„Helle Träume berichten von dunklem“

Imaginationen von Vergangenheit und Gegenwart in Werner Söllners Der Schlaf des Trommlers (1992)

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Wie bezieht sich das doch allem so entrück­te Sub­jekt der Spät­mod­erne auf eine Herkun­ft, die es vielle­icht nicht ken­nt oder immer mehr ver­gisst? Wern­er Söll­ners Gedicht­band Der Schlaf des Tromm­lers (1992) gibt viele Anlässe über diese Frage nachzu­denken. Der Autor insze­niert darin über viele Gedichte hin ein sich selb­st zweifel­haft gewor­denes lyrisches Ich und schickt es dann in all sein­er frag­ilen Unsicher­heit auf eine Spuren­suche, nach den vie­len imag­inierten Weg­marken der Herkun­ft. Dem Gedicht­band stellt Wern­er Söll­ner das Gedicht „Wort­staub“ voran, welch­es die in jen­em Band ver­sam­melten Gedichte auf jene eige­nar­tige Fährten­lese entsendet. Die erste Stro­phe heißt:

Wie fremd
ich mir bin. Von innen
die Haut noch warm vom Blut
im Schuh, von erloschnen Geschicht­en.
Helle Träume bericht­en von dun­klem
Aufruhr, vom Sinn, der sich staut
in der Leere.

Die Ein­heit eines jeden Vers­es bricht den pro­sais­chen Duk­tus, syn­tak­tis­che Ein­heit und Vers sind hier offen­sichtlich nicht iden­tisch, vielmehr kol­li­dieren syn­tak­tis­che Ein­heit­en auf der Verseebene und wer­den in ein­er neuen (suprasyn­tak­tis­chen) Ein­heit vere­int: „Wort­staub“ staut so Bedeu­tun­gen, sodass aus der entste­hen­den Ambi­gu­i­tät die tragis­che Dynamik der lyrischen Stimme vernehm­bar wird.

Das Sujet des Gedichts, welch­es zwis­chen ein­er sich zweifel­haften Gegen­wart ein­er­seits und ret­ro­spek­tiv­en Imag­i­na­tio­nen von Ver­gan­gen­heit­en ander­er­seits chang­iert, zusam­mengenom­men als the­ma­tis­ch­er kom­plex, bringt ein textuelles Gebilde her­vor, das die geschicht­sphilosophis­chen sowie sub­jek­t­the­o­retis­chen Kränkun­gen des 20. Jahrhun­derts durchgemacht hat. Das Gedicht erzeugt einen Ander­sort, einen textuell ver­fassten Raum, eine Het­ero­topie1. Im Gegen­satz zum naiv­en biographis­chen Real­is­mus, wie ihn das 19. Jahrhun­dert noch etwa mit William Wordsworths „The Pre­lude“ durchex­erzierte, prof­i­tiert Wern­er Söll­ner (aber auch etwa Jür­gen Beck­er) von einem notwendi­gen Rel­a­tivis­mus im Hin­blick auf die his­torische Veror­tung der Selbstgenese—diese ist nun auch bei Wern­er Söll­ner zwar in ein­er nüchterneren Sprache zu find­en als bei den Roman­tik­ern, den­noch ist sie in ihrer Hal­tung stärk­er ästhetisiert.

Woran liegt es? Wern­er Söll­ners Lit­er­atur ist weniger auto­bi­ographisch im Sinne der His­to­rie des Selb­st und vielmehr im Modus der ästhetisieren­den Leg­en­den­bil­dung ver­fasst. Bere­its etwa Ernst Bertram ging auf diese Ver­schiebung ein als er Rankes Geschichtsver­ständ­nis kri­tisierte:

„[per­sön­liche] Geschichte ist nie gle­ichbe­deu­tend mit Rekon­struk­tion irgen­deines Gewe­se­nen, mit der möglich­sten Annäherung auch nur an eine gewe­sene Wirk­lichkeit. Sie ist vielmehr ger­ade die Entwirk­lichung dieser ehe­ma­li­gen Wirk­lichkeit. […] Wir verge­gen­wär­ti­gen uns ein ver­gan­ge­nes Leben nicht, wir ent­ge­gen­wär­ti­gen es, indem wir es his­torisch betra­cht­en. Wir ret­ten es nicht in unsere Zeit hinüber, wir machen es zeit­los. […] Nur als Bild, als Gestalt, nur als Mythos lebt sie, nicht als Ken­nt­nis und Erken­nt­nis eines Gewe­se­nen“.2

In sein­er Studie zum Ver­hält­nis von Lit­er­aturgeschichte und Mytholo­gie kon­sta­tierte Robert Weimann bere­its 1977, dass sich quel­lengestützte, his­torisch-kri­tis­che „Geschicht­serken­nt­nis“ im Sog solch­er lit­er­arischen Strate­gien ver­wan­delt in ein „Ver­gan­gen­heit­ser­leb­nis“.3 Sie schafft aber nicht ein­fach­hin einen sub­jek­tiv­en Blick ins Ver­gan­gene oder auf das durch Ver­gan­gen­heit­en bee­in­flusste Sub­jekt des Gedichts. Vielmehr gener­iert diese Strate­gie der Ver­tex­tung etwas Drittes, was sich im rezep­tion­säs­thetis­chen „Zeit­losen“ abspielt. Die vom lyrischen Sub­jekt vorgenomme­nen Wert­set­zun­gen ver­drän­gen also die bloße (anam­netis­che) Rekon­struk­tion.

Aber vielle­icht zunächst ein­mal nochmal nach­denken über die oben zitierten Ein­gangs­verse von „Wort­staub“.

„Wie fremd“: Das Fremde als Ver­gle­ich, als Approx­i­ma­tion oder als Verlegenheit—relative, unbes­timmte Fremd­heit, die nicht bes­timmt, ob sie fremd ist oder ver­traut, son­dern das Fremd­sein nur als eine best­mögliche Charak­ter­isierung dessen vorstellt, worum es geht. Somit ist das Fremd­sein nicht Zus­tand und Diathese des lyrisches Ichs, son­dern eben nur die best­mögliche Approx­i­ma­tion zur tat­säch­lichen Kon­sti­tu­tion des lyrisches Ichs: „wie fremd“.

„ich mir bin. Von innen“: Es ste­ht weniger die Ein­hol­ung von Fremdzuschrei­bun­gen im Vorder­grund. Vielmehr behar­rt diese Instanz darauf, dass das, was sie sei, aus ihr selb­st, in ihrem inneren ist – oder von dorther spricht. Umgekehrt impliziert dies auch eine gewisse Ver­schlossen­heit des Selb­st zu ihrer Außen­welt. Was sie sei, lässt sich nicht von außen oder von Außen­ste­hen­den wis­sen, zuschreiben oder erken­nen.

„die Haut noch warm vom Blut“: Diese Zeile (wie auch der Präsens „bin“ aus der voraus­ge­hen­den Zeile) ver­ankert mit »noch« die Stimme in der Gegen­wart. Jet­zt, noch immer, ist das Ich lebendig. Die Außen­schale, die diese „wie fremd[e]“ Innen­welt enthält und gle­ich­sam ver­birgt, ist noch durchtränkt vom lebendig machen­den Saft des Blutes. Gle­ich­wohl eröffnet die Pol­y­semie des Blutes eine weit­ere Dimen­sion, näm­lich des Blutes als die Zuge­hörigkeit, Blut­gruppe.4

„im Schuh, von erloschnen Geschicht­en“: Der gram­matikalis­che Satz schließt hier im vierten Vers. Isoliert ver­weist jedoch die Zeile zunächst in eine Ver­gan­gen­heit, einen Imper­fekt: die erzählte Ver­gan­gen­heit, eine Ver­gan­gen­heit der Geschicht­en. Diese ist zugle­ich erloschen wie auch märchen­haft präsent. Sie ist „im Schuh“ gle­ichzeit­ig Bek­lei­dung des Fußes sowie Chiffre des Gehens, des Fort­ge­gan­genen.

Am Ende des ersten Satzes, der auf vier Ver­szeilen arrang­iert ist, angekom­men, öffnet sich die Kluft zwis­chen ein­er sich selb­st zweifel­haft frem­den Gegen­wart ein­er­seits und ein­er ent­fer­n­ten sowie erlosch­enen Geschichte in der Ver­gan­gen­heit ander­er­seits. Bei­de Zeit­mark­er sind refak­tiert im lyrischen Sub­jekt und erzeu­gen einen höchst heiklen Stand­punkt der Stimme. Die fol­gen­den drei Verse, die den näch­sten Satz dieser ersten Stro­phe fassen, geben dieser Expo­si­tion nun ihren drama­tis­chen Knacks.

„Helle Träume bericht­en von dun­klem“: Das Para­dox­on wird nun unumwun­den aus­ge­sprochen. Was in der sub­li­men Welt des Traumes hell ist, liest sich in der schein­bar objek­tiv­en und auf Fak­ten basieren­den Mit­teilungs­form des Berichts („bericht­en“) als Dunkel­heit.

„Aufruhr, vom Sinn, der sich staut“: Der Aufruhr und Sinn sind nicht dicht, son­dern ges­taut, sind gehemmt. Bei­de Begriffe drän­gen eigentlich auf ihre Ent­ladung, obschon bei­de bleiben im Zus­tand der Stau­ung ver­haftet bleiben.

„in der Leere“. Das Vaku­um ist der Zus­tand dieser Stau­ung. Sinn und Aufruhr, die Hel­ligkeit des Traums sind gehal­ten, ver­haftet und gefan­gen „in der Leere“. Der drama­tis­che Knacks des sich in sein­er Gegen­wart zweifel­haften und sein­er Ver­gan­gen­heit ent­zo­ge­nen Sub­jek­ts ist also eine hell­dun­kle Läh­mung von Auf­begehren und Sinns­tiftung, also kurzum der Stau­ung von (aufrührerisch­er, notwendig gewalt­samer) Set­zung des Selb­st und der sinns­tif­ten­den Selb­st­beziehung.

Zweifel­hafte Gegen­wart

Hier wird natür­lich auch eine iden­tität­spoli­tis­che Dimen­sion deut­lich. Demu­ngeachtet scheint es mir jedoch hil­fre­ich, die biographis­che Sit­u­a­tion des Autors in einem all­ge­meineren Kon­text zu betra­cht­en. Es wirken auch bei ihm Effek­te aus der Erfahrung von Urban­isierung und Glob­al­isierung nach, wie sie für die Sig­natur des späten 20. und des ange­broch­enen 21. Jahrhun­derts typ­isch sind. Sie ergeben sich aber aus ein­er inten­sivierten (frei­willi­gen wie auch unfrei­willi­gen) Mobil­ität von Men­schen weltweit und man sollte sie daher nicht immer auf ihre Ein­fü­gung in his­torische Grand Nar­ra­tives reduzieren.

Der Band Der Schlaf des Tromm­lers impräg­niert das lyrische Ich über die Reflex­ion von Gegen­wart­ser­fahrun­gen auf mul­ti­plen Ebe­nen. Dieses Ich stellt seine Verun­sicherung, Boden­losigkeit, fröh­liche Hybri­disierung, seine per­ma­nente Ankun­ftsstim­mung sowie seine exis­ten­ziellen Unbe­haus­theit zur Schau.

Ich möchte diese Merk­male unter drei Per­spek­tiv­en sam­meln und dar­legen. Ich denke, dass wir hier eine Kon­sti­tu­tion des lyrischen Sub­jek­ts vorfind­en, die nach der Logik ein­er Hermeneu­tik des Ver­dachts operiert, einem Ver­dacht, der sich als ein sich zweifel­haft gewor­denes Sub­jekt aus­drückt. Betra­cht­en wir zunächst in drei Abschnit­ten einige solch­er Merk­male, die das lyrische Sub­jekt kennze­ich­nen. Ich schlage drei Zugänge vor: 1) Diag­nosen im „großen Gerede“, 2) Anam­ne­sen des Selb­st sowie 3) Reflex­io­nen fortwähren­der Ankun­ft.

Diag­nosen im „großen Gerede“

Die kon­stant über den gesamten Band sich als Emi­grant ausweisende Sprech­stimme begrün­det die Beobachter­per­spek­tive der Gedichte (vgl. „Kleines Emi­granten­lied“). Zunächst möchte ich ins­beson­dere vier Gedichte betra­cht­en: „Langsam, aber sich­er“, „Kann sein“, den sieben­teili­gen Zyk­lus „Bilder­bo­gen aus der Schweiz“ sowie „Paris, im Novem­ber“. In diesen Tex­ten kommt eine Kri­tik west­lich geprägter Gesellschaft zum Aus­druck. Obwohl aber diese Kri­tik aus­for­muliert wird, spart sich das diese Kri­tik vor­tra­gende Ich nicht davon aus, son­dern weiß sich auch betrof­fen.

Das (Franz Hod­jak gewid­mete) Langgedicht „Langsam, aber sich­er“ evoziert zunächst eine Rei­he von zeit­geschichtlichen Entwick­lun­gen, die in der Erfahrung der Sprech­stimme als gle­ichzeit­ig dargestellt wer­den. Sie sind gram­ma­tisch mit „während“ ein­geleit­et, was hier als zeitliche Sub­junk­tion fungiert.

Während es langsam, aber sich­er wärmer wird
in der Welt, während wir uns irrsin­nig freuen
über das Ver­schwinden der Gren­zen, während
wir hin­ter der let­zten sicht­baren Galax­ie
verzweifelt nach Leere suchen, während das
Queck­sil­ber der Utopie von der klassen­losen
Gesellschaft ins Grund­wass­er sick­ert, während
wir staunen, weil es im Kino noch Men­schen
mit Tätowierun­gen gibt, während wir langsam
aber sich­er Abschied nehmen von For­men und
Werten und zurück­kehren zur Voll­w­ertkost, in
die Nor­mal­ität, zum zwan­glosen, net­ten Gespräch,
während wir uns mit der richti­gen Gesin­nung
immer mehr vor­ma­chen, was uns kein­er mehr
abn­immt, während wir langsam, aber sich­er
aus den Fehlern der Ver­gan­gen­heit ler­nen und
in eine Zukun­ft aus Alt­pa­pi­er gehen, während wir
uns auf­fressen lassen vom Geld, von ein­er guten
Beziehung, von der Angst vor der Angst, vom
kleineren Übel, von der Bedeu­tung des Augen­blicks,
von der Frei­heit, sich für ein kleineres Übel
und gegen sich selb­st entschei­den zu kön­nen,
während wir von der Liebe sprechen und die Namen
der Geschöpfe vergessen, während die Welt langsam,
aber sich­er in der Umwelt veschwindet.

Die Wucht dieser ersten Stro­phe, die gram­ma­tisch den in der darauf­fol­gen­den Stro­phe aus­ge­führten Haupt­satz ein­leit­et, entste­ht freilich aus der Häu­fung der mit „während“ ein­geleit­eten Phänomene. Gle­ichzeit­ig ist festzuhal­ten, dass dieser Abschnitt von Wider­auf­nah­men „kleineren Übel“ sowie „langsam, aber sich“ geprägt ist.

Seman­tisch betra­chtet erzeu­gen beson­ders Adjek­tive und Ver­ben hier den Ein­druck neg­a­tiv­er Wahrnehmung. Ins­ge­samt dominiert die Atmo­sphäre eines Über­gangs. Die Gegen­wart der Sprech­stimme wird merk­lich tran­si­tiv als Zwis­chen­zeit insze­niert.

Die Gegen­wart dieser Stro­phe ist ein Anbrechen von ver­schwinden­den Gren­zen, der Expan­sion des Blick­es auf die „let­zten sicht­baren Galax­ien“, eines „wärmeren“ Wohlge­fühls, ein­er zunehmenden Zwan­glosigkeit, eines all­ge­meinen Beschei­d­wis­sens, welch­es sich aus dem Ler­nen „aus den Fehlern der Ver­gan­gen­heit“ beflügelt; die Gegen­wart ist darüber hin­aus getra­gen von ein­er auf­fäl­liger­weise nicht weit­er inhaltlich qual­i­fizierten „Frei­heit“ und dem sich Ein­stellen ein­er „Nor­mal­ität“.

Das „Ver­schwinden der Gren­zen“ wird begleit­et von ein­er vielle­icht als exzes­siv und hohl emp­fun­de­nen „irrsinnig[en]“ Freude; das Glück eines „kleineren Übels“ wird zum Preis der (optionalen) Selb­stver­leug­nung gewon­nen („gegen sich selb­st entschei­den kön­nen“); intrin­sis­che (moralis­che) Werte wer­den erset­zt durch trendi­ges Kon­sumver­hal­ten („Voll­w­ertkost“), sodass selb­st die aufrechter­hal­tene Sim­u­la­tion ein­er (moralis­chen) Hal­tung zur unglaub­haften Farce wird („mit der richti­gen Gesin­nung / immer mehr vor­ma­chen, was uns kein­er mehr / abn­immt“); men­schliche Inter­ak­tion in dieser anbrechen­den „wärmer[en]“ Epoche wird als ober­fläch­lich dargestellt („nettes Gespräch“) oder als strate­gisch instru­mentelle Verbindung gese­hen („ein­er guten / Beziehung“). Auch die einst dog­ma­tisch aus­for­mulierten „Utopi­en“ des sozialen Zusam­men­lebens zer­rin­nen bzw. „sick­ern“ fort. Das größte bib­lis­che Priv­i­leg5, den Din­gen Namen zu geben, scheint dem „Vergessen“ preis­gegeben, wom­it auch das „von der Liebe sprechen“ an Wert ein­büßt.

Die Geschwindigkeit in dieser Zeit des Über­gangs ist „langsam“ und daher auch schle­ichend und in gewiss­er Weise unmerk­lich, sodass „wir staunen, weil es im Kino noch Men­schen / mit Tätowierun­gen gibt“. Das let­zte Glied in diesem pro­longierten Par­al­lelis­mus, der mit „während“ syn­chron mit der Sprech­stimme ver­läuft, kul­miniert in „während die Welt langsam, / aber sich­er in die Umwelt ver­schwindet“: Was Welt als Ein­heit von Innen und Außen seine Tiefe der Wirk­lichkeit besaß, ver­wan­delt sich „langsam“ in eine Wirk­lichkeit von Äußer­lichkeit­en bzw. eine „Umwelt“.

Diese skep­tis­che, bisweilen apoka­lyp­tis­che Welt­wahrnehmung tritt häu­fig in der Dich­tung der 90er-Jahre von Volk­er Braun über Ger­hard Falkn­er bis zu Thomas Kling auf. Wern­er Söll­ner blickt hier jedoch nicht, wie es andere getan haben, von einem all­wis­senden, olymp­is­chen Stand­punkt auf die Gesellschaft, son­dern betreibt Gesellschaft­skri­tik im Modus der Selb­stkri­tik.

Die zweite Stro­phe nun charak­ter­isiert als Haupt­satz die neuen Men­schen dieser anbrechen­den Epoche nicht wenig pejo­ra­tiv als „Bar­baren“. Es sind Bar­baren, die über eine (nicht näher aus­ge­führte, aber im „Abschied nehmen von For­men“ sich entziehende bzw. ver­schwindende) Zivil­i­sa­tion her­fall­en, die sich nun durch die Zäsur und Wand­lung der Zeit als his­torisch begreift.

kom­men die Bar­baren zu uns,
aus der Leere hin­ter der let­zten sicht­baren
Galax­ie, langsam, aber sich­er wachen sie auf
in den Wüsten, in Drac­u­las Schloss, und wis­chen
sich den Schlaf der Ver­nun­ft aus den Augen,
die Blicke scharf von der Gier nach ein­er
Ent­täuschung, die aussieht wie Hoff­nung, langsam,
aber sich­er zer­tram­peln sie uns die let­zten
Blu­men aus Stachel­draht in den Biotopen des
Todes, sie kom­men und fordern den Lohn der
Geschicht­slosigkeit, ihren gerecht­en Anteil
an Coca-Cola und Erdöl, an Mozart und Mick­y­maus,
am kleineren Übel und an der Frei­heit, sich für
ein kleineres Übel und gegen sich selb­st
entschei­den zu kön­nen, […]
sie kom­men, die
Bar­baren, und pack­en ihre Ros­t­lauben voll
mit den Frücht­en aus dem Garten der Unlust […]

Die neue Epoche kommt aus „der Leere hin­ter der let­zten sicht­baren / Galax­ie“. Sie scheint ein Aus­gang, zumin­d­est aber ein Erwachen in eine irra­tionale Zeit. Gle­ichzeit­ig wird die oben erwäh­nte Ver­gan­gen­heit der Zivil­i­sa­tion keines­falls als ein gold­enes Zeital­ter imag­iniert, denn diese war voll von „Stachel­draht“ umzäun­ten „Biotopen des / Todes“. Hier wird keineswegs das Gewe­sene gegen das Wer­dende aus­ge­spielt.

Die neue Zeit, die am Hor­i­zont von „Langsam, aber sich­er“ auf­blitzt, ist ein Weltal­ter der Anonymität, der „Geschicht­slosigkeit“. Sie ist geprägt vom Kon­sum von glob­alen Gütern wie „Coca-Cola und Erdöl“. Sie scheint – in der Logik des Gedichts – wie eine niv­el­lierte, rel­a­tivierte Zeit der Beliebigkeit, darin „Mozart und Mick­y­maus“ unun­ter­schei­d­bar, allit­er­a­tiv gle­ichk­lin­gend nebeneinan­der ste­hen. Aber die härteste Kri­tik liegt wohl in ihrem Ethos des „kleineres Übels“, das vier­mal expliz­it in Haupt- und Neben­satz erwäh­nt wird. Es han­delt sich let­ztlich also um eine Kri­tik an der Mediokrität.

Diese Per­spek­tive verdichtet sich in den sieben Gedicht­en, die den Zyk­lus „Bilder­bo­gen aus der Schweiz“ bilden. In diesem hel­vetis­chen Hort des Luxus („es offeriert mir Zeit und Zigar­ren“), diesem „beson­deren Land“ wird die emp­fun­dene Ungle­ichzeit­igkeit und damit Fremd­heit des Sub­jek­ts der Gedichte benan­nt. Inmit­ten dieses etwas müden, etwas gle­ich­müti­gen, etwas gelang­weil­ten, etwas mondän über­sät­tigten Glücks von „unver­heirateten Lehrern“ liegt das Ich nachts bei seinen Alp­träu­men. Es bietet sich als Pro­jek­tions­fläche des Zweifels, des Unbe­ha­gens, auch der Empörung und Desil­lu­sion an.

Und ich kleine
gefan­gene Seele liege
zu Bette und denke mir
Geis­ter her­bei, um mich
Endlich fürcht­en zu kön­nen

In seinem Unglück sich selb­st sus­pekt wer­den. Sind diese „Geis­ter“ Auto­sug­ges­tio­nen, die wie aus Selb­st­be­stra­fung her­beigedacht wer­den, um den Fetisch der Angst zu kul­tivieren? Dieser „untragis­che Land­strich“ und dessen Bewohn­er, in dem man erst „ein paar Jahre“ wohnen müsste, „um auf ihre Neu­rosen zu kom­men“, ist auch in sein­er Selb­stre­flex­ion immer­fort „gut­ge­launt und ein biss­chen gelang­weilt“, „hält sich abseits“ von den Qualen der Welt, seine Natur ist „gekämmt“ und sein Leid ist so beschaf­fen, „dass es / nicht weh tut“. Es ist die „Umwelt“ des „Palavers“, des „großen Gere­des“.

Und hier – inmit­ten dieser mit­telmäßi­gen Glück­seligkeit – erlebt die Sprech­stimme, sooft sie alleine ist, ihre eige­nar­tige Vere­inzelung und Gefan­gen­heit, die aber wiederum ein Spiegel der engen Gefan­gen­heit der Anderen in ihrem „beson­deren“ Glück mit­trägt.

Spät, in der Dunkel­heit, steh ich
Rat­los vorm Käfig. Drin­nen leuchtet
die Frei­heit, draußen knack­en
die Stäbe im Brustko­rb.

Dieses trotz voller Involvierung behar­rende Gefühl der Nichtzuge­hörigkeit: Dieses Gefühl der Fremde wird – etwa im Gedicht „Paris, im Novem­ber“ – auf die Gesellschaft ins­ge­samt aus­gedehnt und stellt daher nicht lediglich eine Erfahrung dar, die „Emi­granten“ eigen­tüm­lich wäre, son­dern ist symp­to­ma­tisch für die oben genan­nten Effek­te von Urban­isierung und Glob­al­isierung. Denn am Geburt­sort dieser „Frei­heit“, der Paris­er Bastille, dort „ste­ht das Volk / diese wild­frem­den Leute / und holt uns für einen Zehn­er / die Frei­heit vom Feuer: ein paar gebran­nte Kas­tanien“. Die Kri­tik der Frei­heit im Modus des „kleineren Übels“ wirft nur kleine Freuden ab, „ein paar gebran­nte Kas­tanien“. Und wieder zieht das lyrische Ich seine eige­nen Zweifel an dieser neuen Welt in Zweifel. Es empfind­et sich als Spielverder­ber, als Unzeit­gemäßer: „Den Kindern / den Tieren und Pflanzen / klin­gen die Ohren“ und es will, so scheint es, die Welt in ihren ver­min­derten Freuden nicht weit­er stören.

Anam­nese des Selb­st

Die Stimme, die dem Leser am Ein­gang zu Der Schlaf des Tromm­lers begeg­net, entzieht sich selb­st jedem Anschein ein­er pos­i­tiv­en Set­zung ihres Selb­st. Die oben erwäh­n­ten Zeilen „Wie fremd / ich mir bin. Von innen / […]“ gewin­nen im Ver­folg des Gedichts „Wort­staub“ noch eine höhere Zweifel­haftigkeit, wie die dritte Stro­phe zeigt:

Ich kenne mich
kaum und was mit mir ist.
Boden­los und ohne Bedeu­tung
die Zeichen, die Stamm
und Rinde erre­ichen. Als hätte ich
zu viel gesehn und angeschaut
nicht genug. Wie wenn der Krug
von Anbe­ginn nicht ganz
gewe­sen wäre.

Die ersten bei­den Zeilen ver­laufen im Wider­spruch zueinan­der. Die Stro­phe set­zt mit der Affir­ma­tion der Selb­stken­nt­nis ein, die jedoch in der gram­ma­tis­chen Ver­voll­ständi­gung des Satzes durch Enjambe­ment und streng gewahrte Ver­sein­heit umgekehrt wird. Man begeg­net einem Gegenüber zum Leser ohne fes­ten Kern: Es ken­nt sich selb­st sehr gut bzw. „kaum“, darüber hin­aus deutet die Wen­dung „was mit mir ist“ auf eine gewisse Krise. Ihm fehlt etwas. Ist das, was als Fehl angezeigt wird, nur vor­eilig als krisen­haft zu inter­pretieren? Ermöglicht ein Fehl von etwas nicht auch die Leichtigkeit der Befreiung, ermöglicht nicht die Abwe­sen­heit des Selb­st eine fast bud­dhis­tis­che Offen­heit zum All?

Doch auch hier wird der Leser in den fol­gen­den drei Zeilen mit einem neuen Para­dox kon­fron­tiert. Es fol­gt ein mod­i­fiziertes Hölder­lin-Zitat, das ein wesentlich­er Flucht­punkt in Paul Celans Denken und auch bekan­nter­maßen in Mar­tin Hei­deg­gers im Win­terse­mes­ter 1951/52 gehal­tener Vor­lesung Was heißt Denken? ist. Sowohl Zeitgenossen von Celan und Hei­deg­ger, wie wohl auch die bei­den selb­st, als auch die über­wälti­gende Anzahl an Stu­di­en zu diesem Dichter-Denker-Ver­hält­nis platzieren am Kreuzungspunkt den Dichter Friedrich Hölder­lin.

Wenn also das Gedicht „Wort­staub“ die Hölder­lin Zeilen aus der Hymne „Mnemosyne“ mod­i­fiziert aufn­immt, han­delt es sich also um eine teleskopar­tige Inter­tex­tu­al­ität. Ich zitiere den Beginn von Friedrich Hölder­lins unvol­len­de­ter Hymne:

Ein Zeichen sind wir, deu­tungs­los
Schmer­z­los sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde ver­loren.
Wenn näm­lich über Men­schen
Ein Stre­it ist an dem Him­mel und gewaltig
Die Monde gehn, so redet
Das Meer auch, und Ströme müssen
Den Pfad sich suchen. Zweifel­los
Ist aber Ein­er. […].

Ohne allzu sehr abzuschweifen, möchte ich nur zwei Beobach­tun­gen fes­thal­ten: erstens, den dro­hende Ver­lust der Sprache durch die Fremde, die offen­bar als eine gewaltige Umwälzung von kos­mis­chem Aus­maß emp­fun­den wird; und eine trotz des dubiosen Wech­sels im Weltal­ter schein­bar „zweifel­lose“ Instanz des „Einen“. Was mir bemerkenswert scheint, ist die Verknüp­fung des Gedicht­es „Wort­staub“ mit diesem weit­eren Res­o­nanzraum des Wel­tenum­bruchs. Es erweit­ert die Anam­nese des Selb­st, die das Gedicht mit dem Sub­jekt „Ich“ markiert, um eine kos­mis­che Dimen­sion. Wie nun mod­i­fiziert „Wort­staub“ den in „Mnemosyne“ gegebe­nen und in dessen Rezep­tion mehrfach kon­notierten Text?

Zunächst ist vielle­icht zu sehen, dass Wern­er Söll­ner sich hier nicht auf die meta­ph­ysis­che Sin­nrich­tung ein­lässt, die bei Hölder­lin im Vorder­grund ste­ht. In „Wort­staub“ wird nicht der Ver­lust ein­er Sprache beklagt, son­dern eine schein­bare Entwer­tung der Zeichen, „die Stamm und Rinde“ benen­nen kön­nten. Eine Sig­natur des Ichs ist daher eine ständig dro­hende Entwer­tung sein­er Sprache, sein­er Sprach­fähigkeit.

Als Grund für diese Zeichen ohne Bedeu­tung wird angegeben: „als hätte ich / zu viel gese­hen“. Was dieses Zuvielge­se­hene sein mag, bleibt unaus­ge­sprochen, was Raum öffnet zu fra­gen, ob es ein Zuviel an ein­er­seits trau­ma­tisieren­den Ereignis­sen und Schreck­en war, oder eine Art Reizüber­flu­tung an Ein­drück­en. Die rezep­tion­s­geschichtliche Deu­tungsüber­lagerung zu Hölder­lins Hymne leg­en natür­lich nahe, dass bei­des gle­ichzeig denkbar ist. Dieser Ein­druck ver­stärkt sich mit der (als Oxy­moron angelegten) Fort­führung mit „und angeschaut / nicht genug“. Die Ein­gangs bei Söll­ner einge­brachte Boden­losigkeit sowie die Zeichen ohne Bedeu­tung sind dem­nach das Ergeb­nis ein­er Unschlüs­sigkeit, eines Zweifels im Hin­blick auf das Anse­hen von und die Ansicht über die das Selb­st betr­e­f­fend­en Dinge. Was ist aber genau der Grund von „boden­los“?

Aber „boden­los“ liest sich vielle­icht nur im heimatver­liebten, ver­meintlich autochtho­nen und darin gäh­nend homo­ge­nen Denken der Grundbe­sitzer als prob­lema­tisch. Grundbe­sitzer wiegen sich in der Sicher­heit, auf fes­tem Boden zu ste­hen. Sie ken­nen ihren Stand­punkt. Grundbe­sitzer ver­wen­den „boden­los“ häu­fig als neg­a­tivis­ches Adjek­tiv in Kol­loka­tio­nen wie „boden­lose Frech­heit“ oder „boden­lose Unver­schämtheit“, „dem Fass den Boden auss­chla­gen“, also als Ver­let­zung des Grun­des. Doch wer „boden­los“ ist, der ver­fügt über Tiefe – poten­ziell unendliche Tiefe.

Man kann auf die Objek­tiv­ität im Ton dieser Gedichte nicht genug hin­weisen; eben­so sollte man auf die bisweilen in Ironie umschla­gende Pas­sagen viel­er dieser Texte acht­en. Freilich schwin­gen hier die Erschüt­terun­gen der abendländis­chen Zivil­i­sa­tion seit der Säku­lar­i­sa­tion und beson­ders nach dem Zweit­en Weltkrieg mit, doch selb­st die exzes­sivste Geschicht­sre­flex­ion bringt den Men­schen nicht unbe­d­ingt in Fas­sungslosigkeit. Vielmehr vielle­icht auch dies: Indem die Stimme dieses Gedichts ihren Boden, den Grund, das Land oder welche Begriffe wir in Der Schlaf des Tromm­lers hier­für auch find­en mögen … indem sie sich den Boden entzieht, ver­sagt, beklagt, ver­weigert, indem sie sich in Zweifel zieht, indem sie dies tut, eröffnet sie sich selb­st eine neue Tiefe, woraus und von woher sie als Stimme tönen kann.

Gehen auf brüchigem Boden, auf boden­losem Boden. Die Stro­phe wird nun durch ein konkretes Bild abgeschlossen: „[…] Wie wenn der Krug / von Anbe­ginn nicht ganz / gewe­sen wäre“. Auch die let­zten drei Zeilen von „Wort­staub“ erin­nern an einen Topos, den der frischge­back­ene Nobel­preisträger von 1992 aus­for­mulierte, näm­lich der karibis­che Dichter Derek Wal­cott.

„Break a vase, and the love that reassem­bles the frag­ments is stronger than that love which took its sym­me­try for grant­ed when it was whole. The glue that fits the pieces is the seal­ing of its orig­i­nal shape. It is such a love that reassem­bles our African and Asi­at­ic frag­ments, the cracked heir­looms whose restora­tion shows its white scars. This gath­er­ing of bro­ken pieces is the care and pain of the Antilles, and if the pieces are dis­parate, ill-fit­ting, they con­tain more pain than their orig­i­nal sculp­ture, those icons and sacred ves­sels tak­en for grant­ed in their ances­tral places. Antil­lean art is this restora­tion of our shat­tered his­to­ries, our shards of vocab­u­lary, our arch­i­pel­ago becom­ing a syn­onym for pieces bro­ken off from the orig­i­nal con­ti­nent.„6

Derek Wal­cott geht es um die vie­len frag­men­tierten Bezüge, die die sprach­liche und kul­turelle Iden­tität von der Karibik aus­machen. Sein Bild ist das zer­broch­ene Gefäß. Mit der Wahl dieser Meta­pher pop­u­lar­isierte Derek Wal­cott einen in vie­len postkolo­nialen Län­dern lange disku­tierten Zus­tand der Hybri­disierung, dem zugle­ich eine Sehn­sucht nach ein­er (ide­al­isierten) Heimat innewohnt.

Es kommt mit den Baby­boomers unter den rumänien­deutschen Lit­er­at­en nun die Möglichkeit auf, in der deutschen Lit­er­atur einen Stil zu entwick­eln, der fähig ist, die aus Glob­al­isierungs­dy­namiken her­vorgerufene per­ma­nente Veror­tung im Boden­losen auszu­drück­en. Ohne sofort Indi­vid­ualer­fahrung in deutsche Nachkriegspar­a­dig­men einzuord­nen, ließe sich Wern­er Söll­ners Werk daher erschließen als eine frühe Form der Hybrid­er­fahrung. Man denke an die Essaysamm­lung William Car­los Williams „In the Amer­i­can Grain“, die Essays von James Bald­win oder Tom Wolfes „Back to Blood“, anstatt an William Faulkn­ers oder Hen­ry James’ krampfhafte Erzeu­gung eines Grand Nar­ra­tives, der die Erfahrung des Sezes­sion­skriegs aus­deutet.

Aus der Per­spek­tive der Glob­al­isierungser­fahrung bzw. Glob­al­isierungsef­fek­ten lesen. Es scheint mir, diesen Gedicht­en geht es, wie die Kri­tik am „großen Gerede“ oben zeigt, vielmehr um Jet­zt-Zei­tanam­ne­sen als um ret­ro­spek­tive Judika­tio­nen, wie das Gedicht „Kleines Emi­granten­lied“ nahelegt.

Die die Fremde ertra­gen,
lieben bess­er allein.
Man muss Zuhause sagen
und über­all sein.

Schreib in offnem Gelände
uns bei­den ein Stück
vom ver­stüm­melten Ende
zum passenden Anfang zurück.

Ein unzeit­gemäßes Dasein, das zu ertra­gen sei, wird simuliert. Als sei die Wucht der urban­isierten und glob­al­isierten Großs­tadt etwas, das dem Sänger des „Kleinen Emi­granten­lieds“ nicht naturgemäß sei, obschon sie seine konkrete Wirk­lichkeit aus­macht. Ähn­liche Anklänge an das Ertra­gen ein­er nicht örtlich, aber exis­ten­ziell zu ver­ste­hen­den „Fremde“ find­en sich auch in den Charak­ter­isierun­gen des Ichs im Gedicht „Kann sein“, welch­es das Vage und Seinkön­nen nicht im Sinne eines Musilis­chen Möglichkeitssinn ver­ste­ht, son­dern als eine ständi­ge Gefahr des Ver­passens des Eigentlichen:

Dieses ewige Hin­und­her
zwis­chen Man­gel und Über­fluss
zwis­chen Katas­tro­phe und Erlö­sung
zwis­chen Leitar­tikeln und Lyrik –
es hat auch mich nervös gemacht
nervös und ungeduldig.

Beson­ders die For­mulierung „auch mich“ ist bemerkenswert, sug­geriert sie doch, dass rings herum längst alle schon befall­en wor­den sind von dieser Ungeduld und Ner­vosität; „auch“ der Aus­ge­wan­derte ist umgrif­f­en von diesem Zus­tand. Die Sig­natur des lyrischen Ichs wird also eine zunehmende Fest­stel­lung, dass es nicht nur sich selb­st als boden­los empfind­et, aber zudem auch eine gewisse Ent­frem­dung erfährt.

Eine weit­ere Anam­nese des Selb­st enthält das Gedicht, das mit „Zu Gast« betitelt ist. Die ersten bei­den Verse nuancieren die Hal­tung zur Sprache fol­gen­der­maßen: „Sprache, mein fremdes / Recht auf Gewohn­heit […]“. In der Sprache eignet sich das Sub­jekt das Fremde an als „mein fremdes“, denn es han­delt sich, wie wir aus den anderen Texte des Ban­des wis­sen, bei dem Begriff des „Frem­den“ um einen janusköp­fi­gen Begriff: in Bezug auf wen ist das „Recht auf Gewohn­heit“ fremd; es ist das „mein fremdes“ das mit dem Sub­jekt aus sein­er Fremde kam. Das Fremde hier ist das, was dem Adres­sat­en des Gedicht­es ent­zo­gen ist; es ist das unbekan­nte Vorze­ichen des Ichs des Gedichts. Es ist das Dir-Unbekan­nte. So erfährt die Vorstel­lung von Fremd, Fremd­sein, Fremd­heit in diesen Charak­ter­isierun­gen eine neue Mehrdeutigkeit. Gle­ichzeit­ig ver­tieft „Zu Gast“ das Gefühl von einem ständi­gen exis­ten­ziellen Wed­er-Noch, eines fortwähren­den Pro­vi­so­ri­ums, wie man der drit­ten Stro­phe ent­nehmen kann:

Zwis­chen Angel und Tür
steh ich herum, zu Gast
bei mir selb­st, immer näher
einem heim­lichen Ort, stumm
hüt ich das Feld
mit der Trom­mel und wür­fle
mich wund mit den Dis­teln
um ein eigenes Wort.

Das Gefühl, kein Ein oder Aus zu haben, im andauern­den Zus­tand eines Wed­er-Noch, eine unge­lenke Bei­d­händigkeit, ein Zwis­chen, ein auf der Schwelle ste­hen, eine boden­lose Dop­pel­bödigkeit, das Zwielicht, die ges­taute Exis­tenz. Die Xenophilie dieser Stimme, ihre unglück­liche Hingabe ans Fremde geht soweit, dass diese gewohnte, habituelle Fremd­heit bis in die intim­ste Inner­lichkeit reicht „zu Gast / bei mir selb­st“, nah am „heim­lichen Ort“, den son­st nie­mand ken­nt, der sich nicht mit­teilen lässt, der auch dem Sub­jekt selb­st fremd, obwohl „mein“ Fremdes ist. Dieses Gefühl der beständi­gen Unbe­haus­theit auf allen Ebe­nen drückt sich auch in „Was bleibt“ aus:

Das Haus der Welt ist schlecht gebaut
ich sitze krumm und schief darin.
Ach Sprache, meine stumme Braut,
sag mir, wo ich zuhause bin.

Wenn ich nun im drit­ten Gang Reflex­io­nen fortwähren­der Ankun­ft her­auslese, wird sich zeigen, dass die in diesen Gedicht­en aus den Fugen ger­atene Posi­tion­al­ität des Ichs nicht ein­fach die wehmütige Sit­u­a­tion eines Exi­lanten darstellt; vielmehr bricht in dieser Konzep­tion der Con­di­tio humana die Erfahrung des 21. Jahrhun­derts bere­its Bahn.

Eine Erfahrung, die man in den franko­pho­nen Lit­er­a­turen und im angloamerikanis­chen Diskurs kurzsichtig in der Domäne der Post-Colo­nial Stud­ies the­ma­tisierte. Sie ist mehr als bloße Migra­tion oder kul­turelle Hybrid­ität. Sie ist die mit Urban­isierung und Glob­al­isierung, aber auch dem beschle­u­nigten Wan­del des sozialen Gefüges sowie mit ein­er Labil­ität son­st eingepen­del­ter Tradierung­stech­niken ein­herge­hende Grund­befind­lichkeit des Men­schen im 21. Jahrhun­dert. Sie ist die unzu­ver­läs­sige, zweifel­hafte, sich boden­los entwer­fende Exis­tenz.

An den Städten vor­bei
am Palaver
vor­bei an den öli­gen Strän­den
mit dem großen Brud­er des Schlafs
übers Stop­pelfeld, ich steh
mit blu­ten­den Hän­den
in der schar­ti­gen Welt

In friedlich­er Zeit
fol­gt mir ein Schat­ten
der Vater der Dinge
ich schließe die Augen
und rede mich stumm, ich geh
mit blu­ten­der Klinge
zwis­chen den Wörtern herum […]
(Der Schlaf des Tromm­lers, „In friedlich­er Zeit“)

Aus der rezep­tiv­en Posi­tion, denke ich, ist es nun abso­lut notwendig, die Novität dieses Pro­jek­tes, die jet­zt­ge­bun­dene Dies­seit­igkeit der 1992 veröf­fentlicht­en Gedichte aus Der Schlaf des Tromm­lers ernst zu nehmen und sie nicht reflexar­tig mit typ­is­chen Lek­türe­mustern gehoben­er Lit­er­atur aus der BRD der 80-Jahre zu ver­rech­nen. Die – man muss es lei­der so sagen – bequeme Art beste­ht näm­lich darin, wie es zahlre­iche Kom­men­ta­toren getan haben, die Gedichte auf die Grand Nar­ra­tives der lit­er­arischen BRD nach 1945 einzu­passen. Doch schon 1988, im Band Kopfland. Pas­sagen mah­nt das lyrische Ich im »Frag­ment für Arni­ka«, indem es seine Eigen­ständigkeit fast apodik­tisch behauptet:

das von vorhin, was
war, das war nicht
ich, das war Celan, das ist vor­bei, das von vorhin, vor­bei
und wohin.

Reflex­io­nen fortwähren­der Ankun­ft

Im Gedicht „Hotel Eden“ erhält der Leser eine auf­schlussre­iche Ein­sicht in die Konzep­tion der Ankün­ftigkeit.

Zwis­chen Ankun­ft
und Abschied, prak­tis­cher­weise
am Bahn­hof und meist nur
in größeren Städten, jeden­falls fern
der Natur – dort, Wan­der­er, kommst du
zum Eden.

Das explizite Involvieren des Lesers geschieht in der Anrufung »dort, Wan­der­er kommst du«. Schon in dieser Pas­sage wird deut­lich, dass es hier­bei keines­falls oder nur aus illus­tra­tiv­en Grün­den um ein am Autor ori­en­tiertes biographis­ches Pro­jekt geht. Vielmehr ver­han­deln die Gedichte den Wan­der­er, sein Vagan­ten­da­sein, auf ein­er all­ge­meineren Ebene.

Es ist der Großs­tadt­men­sch, der im fortwähren­den Tran­sit existiert, der »prak­tis­cher­weise« von ein­er util­i­taris­tis­chen Ide­olo­gie geprägt ist, die ihn von »der Natur« ent­fer­nt, sein Leben »meist nur / in größeren Städten« ertra­gen lassen. Aber es gibt auch Trost, denn das Gedicht, darin der Garten der Schöp­fung nicht mehr Ursprung, son­dern schlicht ein »Hotel« darstellt, darin man unverbindlich ein- und aus­ge­ht, schließt mit fol­gen­der Stro­phe:

Wan­der­er, du kannst es nicht ver­fehlen.
Auch hier ist Arka­di­en, du über­leb­st
im Eden, bis der jüng­ste Tag anbricht
und schreib­st auf einem Feigen­blatt
Papi­er und wäschst dich mit der Seife
der Ideen und wählst zuerst die Null
um mit Utopia zu sprechen.

Man hat das Gefühl, das lyrische Ich entwick­le sich ger­ade zu einem Vir­gil, der den Wan­der­er Dante ger­ade durch den Hades führe mit ein­er antikisch-klas­sis­chen Gelassen­heit und Weisheit: »Auch hier ist Arka­di­en, du über­leb­st«. In dieser Stro­phe fließen gle­ich mehrere Escha­tolo­gien zusam­men: die christliche Vorstel­lung vom »jüng­sten Tag«, die abra­hami­tis­che Vorstel­lung von »Eden« und die aus dem Fall ent­standene Scham (»Feigen­blatt«), aber auch eine human­is­tis­che Sote­ri­olo­gie des Rein­waschens der Ideen und der Nullpunkt ein­er Utopie. Aber zwis­chen all diesen Din­gen ist »Arka­di­en«, der vielle­icht glück­lich­ste Land­strich aller Erin­nerung. Doch auf dem boden­losen Boden all dieser Escha­tolo­gien gilt es nun, das einzulösen, was in zahlre­ichen Tex­ten immer wieder beschworen wird – etwa in der let­zten Stro­phe von »Kleines Emi­granten­lied« oder der let­zten Stro­phe im Gedicht »Swanns Reise«, das den Band abschließt (in bei­den Fällen wech­selt das Gedicht in die Anrede).

Schreib im offe­nen Gelände
uns bei­den ein Stück
vom ver­stüm­melten Ende
zum passenden Anfang zurück.
(„Kleines Emi­granten­lied“)

Lieb­ste, der Welt­nebel weicht
In entle­gene Wörter zurück:
Was uns am Ende erre­icht,
ist ein geschriebenes Glück.
(„Swanns Reise“)

„Ver­schüt­tetes wuchert und schwelt / an bit­teren Schicht­en vor­bei“

Wie wirkt sich die oben in drei Akzen­tu­ierun­gen her­aus­gear­beit­ete Posi­tion­al­ität und Kon­sti­tu­tion des Sub­jek­ts auf seine Imag­i­na­tio­nen und Evoka­tio­nen des Ver­gan­genen aus? Welche/s Vergangenheitserlebnis(se) simuliert der Text des Gedichts? Die Emi­granten­er­fahrung, wie soeben angedeutet, drama­tisiert eine harte Schei­dung zwis­chen Sub­jekt der Gegen­wart und seinen Ver­gan­gen­heit­en. Es lässt eine Grund­befind­lichkeit der Verun­sicherung, der Boden­losigkeit, der Hybri­disierung, der ständi­gen Ankün­ftigkeit, auch der Unbe­haus­theit wie sie alle für alle in der Mod­erne leben­den Men­schen gilt, beson­ders grell erscheinen. Sie ver­weist auf eine Struk­tur der Herkun­ft, die nicht nur zeitlich entrückt, son­dern auch örtlich dis­tanziert ist bzw. diesen kaum iden­ti­fizieren kann.

Das Gedicht „Wort­staub“ benen­nt diesen Bruch im Bild von „Verschüttete[m]“, als sei der Stollen des Selb­st ver­schüt­tet, der Grund nicht mehr betret­bar. Oder: schaut das Sub­jekt zurück auf eine Ebene, der es entstiegen ist, wie auf eine Land­schaft, die nun unter ein­er Law­ine liegt und unsicht­bar gewor­den ist? Doch fort beste­ht diese ver­schüt­tete Ver­gan­gen­heit­s­land­schaft, sie „wuchert“ oder – noch bedrohlich­er – „schwelt“. Bei­de Ver­ben kon­notieren die örtlich und zeitliche dis­tanzierte Ver­gan­gen­heit aktivisch. Sie ist unsicht­bar, aber nicht erloschen, was sie umso gefährlich­er zu machen scheint.

Zeit­szene­r­ien: Bühne des Gewe­se­nen

Was mir auf­fäl­lig scheint an Gedicht­en wie „Sieben­bür­gis­ch­er Heuweg“, darin sich die lyrische Stimme gram­ma­tisch in ein­er simulierten Ver­gan­gen­heit lokalisiert („hier / war ich“), ist der Detail­re­ich­tum, mit dem das Gedicht Orte und Land­schaften präsen­tiert. Obschon es dort heißt, es sei eine „unpo­et­is­che Land­schaft“, untern­immt die Stimme hier eine große Anstren­gung, um diese Szene detail­liert auszuschmück­en.

Der Leser erfährt vom „schwarzen, unruhi­gen Vieh“. Er wird an einen schein­bar genau zu iden­ti­fizieren­den Ort gebracht „hin­ter den Bergen am Wal­drand“, ihm bringt das Gedicht die Fig­uren („die Män­ner“) in detail­liert­er Sinnlichkeit ihrer Bewe­gung nahe: „durchs knieho­he Gras“. Der akustis­che Reich­tum dieser Land­schaft wird zur Sprache gebracht: „Hor­nis­sen­gewölk“, „ein ver­späteter Kuck­uck rief“, „schrill / schrie der Maulwurf“, „san­gen Stein und Met­all“.

Gle­ich­wohl scheint mit dieser „unpo­et­is­chen Land­schaft“ etwas nicht zu stim­men. Sie ist voller bru­taler Zufäl­ligkeit, wenn etwa der ger­ade noch dem Kuck­uck antwor­tende Maulwurf offen­bar von der Sense der Män­ner geköpft wird. Diese Enthaup­tung des Maulwurfs jedoch macht den eigentlichen Kern der Ver­gan­gen­heit­ser­fahrung dieses Gedichts aus, denn „bevor“ er geköpft wird, kann er noch eine „Antwort“ geben auf die „fremde Stimme des Glücks“, wom­it der Kuck­uck ruft. So ist diese „unpo­et­is­che Land­schaft“ voll von – nun geköpften – Dialo­gen zwis­chen Lebe­we­sen und Din­gen jen­er Welt, deren „Blut­spur“ das lyrische Ich gefol­gt ist, um sie her­vorzu­rufen aus dem Gewe­se­nen.

Diese fast mikrokos­misch vers­essene Detail­liertheit find­et sich in zahlre­ichen ret­ro­spek­tiv­en Gedicht­en, sei es „ein Löf­fel voll Mehl / in der Truhe“ in dem Gedicht „Hin­ter­lassen­schaft“ oder sei es die dör­fliche Kuli­narik im Gedicht „In der Küche“, darin wir „zwis­chen Mess­er und Brett“ geführt wer­den, oder sei es schließlich das Fig­uren­panora­ma jen­er Welt wie z.B. „Parteisekretär“, der „Herr Pfar­rer“, das „Mägdlein“, die „Märch­en­erzäh­ler“. Dieser Detail­re­ich­tum ist keine zärtliche Rem­i­niszenz, wie die vom ver­s­tummten Maulwurf hin­ter­lassene „Wunde im Gras“; auch ist er nicht so sehr ein schein­bar­er konkreter Flucht­punkt für die Meta­pher. Vielmehr insistiert das Detail auf die Gesamtheit dieser Land­schaft.

Aufhe­bung der Zeit und das Here­in­brechen der Geschichte

Anhand des Gedichts „Königs­bo­den“ lässt sich eine weit­ere Kon­no­ta­tion dieser „unpo­et­is­chen Land­schaft“ disku­tieren. Diese bäuer­liche Welt wird im Stil der Buko­lik als zeit­en­thoben in ihrer vor­mod­er­nen Kon­sti­tu­tion angerufen: „auf und ab und davon in eine Zeit / ohne Ver­gan­gen­heit“. Im Ver­folg des Gedichts geschieht jedoch eine selt­same Wand­lung. Zunächst „stapft der Bauer im Kleefeld“ noch ein­er „wildern­den Kuh hin­ter­her“. Was zunächst wie eine Szene aus einem Idyll daherzukom­men scheint, nimmt jedoch eine gewalt­same Wen­dung: er „sticht / ihr gnädig den Bauch auf“.

Diese fast bib­lisch scheinende Szene, darin der autochthon vorgestellte Bauer das Tier hin­mordet, führt nun eine Sequenz ein, die voller Momente der Plün­derung ist. Diese sakrale Stimme wird aber erst noch erhöht: „Die Kro­ne mit dem dampfend­en Schweißband / am Stroh hält er hoch und grüßt / die Hoheit der Äck­er“. Man gewin­nt den Ein­druck das „gnädig“ erstoch­ene Tier werde plöt­zlich Teil eines Rit­u­als. Doch nun nahen sogle­ich die Räu­ber und Plün­der­er: der „Bus­sard, der sich greift / was der Herr über Leben und Tod auf dem Boden / mit dem geden­gel­ten Zepter gescheucht hat“. Der Dolch wird zum Zepter, der offene Bauch der „wildern­den Kuh“ wird nun aus­ge­beutet: „Zis­chend veren­det das Vieh, ein Wind­stoß / aus dem gedun­se­nen Bauch lockt die himm­lis­che / Heer­schar der Fliegen und Brem­sen“.

Nun bricht endlich in diese Szene die schwere Hand der Welt­geschichte ein, denn unver­mit­telt wan­delt sich auch der Kadav­er der Kuh zu Krieg­sopfern: „Der Sol­dat / mit hölz­ernem Kreuz salu­tiert, als übers rumpel­nde Feld / der Wagen her­ankommt und die Gefal­l­enen abholt“. Das Idyll wird zum Kriegss­chau­platz, das Gehen des „Bauern im Kleefeld“ wird zum „Ges­pann“, ein Wagen, wom­it „der knochige Mann / mit der Peitsche die Flur“ durch­streift über den „Hohlweg“.

Das Gedicht „Königs­bo­den“ präsen­tiert sich als Wand­lungsszene, in der „in ein­er Zeit ohne Zukun­ft“, eine Land­schaft die noch keinen „Umgang / durch Schä­den“ ken­nt, ihre Versehrung ent­ge­genge­ht. So wird die „unpo­et­is­che Land­schaft“ zu einem Ver­gan­gen­heit­ser­leb­nis, bei dem eine paradiesisch zeit­lose Welt zu ein­er ver­wun­de­ten post­lap­sarischen Welt wird. Eine solche Ver­schränkung von dör­flich­er Welt und mil­itärisch versehrter Welt, der die Unschuld ger­aubt ist, find­et sich auch beispiel­sweise im Gedicht: „Sand­kuh­le“:

Ver­lassene Gegend: im Stroh
Hüh­nerblut, Groß­mut­ters Kinder –
Pup­pen im Nir­gend­wo.
Schwal­ben­flug, Regen­verkün­der,

du treib­st uns die Büf­fel ins Joch,
Her­rgott, du treib­st sie ins Eisen.
In Groß­vaters Brust ist ein Loch,
draus tönen die alten Weisen.

Er geht mit der Sense vor­bei,
bren­nen­des Mehl im Tor­nister,
die Asche gestreut von der Spreu.
Ern­tezeit, Stiefel­ge­flüster.

Die Müh­sal des Tiers und die Schrap­nell-Wunde klin­gen hier zusam­men im Reim von „Joch“ auf „Loch“. Aber auch das lebenser­hal­tende, leben­snotwendi­ge Schlacht­en der Hüh­n­er, das „im Stroh / Hüh­nerblut“ hin­ter­lässt wird mod­i­fiziert zum Vorze­ichen der Kriegs­ge­fal­l­enen: „Groß­mut­ters Kinder“. Und in der let­zten Stro­phe des Gedichts wird zumin­d­est auf der Ebene des Reims dieser Zusam­men­klang getren­nt. Es reimen sich nur noch „Tor­nister“ und „Stiefel­ge­flüster“ (bei­des aus der Welt des Krieges) ein­er­seits sowie „vor­bei“ und „Spreu“ (dialek­tal gereimt „Sprei“) ander­er­seits. Darüber düster das viele Gedichte durchziehende Motiv der „Sense“, die sowohl die bäuer­liche Lan­dar­beit sig­nal­isiert, aber auch die „Ern­tezeit“ des Todes.

Die so imag­inierte Ver­gan­gen­heit ist dop­pelt kodiert, als zeit­los und als zunehmend versehrt. Wie in der bib­lis­chen Denkung begin­nt allerd­ings mit dieser post­lap­sarischen Ver­wun­dung die Zeitrech­nung, die diese dör­fliche Welt aus ihrer Zeit­losigkeit her­aus­reist in die Geschichte der Mod­erne. So ste­ht diese »unpo­et­is­che Land­schaft« nur teil­weise außer­halb des abendländis­chen Grand Nar­ra­tives. Sie ist in den Gedicht­en nicht zu ein­er idyl­lis­chen Heimat stil­isiert, son­dern wird zum Ort, darin die Geschichte der Mod­erne ihre blutige Geburt zele­bri­ert.

Sturm auf die Bastille: Evoka­tio­nen welt­geschichtlich­er Dat­en

Doch die Gedichte in Der Schlaf des Tromm­lers treiben nicht nur Szenen sub­jek­t­ge­bun­den­er Erfahrung her­vor, son­dern insze­nieren auch geschichts­buchver­bürgte, kollek­tive Dat­en wie etwa der Text „Paris im Novem­ber“. Ich möchte zwei davon besprechen, da sie die oben skizzierte Dynamik von Geschichte klar­er erken­nen lassen, näm­lich im Kon­trast.

Obwohl unter­schiedliche Quellen dieses Gedicht speisen mögen, möchte ich den Blick auf den Umgang mit der franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion hier betrachten—ein in Lehrbüch­ern fest fundiertes Datum der Welt­geschichte. Es zeigt wie „uralte Muster im Gepäck“ hier mod­i­fiziert Ver­wen­dung find­en.

Durch die abgeriegelte Avenue Kléber
braust die Nach­hut der Rev­o­lu­tion:
ein paar Lim­ou­si­nen mit Blaulicht

Vor der Bastille ste­ht das Volk
diese wild­frem­den Leute
und holt uns für einen Zehn­er
die Frei­heit vom Feuer
ein paar gebran­nte Kas­tanien.

Die Aufmerk­samkeit wird zunächst auf die „Rev­o­lu­tion“ gerichtet: die his­torische Dimen­sion jen­er Straße im 16. Arrondisse­ment, die nach dem in Kairo am 14. Juni 1800 ermorde­ten Gen­er­al der Rev­o­lu­tion Jean-Bap­tiste Kléber benan­nt ist. Während das Gedicht diese hohe His­to­rie der heute auf den Arc de Tri­om­phe zulaufend­en Avenue hochhält, wird die dem Gedicht eingeschriebene Gegen­warts­beobach­tung satirisch ges­timmt: „die Nach­hut der Rev­o­lu­tion“, die den adeli­gen Eliten ein Ende set­zen sollte und zu ein­er demokratis­chen Kon­sti­tu­tion der Repub­lik führte, ebendiese „Nach­hut“ beste­ht gegen­wär­tig aus den unter Polizeigeleit umher­fahren­den „Lim­ou­si­nen“, deren Insassen offen­bar zu den vie­len Luxu­sho­tels unter­wegs sind, wie etwa das an der Nr. 17 befind­liche Hotel Raphael oder das Hotel Majes­tic (Nr. 19), das nach dem Krieg die UNESCO beherbergte und inzwis­chen durch den Emir von Katar als The Penin­su­la Paris Hotel geführt wird.

Auch die zweite Stro­phe führt qua Beschwörung der Geschichte eine Kap­i­tal­is­muskri­tik bzw. eine Kri­tik der Kon­sumge­sellschaft vor: Während das franzö­sis­che Volk in der Rev­o­lu­tion die Bastille als Sym­bol der Unter­drück­ung stürmte, genügt nun die kleine „Frei­heit vom Feuer“, die aus „gebran­nten Kas­tanien“ beste­ht. Auch das Volk wird als eine sich gegen­seit­ig unbekan­nte Ansamm­lung von „wild­frem­den Leuten“ beschrieben, das nicht im Akt sein­er Befreiung geeint ist, son­dern im Moment eines kleinen Kon­sums. Anders als in den sub­jek­t­ge­bun­de­nen Geschicht­ser­leb­nis­sen, wird hier die Franzö­sis­che Rev­o­lu­tion als Lehrstück zitiert.

Ein ähn­lich­er Umgang mit kollek­tiv etablierten Ver­gan­gen­heits­bildern find­et sich auch im Gedicht „Alter Kloster­arten in Roy­au­mont“. Die Tech­nik erin­nert etwas an Carl Spitzweg oder Cas­par David Friedrich. Auch hier tritt die Aus­gestal­tung des Gedichts mit minu­tiösen Details zurück, wie sie in den auto­bi­ographisch arbei­t­en­den Tex­ten stat­tfind­et. Die klöster­liche Szener­ie wird als Bild der Vergänglichkeit zu ein­er Folie für das Leben des Indi­vidu­ums in ein­er Geschichtsvorstel­lung, die vom beständi­gen erricht­en und niederge­hen aus­ge­ht, also zyk­lisch gedacht ist: „Stein­haufen errichtet / und niederge­bran­nt, Vor­räte angelegt / in unterirdis­chen Gewöl­ben, die Welt / angeschwärzt bei sich selb­st“. Diese Reflek­tion auf den Ort wird nun im Ver­folg des Textes auf das Indi­vidu­um appliziert: „Durch die Jahrhun­derte ziehen / auf zwei Beinen / mehr oder weniger / lau­thals und spur­los“.

„In bei­den Fällen, also bei bei­den Gedicht­en ist His­to­rie als eine Kon­ven­tion gedacht, eine bere­its erzählte, reflek­tierte, erforschte Geschichte, die als Geschichtss­chrei­bung ihre Lehren enthält. Dies ist nicht spek­takulär, doch lässt sich dadurch die Dynamik der anderen For­men der Ver­gan­gen­heitssim­u­la­tion (etwa in „Königs­bo­den“) umso klar­er sehen, denn dort entste­ht Geschichte aus der Zeit. Sie wird nicht her­beiz­itiert als Datum, son­dern erschaf­fen als exis­ten­zielle Stim­mung und exis­ten­zielles Erleben.„7

Zuge­spitzt kön­nte man die alte Kri­tik (Geschichte zu schreiben, hieße zu verzicht­en, sie zu machen) umkehren, denn das lyrische Sub­jekt wird hier erst als Geschicht­ser­leb­nis erfahrbar und kom­mu­nika­bel. Das oben beschriebene an sich zweifel­nde Sub­jekt des Gedichts erzeugt im Modus des Dicht­ens immer­fort, insofern es nicht ein­fach­hin Geschichts­dat­en als Kulisse ver­wen­det, den zeit­losen leg­endären, märchen­haften, aber „legit­i­men“ Raum darin erlebte „Gegen­wart und Ver­gan­gen­heit“ ihre „Bezüglichkeit einge­hen“. Wern­er Söll­ner umge­ht mit einem spez­i­fisch kon­sti­tu­ierten Sub­jekt, das die Stimme des Gedichts trägt, jene Prämis­sen der his­torischen Schule, samt ihres uni­ver­salgeschichtlichen Ges­tus, der his­torische Erfahrun­gen als voraus­ge­set­zt überge­ht … Wern­er Söll­ner umge­ht oder über­windet diese Prämis­sen zugun­sten ein­er poe­t­ol­o­gis­chen Meth­ode der imag­inieren­den Sim­u­la­tion, der selb­stre­f­eren­ziellen Entz­if­fer­ung des auch in der Dechiffrierung sein­er Imag­i­na­tio­nen sich zweifel­haft bleiben­den Selb­st und eines rezep­tion­ser­möglichen­den Ver­ste­hens des lyrischen Sub­jek­ts, das nicht als kog­ni­tivis­tis­che Ein­sicht basiert, son­dern sich als Erleb­nis vol­lzieht. Damit prob­lema­tisieren diese Gedichte die Kon­sti­tu­tion des Selb­st in der urba­nen Spät­mod­erne; sie rin­gen um Selb­sthabe und Selb­stver­ständi­gung angesichts ein­er per­ma­nen­ten Umschich­tung der Dinge. Diese Lin­ie find­et sich auch ein­drück­lich im Band Kopfland. Pas­sagen (1988) und zeich­net eine der vie­len wertvollen Spuren aus, die Wern­er Söll­ner seinen Lesern als ästhetis­che Erfahrung aus­gestreut hat.