Wie beschreibt man ein Pferd? Genügt die Klassifizierung als Säugetier, reicht es aus dessen biologischen Merkmale zusammenzutragen? Oder gehören zum Pferd auch die Legenden und Fabelwesen, religiöse Vorschriften, die damit assoziiert sind, gehören dazu Dressurmethoden, die Verwendungen des Tiers, die Zucht des Vierbeiners? Diese Frage stellt Michel Foucault im Rahmen einer Diskussion über die Bedingungen von Wissen. Vielleicht ließe sich die Frage mit Foucault neu stellen: Was wollen wir mit einem Pferd? Wie produzieren wir Wissen über Lebewesen?
Gewiss, seit der Entwicklung der modernen Zoologie ist die Beschreibung der Pferde nüchterner geworden, seit der Entwicklung der modernen Philologie – könnte man analog sagen – ist auch die Beschreibung des Schreibens und des Geschriebenen wesentlich nüchterner geworden. Manche gehen soweit, zu sagen, der Anfang der kritisch-historischen Philologie im 19. Jahrhundert sei das Ende der auf Phantasie, Koinzidenz und Inkohärenz basierenden Literatur.
Kurt Drawert jedenfalls spricht vom Leben der Texte, sooft er vom Schreiben spricht—weniger von historischen Texten. Eine schnöde Analyse der rhetorischen, rhythmischen und akustischen Strukturen, eine Form- und Stilkunde sowie eine literarturgeschichtliche Einordnung von Texten in einer Art wie man etwa auch Pilze oder Schmetterlinge seit Carl von Linné beschreibt und klassifiziert, lässt den Schriftsteller nur gähnen. Oder anders: Kurt Drawert will sichergehen, dass poetische und erzählerische Form im Kontext ihrer formalen Notwendigkeit verstanden wird. Texte sind ihm zufolge höchst eigenwillige und eigengesetzliche Lebewesen. Ihre Form bestimmt sich nach inneren Regungen sowie klimatischen Bedingungen. Auch der Prozess, wodurch sie in die Welt entworfen werden, das Schreiben, ist ein diffuses Tun.
Die Philologie verstellt also den Blick mehr, als dass sie Einsichten ermöglicht. Aus diesem Grund schlage ich vor, die Radikalität der monographischen Schrift »Schreiben. Vom Leben der Texte« neu zu entdecken. Sie besitzt höchste Aktualität in einer Epoche, darin überall die Subjektivität eine neue Aufruhr, eine Revolte erlebt angesichts ihrer drohenden Vernichtung durch die kalten quantifizierenden Kräfte einer anonymen Ding-Welt: »Jeder geschriebene Text ist also ein Fragment des vorhandenen (unendlichen) Textes, das können wir sagen. Die Lücke, die sich niemals schließt, ist die aufgerissene Stelle im Subjekt, dessen Spaltung in lose verknüpfte Teile. Wäre die Verknüpfung dieser Teile unterbrochen, würden wir nicht mehr über das Subjekt reden können; es wäre unaussprechbar, auch im literarischen Sinn.« (Drawert, S. 33) Die ästhetische Schrift ist auch ein möglicher Schlüssel, um die gravitas (auch die dignitas) besser zu verstehen, die das gesamte Werk des Schriftstellers durchzieht.
Inspirationslehre als dialektischer Materialismus
Während die meisten produktionsorientierten Ästhetiken der vergangenen Jahre sich vornehmlich als mondäne Schreibanleitungen oder als binnenuniversitäre Winkelhermeneutiken präsentieren, entwirft Kurt Drawert eine holistische Grundlegung einer Disziplin, die man Ausdrucksforschung nennen könnte. Teilweise erweckt das Buch den Eindruck, man habe es mit einem Arbeitsbericht zu tun, so sehr chargiert Kurt Drawert zwischen den epistemischen Fragestellungen und den Pragmata des Schreibens als Lebensform hin und her: etwa soziale Auskoppelungen und das Ertragen von Einsamkeit (»Der Schriftsteller ist voller Sprache, wenn er schreibt, wie könnte er da noch Sprache von außen ertragen?« S. 81); oder der Einfluss von analogen und digitalen Produktionsbedingungen aufs Schreiben; oder die Rückwirkung auf die Physis (»Wir [werden] von unbewusst abgelegten Wertvorstellungen mitgelenkt, denen eine intuitive und somatische Entscheidungsmacht zufällt, die eben nicht triebgelenkt ist, sondern ein Substrat unserer Texte abbildet.« Drawert, S.90f.).
Eingebettet sind Drawerts Beobachtungen in kommunikations- und zeichentheoretische Überlegungen sowie in eine umfassende Reflexion auf die psychischen Konstituenten des Schreibens. Das heißt, seine Ästhetik fußt auf einer Reflexion, die sich im Umkreis der Psychoanalyse in der Tradition von Jacques Lacan (1901-1981) bewegt und flankiert wird von einer Ethik, die an Charles Taylor erinnert mit dessen emphatischen Bejahung des Subjekts in seinem durch Wünsche, Vorstellungen und Lüste orientiertem Streben.
Wichtig hierbei ist allerdings, dass der Inhalt dieses Strebens immerfort leer bleibt bzw. sich als Desiderat entzieht. Drawert bezeichnet dies als »[Das Fehlende]«: »Fehlleistungen bedingen die Größe der literarischen Textur – denn eben weil die Konturen der Geschichte unfest und die Figuren labil sind, glauben wir, dass das Erzählte dem Erzählen entspringt und nicht dem Protokoll« (Drawert, S. 48).
Diese oben angedeutete Kombination macht diese ethisch und existenziell grundierte Ästhetik zugleich höchst aktuell, radikal wie auch provokant, denn sie dümpelt nicht dumpf im Vakuum der unverbindlichen Erudition, sondern reibt sich an der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Situation (und Situiertheit) des sich schreibend erkennenden, maskierenden, verfehlenden und veräußernden Subjekts. Nochmal: Diese Kombination ist in dieser Art einmalig in der gegenwärtigen deutschsprachigen Diskussion; man lege beliebige Entwürfe anderer Autoren daneben. Kurt Drawerts Inspirationslehre stellt eine Metaphysik dar, die alle narzisstischen Kränkungen der Moderne (Kopernikus, Darwin, Nietzsche, Freud) produktiv aufnimmt und existentiell situiert, weil sie das Diesseits liebt—und hasst.
„Literaturbildungsprozesse“
Selbst wenn Drawert über »Literaturbildungsprozesse« spricht, betrachtet er nicht einfachhin isoliert Vertextungsverfahren, sondern auch die gesellschaftlichen Zuschreibungsprozesse, die Texten als Literatur Zuspruch und damit Autorität verleihen: »Es reicht also nicht, das Betriebsgetriebe einer positiven Kritik und literarischen Aufzucht erfolgreich passiert zu haben, wenn dieser Wert nicht an eine nächste und wiederum nächste Generation vermittelt werden kann« (Drawert, S. 93).
Was folgt ist sodann ein gesamtes Bündel an sich gegenseitig durchdringenden, überlagernden, neutralisierenden Prozesse (Drawert nennt diese Bündel auch »Sphären«): Erfolg von Autoren, Arten der Förderung, rivalisierende Systeme der Bewertung, Dynamik von Kanonisierungsprozessen, Ausbildungs- und Kultivierungsmöglichkeiten von Schreibenden, Präsentationsweisen von Texten[1], Zensurbehörden bzw. zensierende Kräfte, die Mechanismen des Marktes und der Ökonomie der Aufmerksamkeit etc. All diese Prozesse gehören so sehr zum Schreiben wie die Stellung der Vokale in einer Gedichtzeile; sie dürfen nicht auseinander gedacht werden, da sie zur Formierung bzw. Deformierung von Texten beitragen. Sie erfordern daher vom Schreibenden eine Verhältnisbestimmung. Es ist gerade diese zweite Abteilung in »Schreiben. Vom Leben der Texte«, die das Buch zu einem Katechismus eines gesamten kulturellen Sektors (oder »Betriebs«) macht.
Gleichwohl koppelt Drawert an diese eher externen Umstände auch Elemente, die in der Sphäre der Performanz liegen; so folgt eine Diskussion zur Korporalität, Phonizität und Skripturalität dessen, was sich im Phänomen Text (das lebendige Produkt des Schreibens) als Bedeutung inszeniert. Diese Inszenierung von Bedeutung verortet Drawert sodann konsequenterweise in einer Reflexion auf die ritualisierten Praktiken des Lesen und Rezitierens.
„Techniken“ des Schreibens und ihr Wozu
Ganz nah herangezoomt an das Erzählte oder Gedichtete schließlich breitet »Schreiben. Vom Leben der Texte« vor uns die klassischen Techniken zur Gestaltung von Sprachmaterial aus. Erst jetzt, nachdem er uns spüren lässt wie seltsam dieses Material ist, das wir formen, erst jetzt diskutiert Drawert den rhetorischen Schmuck, erst jetzt führt er in die Alchemie der Vokale ein, denkt er über die Metapher, übers Pathos, über den ironischen Stil nach. Erst nachdem Drawert geklärt hat, was uns den Mund von woher auch immer aufstößt, spricht er über die Zunge, die das formen wird, was zu sagen uns begehrt. Denn eine Reflexion auf den Ich-Erzähler, auf den personalen Erzähler, auf den neutralen Erzähler, auf interfigurale Beziehungen, auf Ausgestaltungen von Szenen, wie es die Schulbücher tun, wäre banal und eine eitle Nabelbeschau, ohne ein komplementäres Nachdenken über die existenzielle Grundierung des Schreibakts als subjektive Ausdrücklichkeit, denn: »Wenn eine Lehre zum Dogma erstarrt, verliert sie an Zuspruch. Dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie abgeschafft und ausgetauscht wird. Warum sollte, was so für die Gesellschaften im allgemeinen gilt, nicht auch für Poetiken gelten?« (Drawert, S. 258). In diesem Vergleich wird vielleicht die Positionierung der Drawertschen Ästhetik innerhalb dem Feld und Angebot von zeitgenössischen Ästhetiken am sinnfälligsten: Literatur ist für ihn absoluter Ernst, mit ihr—der Literatur—steht auf der Kippe, jene Möglichkeit, eine Transformation des Schreibenden, des Lesenden und mit beiden zusammen eine Wandlung der Welt herbeizuführen.