it­et, die sie erst später würde umset­zen kön­nen. Schließlich hat­te sie nicht mehr an sich hal­ten kön­nen, war auf und ab gehüpft und hat­te vor Freude gequi­etscht. Da waren sie noch zu viert gewe­sen. Nora hat­te es beson­deres Vergnü­gen bere­it­et, sich beim Gehen an den Beinen ihres Vaters festzuhal­ten, er war langsam und mit weit­en Schrit­ten geschlen­dert, während sie um ihn herumpen­delte. Die Leichtigkeit eines Som­mertages: Som­mertag, das Wort kon­nte man sich auf der Zunge zerge­hen lassen.

Auszug aus einem in Arbeit befind­lichen Roman mit dem Arbeit­sti­tel „Welt fällt“.