Wie bezieht sich das doch allem so entrückte Subjekt der Spätmoderne auf eine Herkunft, die es vielleicht nicht kennt oder immer mehr vergisst? Werner Söllners Gedichtband Der Schlaf des Trommlers (1992) gibt viele Anlässe über diese Frage nachzudenken. Der Autor inszeniert darin über viele Gedichte hin ein sich selbst zweifelhaft gewordenes lyrisches Ich und schickt es dann in all seiner fragilen Unsicherheit auf eine Spurensuche, nach den vielen imaginierten Wegmarken der Herkunft. Dem Gedichtband stellt Werner Söllner das Gedicht „Wortstaub“ voran, welches die in jenem Band versammelten Gedichte auf jene eigenartige Fährtenlese entsendet. Die erste Strophe heißt:
Wie fremd
ich mir bin. Von innen
die Haut noch warm vom Blut
im Schuh, von erloschnen Geschichten.
Helle Träume berichten von dunklem
Aufruhr, vom Sinn, der sich staut
in der Leere.
Die Einheit eines jeden Verses bricht den prosaischen Duktus, syntaktische Einheit und Vers sind hier offensichtlich nicht identisch, vielmehr kollidieren syntaktische Einheiten auf der Verseebene und werden in einer neuen (suprasyntaktischen) Einheit vereint: „Wortstaub“ staut so Bedeutungen, sodass aus der entstehenden Ambiguität die tragische Dynamik der lyrischen Stimme vernehmbar wird.
Das Sujet des Gedichts, welches zwischen einer sich zweifelhaften Gegenwart einerseits und retrospektiven Imaginationen von Vergangenheiten andererseits changiert, zusammengenommen als thematischer komplex, bringt ein textuelles Gebilde hervor, das die geschichtsphilosophischen sowie subjekttheoretischen Kränkungen des 20. Jahrhunderts durchgemacht hat. Das Gedicht erzeugt einen Andersort, einen textuell verfassten Raum, eine Heterotopie1. Im Gegensatz zum naiven biographischen Realismus, wie ihn das 19. Jahrhundert noch etwa mit William Wordsworths „The Prelude“ durchexerzierte, profitiert Werner Söllner (aber auch etwa Jürgen Becker) von einem notwendigen Relativismus im Hinblick auf die historische Verortung der Selbstgenese—diese ist nun auch bei Werner Söllner zwar in einer nüchterneren Sprache zu finden als bei den Romantikern, dennoch ist sie in ihrer Haltung stärker ästhetisiert.
Woran liegt es? Werner Söllners Literatur ist weniger autobiographisch im Sinne der Historie des Selbst und vielmehr im Modus der ästhetisierenden Legendenbildung verfasst. Bereits etwa Ernst Bertram ging auf diese Verschiebung ein als er Rankes Geschichtsverständnis kritisierte:
„[persönliche] Geschichte ist nie gleichbedeutend mit Rekonstruktion irgendeines Gewesenen, mit der möglichsten Annäherung auch nur an eine gewesene Wirklichkeit. Sie ist vielmehr gerade die Entwirklichung dieser ehemaligen Wirklichkeit. […] Wir vergegenwärtigen uns ein vergangenes Leben nicht, wir entgegenwärtigen es, indem wir es historisch betrachten. Wir retten es nicht in unsere Zeit hinüber, wir machen es zeitlos. […] Nur als Bild, als Gestalt, nur als Mythos lebt sie, nicht als Kenntnis und Erkenntnis eines Gewesenen“.2
In seiner Studie zum Verhältnis von Literaturgeschichte und Mythologie konstatierte Robert Weimann bereits 1977, dass sich quellengestützte, historisch-kritische „Geschichtserkenntnis“ im Sog solcher literarischen Strategien verwandelt in ein „Vergangenheitserlebnis“.3 Sie schafft aber nicht einfachhin einen subjektiven Blick ins Vergangene oder auf das durch Vergangenheiten beeinflusste Subjekt des Gedichts. Vielmehr generiert diese Strategie der Vertextung etwas Drittes, was sich im rezeptionsästhetischen „Zeitlosen“ abspielt. Die vom lyrischen Subjekt vorgenommenen Wertsetzungen verdrängen also die bloße (anamnetische) Rekonstruktion.
Aber vielleicht zunächst einmal nochmal nachdenken über die oben zitierten Eingangsverse von „Wortstaub“.
„Wie fremd“: Das Fremde als Vergleich, als Approximation oder als Verlegenheit—relative, unbestimmte Fremdheit, die nicht bestimmt, ob sie fremd ist oder vertraut, sondern das Fremdsein nur als eine bestmögliche Charakterisierung dessen vorstellt, worum es geht. Somit ist das Fremdsein nicht Zustand und Diathese des lyrisches Ichs, sondern eben nur die bestmögliche Approximation zur tatsächlichen Konstitution des lyrisches Ichs: „wie fremd“.
„ich mir bin. Von innen“: Es steht weniger die Einholung von Fremdzuschreibungen im Vordergrund. Vielmehr beharrt diese Instanz darauf, dass das, was sie sei, aus ihr selbst, in ihrem inneren ist – oder von dorther spricht. Umgekehrt impliziert dies auch eine gewisse Verschlossenheit des Selbst zu ihrer Außenwelt. Was sie sei, lässt sich nicht von außen oder von Außenstehenden wissen, zuschreiben oder erkennen.
„die Haut noch warm vom Blut“: Diese Zeile (wie auch der Präsens „bin“ aus der vorausgehenden Zeile) verankert mit »noch« die Stimme in der Gegenwart. Jetzt, noch immer, ist das Ich lebendig. Die Außenschale, die diese „wie fremd[e]“ Innenwelt enthält und gleichsam verbirgt, ist noch durchtränkt vom lebendig machenden Saft des Blutes. Gleichwohl eröffnet die Polysemie des Blutes eine weitere Dimension, nämlich des Blutes als die Zugehörigkeit, Blutgruppe.4
„im Schuh, von erloschnen Geschichten“: Der grammatikalische Satz schließt hier im vierten Vers. Isoliert verweist jedoch die Zeile zunächst in eine Vergangenheit, einen Imperfekt: die erzählte Vergangenheit, eine Vergangenheit der Geschichten. Diese ist zugleich erloschen wie auch märchenhaft präsent. Sie ist „im Schuh“ gleichzeitig Bekleidung des Fußes sowie Chiffre des Gehens, des Fortgegangenen.
Am Ende des ersten Satzes, der auf vier Verszeilen arrangiert ist, angekommen, öffnet sich die Kluft zwischen einer sich selbst zweifelhaft fremden Gegenwart einerseits und einer entfernten sowie erloschenen Geschichte in der Vergangenheit andererseits. Beide Zeitmarker sind refaktiert im lyrischen Subjekt und erzeugen einen höchst heiklen Standpunkt der Stimme. Die folgenden drei Verse, die den nächsten Satz dieser ersten Strophe fassen, geben dieser Exposition nun ihren dramatischen Knacks.
„Helle Träume berichten von dunklem“: Das Paradoxon wird nun unumwunden ausgesprochen. Was in der sublimen Welt des Traumes hell ist, liest sich in der scheinbar objektiven und auf Fakten basierenden Mitteilungsform des Berichts („berichten“) als Dunkelheit.
„Aufruhr, vom Sinn, der sich staut“: Der Aufruhr und Sinn sind nicht dicht, sondern gestaut, sind gehemmt. Beide Begriffe drängen eigentlich auf ihre Entladung, obschon beide bleiben im Zustand der Stauung verhaftet bleiben.
„in der Leere“. Das Vakuum ist der Zustand dieser Stauung. Sinn und Aufruhr, die Helligkeit des Traums sind gehalten, verhaftet und gefangen „in der Leere“. Der dramatische Knacks des sich in seiner Gegenwart zweifelhaften und seiner Vergangenheit entzogenen Subjekts ist also eine helldunkle Lähmung von Aufbegehren und Sinnstiftung, also kurzum der Stauung von (aufrührerischer, notwendig gewaltsamer) Setzung des Selbst und der sinnstiftenden Selbstbeziehung.
Zweifelhafte Gegenwart
Hier wird natürlich auch eine identitätspolitische Dimension deutlich. Demungeachtet scheint es mir jedoch hilfreich, die biographische Situation des Autors in einem allgemeineren Kontext zu betrachten. Es wirken auch bei ihm Effekte aus der Erfahrung von Urbanisierung und Globalisierung nach, wie sie für die Signatur des späten 20. und des angebrochenen 21. Jahrhunderts typisch sind. Sie ergeben sich aber aus einer intensivierten (freiwilligen wie auch unfreiwilligen) Mobilität von Menschen weltweit und man sollte sie daher nicht immer auf ihre Einfügung in historische Grand Narratives reduzieren.
Der Band Der Schlaf des Trommlers imprägniert das lyrische Ich über die Reflexion von Gegenwartserfahrungen auf multiplen Ebenen. Dieses Ich stellt seine Verunsicherung, Bodenlosigkeit, fröhliche Hybridisierung, seine permanente Ankunftsstimmung sowie seine existenziellen Unbehaustheit zur Schau.
Ich möchte diese Merkmale unter drei Perspektiven sammeln und darlegen. Ich denke, dass wir hier eine Konstitution des lyrischen Subjekts vorfinden, die nach der Logik einer Hermeneutik des Verdachts operiert, einem Verdacht, der sich als ein sich zweifelhaft gewordenes Subjekt ausdrückt. Betrachten wir zunächst in drei Abschnitten einige solcher Merkmale, die das lyrische Subjekt kennzeichnen. Ich schlage drei Zugänge vor: 1) Diagnosen im „großen Gerede“, 2) Anamnesen des Selbst sowie 3) Reflexionen fortwährender Ankunft.
Diagnosen im „großen Gerede“
Die konstant über den gesamten Band sich als Emigrant ausweisende Sprechstimme begründet die Beobachterperspektive der Gedichte (vgl. „Kleines Emigrantenlied“). Zunächst möchte ich insbesondere vier Gedichte betrachten: „Langsam, aber sicher“, „Kann sein“, den siebenteiligen Zyklus „Bilderbogen aus der Schweiz“ sowie „Paris, im November“. In diesen Texten kommt eine Kritik westlich geprägter Gesellschaft zum Ausdruck. Obwohl aber diese Kritik ausformuliert wird, spart sich das diese Kritik vortragende Ich nicht davon aus, sondern weiß sich auch betroffen.
Das (Franz Hodjak gewidmete) Langgedicht „Langsam, aber sicher“ evoziert zunächst eine Reihe von zeitgeschichtlichen Entwicklungen, die in der Erfahrung der Sprechstimme als gleichzeitig dargestellt werden. Sie sind grammatisch mit „während“ eingeleitet, was hier als zeitliche Subjunktion fungiert.
Während es langsam, aber sicher wärmer wird
in der Welt, während wir uns irrsinnig freuen
über das Verschwinden der Grenzen, während
wir hinter der letzten sichtbaren Galaxie
verzweifelt nach Leere suchen, während das
Quecksilber der Utopie von der klassenlosen
Gesellschaft ins Grundwasser sickert, während
wir staunen, weil es im Kino noch Menschen
mit Tätowierungen gibt, während wir langsam
aber sicher Abschied nehmen von Formen und
Werten und zurückkehren zur Vollwertkost, in
die Normalität, zum zwanglosen, netten Gespräch,
während wir uns mit der richtigen Gesinnung
immer mehr vormachen, was uns keiner mehr
abnimmt, während wir langsam, aber sicher
aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und
in eine Zukunft aus Altpapier gehen, während wir
uns auffressen lassen vom Geld, von einer guten
Beziehung, von der Angst vor der Angst, vom
kleineren Übel, von der Bedeutung des Augenblicks,
von der Freiheit, sich für ein kleineres Übel
und gegen sich selbst entscheiden zu können,
während wir von der Liebe sprechen und die Namen
der Geschöpfe vergessen, während die Welt langsam,
aber sicher in der Umwelt veschwindet.
Die Wucht dieser ersten Strophe, die grammatisch den in der darauffolgenden Strophe ausgeführten Hauptsatz einleitet, entsteht freilich aus der Häufung der mit „während“ eingeleiteten Phänomene. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass dieser Abschnitt von Wideraufnahmen „kleineren Übel“ sowie „langsam, aber sich“ geprägt ist.
Semantisch betrachtet erzeugen besonders Adjektive und Verben hier den Eindruck negativer Wahrnehmung. Insgesamt dominiert die Atmosphäre eines Übergangs. Die Gegenwart der Sprechstimme wird merklich transitiv als Zwischenzeit inszeniert.
Die Gegenwart dieser Strophe ist ein Anbrechen von verschwindenden Grenzen, der Expansion des Blickes auf die „letzten sichtbaren Galaxien“, eines „wärmeren“ Wohlgefühls, einer zunehmenden Zwanglosigkeit, eines allgemeinen Bescheidwissens, welches sich aus dem Lernen „aus den Fehlern der Vergangenheit“ beflügelt; die Gegenwart ist darüber hinaus getragen von einer auffälligerweise nicht weiter inhaltlich qualifizierten „Freiheit“ und dem sich Einstellen einer „Normalität“.
Das „Verschwinden der Grenzen“ wird begleitet von einer vielleicht als exzessiv und hohl empfundenen „irrsinnig[en]“ Freude; das Glück eines „kleineren Übels“ wird zum Preis der (optionalen) Selbstverleugnung gewonnen („gegen sich selbst entscheiden können“); intrinsische (moralische) Werte werden ersetzt durch trendiges Konsumverhalten („Vollwertkost“), sodass selbst die aufrechterhaltene Simulation einer (moralischen) Haltung zur unglaubhaften Farce wird („mit der richtigen Gesinnung / immer mehr vormachen, was uns keiner mehr / abnimmt“); menschliche Interaktion in dieser anbrechenden „wärmer[en]“ Epoche wird als oberflächlich dargestellt („nettes Gespräch“) oder als strategisch instrumentelle Verbindung gesehen („einer guten / Beziehung“). Auch die einst dogmatisch ausformulierten „Utopien“ des sozialen Zusammenlebens zerrinnen bzw. „sickern“ fort. Das größte biblische Privileg5, den Dingen Namen zu geben, scheint dem „Vergessen“ preisgegeben, womit auch das „von der Liebe sprechen“ an Wert einbüßt.
Die Geschwindigkeit in dieser Zeit des Übergangs ist „langsam“ und daher auch schleichend und in gewisser Weise unmerklich, sodass „wir staunen, weil es im Kino noch Menschen / mit Tätowierungen gibt“. Das letzte Glied in diesem prolongierten Parallelismus, der mit „während“ synchron mit der Sprechstimme verläuft, kulminiert in „während die Welt langsam, / aber sicher in die Umwelt verschwindet“: Was Welt als Einheit von Innen und Außen seine Tiefe der Wirklichkeit besaß, verwandelt sich „langsam“ in eine Wirklichkeit von Äußerlichkeiten bzw. eine „Umwelt“.
Diese skeptische, bisweilen apokalyptische Weltwahrnehmung tritt häufig in der Dichtung der 90er-Jahre von Volker Braun über Gerhard Falkner bis zu Thomas Kling auf. Werner Söllner blickt hier jedoch nicht, wie es andere getan haben, von einem allwissenden, olympischen Standpunkt auf die Gesellschaft, sondern betreibt Gesellschaftskritik im Modus der Selbstkritik.
Die zweite Strophe nun charakterisiert als Hauptsatz die neuen Menschen dieser anbrechenden Epoche nicht wenig pejorativ als „Barbaren“. Es sind Barbaren, die über eine (nicht näher ausgeführte, aber im „Abschied nehmen von Formen“ sich entziehende bzw. verschwindende) Zivilisation herfallen, die sich nun durch die Zäsur und Wandlung der Zeit als historisch begreift.
kommen die Barbaren zu uns,
aus der Leere hinter der letzten sichtbaren
Galaxie, langsam, aber sicher wachen sie auf
in den Wüsten, in Draculas Schloss, und wischen
sich den Schlaf der Vernunft aus den Augen,
die Blicke scharf von der Gier nach einer
Enttäuschung, die aussieht wie Hoffnung, langsam,
aber sicher zertrampeln sie uns die letzten
Blumen aus Stacheldraht in den Biotopen des
Todes, sie kommen und fordern den Lohn der
Geschichtslosigkeit, ihren gerechten Anteil
an Coca-Cola und Erdöl, an Mozart und Mickymaus,
am kleineren Übel und an der Freiheit, sich für
ein kleineres Übel und gegen sich selbst
entscheiden zu können, […]
sie kommen, die
Barbaren, und packen ihre Rostlauben voll
mit den Früchten aus dem Garten der Unlust […]
Die neue Epoche kommt aus „der Leere hinter der letzten sichtbaren / Galaxie“. Sie scheint ein Ausgang, zumindest aber ein Erwachen in eine irrationale Zeit. Gleichzeitig wird die oben erwähnte Vergangenheit der Zivilisation keinesfalls als ein goldenes Zeitalter imaginiert, denn diese war voll von „Stacheldraht“ umzäunten „Biotopen des / Todes“. Hier wird keineswegs das Gewesene gegen das Werdende ausgespielt.
Die neue Zeit, die am Horizont von „Langsam, aber sicher“ aufblitzt, ist ein Weltalter der Anonymität, der „Geschichtslosigkeit“. Sie ist geprägt vom Konsum von globalen Gütern wie „Coca-Cola und Erdöl“. Sie scheint – in der Logik des Gedichts – wie eine nivellierte, relativierte Zeit der Beliebigkeit, darin „Mozart und Mickymaus“ ununterscheidbar, alliterativ gleichklingend nebeneinander stehen. Aber die härteste Kritik liegt wohl in ihrem Ethos des „kleineres Übels“, das viermal explizit in Haupt- und Nebensatz erwähnt wird. Es handelt sich letztlich also um eine Kritik an der Mediokrität.
Diese Perspektive verdichtet sich in den sieben Gedichten, die den Zyklus „Bilderbogen aus der Schweiz“ bilden. In diesem helvetischen Hort des Luxus („es offeriert mir Zeit und Zigarren“), diesem „besonderen Land“ wird die empfundene Ungleichzeitigkeit und damit Fremdheit des Subjekts der Gedichte benannt. Inmitten dieses etwas müden, etwas gleichmütigen, etwas gelangweilten, etwas mondän übersättigten Glücks von „unverheirateten Lehrern“ liegt das Ich nachts bei seinen Alpträumen. Es bietet sich als Projektionsfläche des Zweifels, des Unbehagens, auch der Empörung und Desillusion an.
Und ich kleine
gefangene Seele liege
zu Bette und denke mir
Geister herbei, um mich
Endlich fürchten zu können
In seinem Unglück sich selbst suspekt werden. Sind diese „Geister“ Autosuggestionen, die wie aus Selbstbestrafung herbeigedacht werden, um den Fetisch der Angst zu kultivieren? Dieser „untragische Landstrich“ und dessen Bewohner, in dem man erst „ein paar Jahre“ wohnen müsste, „um auf ihre Neurosen zu kommen“, ist auch in seiner Selbstreflexion immerfort „gutgelaunt und ein bisschen gelangweilt“, „hält sich abseits“ von den Qualen der Welt, seine Natur ist „gekämmt“ und sein Leid ist so beschaffen, „dass es / nicht weh tut“. Es ist die „Umwelt“ des „Palavers“, des „großen Geredes“.
Und hier – inmitten dieser mittelmäßigen Glückseligkeit – erlebt die Sprechstimme, sooft sie alleine ist, ihre eigenartige Vereinzelung und Gefangenheit, die aber wiederum ein Spiegel der engen Gefangenheit der Anderen in ihrem „besonderen“ Glück mitträgt.
Spät, in der Dunkelheit, steh ich
Ratlos vorm Käfig. Drinnen leuchtet
die Freiheit, draußen knacken
die Stäbe im Brustkorb.
Dieses trotz voller Involvierung beharrende Gefühl der Nichtzugehörigkeit: Dieses Gefühl der Fremde wird – etwa im Gedicht „Paris, im November“ – auf die Gesellschaft insgesamt ausgedehnt und stellt daher nicht lediglich eine Erfahrung dar, die „Emigranten“ eigentümlich wäre, sondern ist symptomatisch für die oben genannten Effekte von Urbanisierung und Globalisierung. Denn am Geburtsort dieser „Freiheit“, der Pariser Bastille, dort „steht das Volk / diese wildfremden Leute / und holt uns für einen Zehner / die Freiheit vom Feuer: ein paar gebrannte Kastanien“. Die Kritik der Freiheit im Modus des „kleineren Übels“ wirft nur kleine Freuden ab, „ein paar gebrannte Kastanien“. Und wieder zieht das lyrische Ich seine eigenen Zweifel an dieser neuen Welt in Zweifel. Es empfindet sich als Spielverderber, als Unzeitgemäßer: „Den Kindern / den Tieren und Pflanzen / klingen die Ohren“ und es will, so scheint es, die Welt in ihren verminderten Freuden nicht weiter stören.
Anamnese des Selbst
Die Stimme, die dem Leser am Eingang zu Der Schlaf des Trommlers begegnet, entzieht sich selbst jedem Anschein einer positiven Setzung ihres Selbst. Die oben erwähnten Zeilen „Wie fremd / ich mir bin. Von innen / […]“ gewinnen im Verfolg des Gedichts „Wortstaub“ noch eine höhere Zweifelhaftigkeit, wie die dritte Strophe zeigt:
Ich kenne mich
kaum und was mit mir ist.
Bodenlos und ohne Bedeutung
die Zeichen, die Stamm
und Rinde erreichen. Als hätte ich
zu viel gesehn und angeschaut
nicht genug. Wie wenn der Krug
von Anbeginn nicht ganz
gewesen wäre.
Die ersten beiden Zeilen verlaufen im Widerspruch zueinander. Die Strophe setzt mit der Affirmation der Selbstkenntnis ein, die jedoch in der grammatischen Vervollständigung des Satzes durch Enjambement und streng gewahrte Verseinheit umgekehrt wird. Man begegnet einem Gegenüber zum Leser ohne festen Kern: Es kennt sich selbst sehr gut bzw. „kaum“, darüber hinaus deutet die Wendung „was mit mir ist“ auf eine gewisse Krise. Ihm fehlt etwas. Ist das, was als Fehl angezeigt wird, nur voreilig als krisenhaft zu interpretieren? Ermöglicht ein Fehl von etwas nicht auch die Leichtigkeit der Befreiung, ermöglicht nicht die Abwesenheit des Selbst eine fast buddhistische Offenheit zum All?
Doch auch hier wird der Leser in den folgenden drei Zeilen mit einem neuen Paradox konfrontiert. Es folgt ein modifiziertes Hölderlin-Zitat, das ein wesentlicher Fluchtpunkt in Paul Celans Denken und auch bekanntermaßen in Martin Heideggers im Wintersemester 1951/52 gehaltener Vorlesung Was heißt Denken? ist. Sowohl Zeitgenossen von Celan und Heidegger, wie wohl auch die beiden selbst, als auch die überwältigende Anzahl an Studien zu diesem Dichter-Denker-Verhältnis platzieren am Kreuzungspunkt den Dichter Friedrich Hölderlin.
Wenn also das Gedicht „Wortstaub“ die Hölderlin Zeilen aus der Hymne „Mnemosyne“ modifiziert aufnimmt, handelt es sich also um eine teleskopartige Intertextualität. Ich zitiere den Beginn von Friedrich Hölderlins unvollendeter Hymne:
Ein Zeichen sind wir, deutungslos
Schmerzlos sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde verloren.
Wenn nämlich über Menschen
Ein Streit ist an dem Himmel und gewaltig
Die Monde gehn, so redet
Das Meer auch, und Ströme müssen
Den Pfad sich suchen. Zweifellos
Ist aber Einer. […].
Ohne allzu sehr abzuschweifen, möchte ich nur zwei Beobachtungen festhalten: erstens, den drohende Verlust der Sprache durch die Fremde, die offenbar als eine gewaltige Umwälzung von kosmischem Ausmaß empfunden wird; und eine trotz des dubiosen Wechsels im Weltalter scheinbar „zweifellose“ Instanz des „Einen“. Was mir bemerkenswert scheint, ist die Verknüpfung des Gedichtes „Wortstaub“ mit diesem weiteren Resonanzraum des Weltenumbruchs. Es erweitert die Anamnese des Selbst, die das Gedicht mit dem Subjekt „Ich“ markiert, um eine kosmische Dimension. Wie nun modifiziert „Wortstaub“ den in „Mnemosyne“ gegebenen und in dessen Rezeption mehrfach konnotierten Text?
Zunächst ist vielleicht zu sehen, dass Werner Söllner sich hier nicht auf die metaphysische Sinnrichtung einlässt, die bei Hölderlin im Vordergrund steht. In „Wortstaub“ wird nicht der Verlust einer Sprache beklagt, sondern eine scheinbare Entwertung der Zeichen, „die Stamm und Rinde“ benennen könnten. Eine Signatur des Ichs ist daher eine ständig drohende Entwertung seiner Sprache, seiner Sprachfähigkeit.
Als Grund für diese Zeichen ohne Bedeutung wird angegeben: „als hätte ich / zu viel gesehen“. Was dieses Zuvielgesehene sein mag, bleibt unausgesprochen, was Raum öffnet zu fragen, ob es ein Zuviel an einerseits traumatisierenden Ereignissen und Schrecken war, oder eine Art Reizüberflutung an Eindrücken. Die rezeptionsgeschichtliche Deutungsüberlagerung zu Hölderlins Hymne legen natürlich nahe, dass beides gleichzeig denkbar ist. Dieser Eindruck verstärkt sich mit der (als Oxymoron angelegten) Fortführung mit „und angeschaut / nicht genug“. Die Eingangs bei Söllner eingebrachte Bodenlosigkeit sowie die Zeichen ohne Bedeutung sind demnach das Ergebnis einer Unschlüssigkeit, eines Zweifels im Hinblick auf das Ansehen von und die Ansicht über die das Selbst betreffenden Dinge. Was ist aber genau der Grund von „bodenlos“?
Aber „bodenlos“ liest sich vielleicht nur im heimatverliebten, vermeintlich autochthonen und darin gähnend homogenen Denken der Grundbesitzer als problematisch. Grundbesitzer wiegen sich in der Sicherheit, auf festem Boden zu stehen. Sie kennen ihren Standpunkt. Grundbesitzer verwenden „bodenlos“ häufig als negativisches Adjektiv in Kollokationen wie „bodenlose Frechheit“ oder „bodenlose Unverschämtheit“, „dem Fass den Boden ausschlagen“, also als Verletzung des Grundes. Doch wer „bodenlos“ ist, der verfügt über Tiefe – potenziell unendliche Tiefe.
Man kann auf die Objektivität im Ton dieser Gedichte nicht genug hinweisen; ebenso sollte man auf die bisweilen in Ironie umschlagende Passagen vieler dieser Texte achten. Freilich schwingen hier die Erschütterungen der abendländischen Zivilisation seit der Säkularisation und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg mit, doch selbst die exzessivste Geschichtsreflexion bringt den Menschen nicht unbedingt in Fassungslosigkeit. Vielmehr vielleicht auch dies: Indem die Stimme dieses Gedichts ihren Boden, den Grund, das Land oder welche Begriffe wir in Der Schlaf des Trommlers hierfür auch finden mögen … indem sie sich den Boden entzieht, versagt, beklagt, verweigert, indem sie sich in Zweifel zieht, indem sie dies tut, eröffnet sie sich selbst eine neue Tiefe, woraus und von woher sie als Stimme tönen kann.
Gehen auf brüchigem Boden, auf bodenlosem Boden. Die Strophe wird nun durch ein konkretes Bild abgeschlossen: „[…] Wie wenn der Krug / von Anbeginn nicht ganz / gewesen wäre“. Auch die letzten drei Zeilen von „Wortstaub“ erinnern an einen Topos, den der frischgebackene Nobelpreisträger von 1992 ausformulierte, nämlich der karibische Dichter Derek Walcott.
„Break a vase, and the love that reassembles the fragments is stronger than that love which took its symmetry for granted when it was whole. The glue that fits the pieces is the sealing of its original shape. It is such a love that reassembles our African and Asiatic fragments, the cracked heirlooms whose restoration shows its white scars. This gathering of broken pieces is the care and pain of the Antilles, and if the pieces are disparate, ill-fitting, they contain more pain than their original sculpture, those icons and sacred vessels taken for granted in their ancestral places. Antillean art is this restoration of our shattered histories, our shards of vocabulary, our archipelago becoming a synonym for pieces broken off from the original continent.„6
Derek Walcott geht es um die vielen fragmentierten Bezüge, die die sprachliche und kulturelle Identität von der Karibik ausmachen. Sein Bild ist das zerbrochene Gefäß. Mit der Wahl dieser Metapher popularisierte Derek Walcott einen in vielen postkolonialen Ländern lange diskutierten Zustand der Hybridisierung, dem zugleich eine Sehnsucht nach einer (idealisierten) Heimat innewohnt.
Es kommt mit den Babyboomers unter den rumäniendeutschen Literaten nun die Möglichkeit auf, in der deutschen Literatur einen Stil zu entwickeln, der fähig ist, die aus Globalisierungsdynamiken hervorgerufene permanente Verortung im Bodenlosen auszudrücken. Ohne sofort Individualerfahrung in deutsche Nachkriegsparadigmen einzuordnen, ließe sich Werner Söllners Werk daher erschließen als eine frühe Form der Hybriderfahrung. Man denke an die Essaysammlung William Carlos Williams „In the American Grain“, die Essays von James Baldwin oder Tom Wolfes „Back to Blood“, anstatt an William Faulkners oder Henry James’ krampfhafte Erzeugung eines Grand Narratives, der die Erfahrung des Sezessionskriegs ausdeutet.
Aus der Perspektive der Globalisierungserfahrung bzw. Globalisierungseffekten lesen. Es scheint mir, diesen Gedichten geht es, wie die Kritik am „großen Gerede“ oben zeigt, vielmehr um Jetzt-Zeitanamnesen als um retrospektive Judikationen, wie das Gedicht „Kleines Emigrantenlied“ nahelegt.
Die die Fremde ertragen,
lieben besser allein.
Man muss Zuhause sagen
und überall sein.
Schreib in offnem Gelände
uns beiden ein Stück
vom verstümmelten Ende
zum passenden Anfang zurück.
Ein unzeitgemäßes Dasein, das zu ertragen sei, wird simuliert. Als sei die Wucht der urbanisierten und globalisierten Großstadt etwas, das dem Sänger des „Kleinen Emigrantenlieds“ nicht naturgemäß sei, obschon sie seine konkrete Wirklichkeit ausmacht. Ähnliche Anklänge an das Ertragen einer nicht örtlich, aber existenziell zu verstehenden „Fremde“ finden sich auch in den Charakterisierungen des Ichs im Gedicht „Kann sein“, welches das Vage und Seinkönnen nicht im Sinne eines Musilischen Möglichkeitssinn versteht, sondern als eine ständige Gefahr des Verpassens des Eigentlichen:
Dieses ewige Hinundher
zwischen Mangel und Überfluss
zwischen Katastrophe und Erlösung
zwischen Leitartikeln und Lyrik –
es hat auch mich nervös gemacht
nervös und ungeduldig.
Besonders die Formulierung „auch mich“ ist bemerkenswert, suggeriert sie doch, dass rings herum längst alle schon befallen worden sind von dieser Ungeduld und Nervosität; „auch“ der Ausgewanderte ist umgriffen von diesem Zustand. Die Signatur des lyrischen Ichs wird also eine zunehmende Feststellung, dass es nicht nur sich selbst als bodenlos empfindet, aber zudem auch eine gewisse Entfremdung erfährt.
Eine weitere Anamnese des Selbst enthält das Gedicht, das mit „Zu Gast« betitelt ist. Die ersten beiden Verse nuancieren die Haltung zur Sprache folgendermaßen: „Sprache, mein fremdes / Recht auf Gewohnheit […]“. In der Sprache eignet sich das Subjekt das Fremde an als „mein fremdes“, denn es handelt sich, wie wir aus den anderen Texte des Bandes wissen, bei dem Begriff des „Fremden“ um einen janusköpfigen Begriff: in Bezug auf wen ist das „Recht auf Gewohnheit“ fremd; es ist das „mein fremdes“ das mit dem Subjekt aus seiner Fremde kam. Das Fremde hier ist das, was dem Adressaten des Gedichtes entzogen ist; es ist das unbekannte Vorzeichen des Ichs des Gedichts. Es ist das Dir-Unbekannte. So erfährt die Vorstellung von Fremd, Fremdsein, Fremdheit in diesen Charakterisierungen eine neue Mehrdeutigkeit. Gleichzeitig vertieft „Zu Gast“ das Gefühl von einem ständigen existenziellen Weder-Noch, eines fortwährenden Provisoriums, wie man der dritten Strophe entnehmen kann:
Zwischen Angel und Tür
steh ich herum, zu Gast
bei mir selbst, immer näher
einem heimlichen Ort, stumm
hüt ich das Feld
mit der Trommel und würfle
mich wund mit den Disteln
um ein eigenes Wort.
Das Gefühl, kein Ein oder Aus zu haben, im andauernden Zustand eines Weder-Noch, eine ungelenke Beidhändigkeit, ein Zwischen, ein auf der Schwelle stehen, eine bodenlose Doppelbödigkeit, das Zwielicht, die gestaute Existenz. Die Xenophilie dieser Stimme, ihre unglückliche Hingabe ans Fremde geht soweit, dass diese gewohnte, habituelle Fremdheit bis in die intimste Innerlichkeit reicht „zu Gast / bei mir selbst“, nah am „heimlichen Ort“, den sonst niemand kennt, der sich nicht mitteilen lässt, der auch dem Subjekt selbst fremd, obwohl „mein“ Fremdes ist. Dieses Gefühl der beständigen Unbehaustheit auf allen Ebenen drückt sich auch in „Was bleibt“ aus:
Das Haus der Welt ist schlecht gebaut
ich sitze krumm und schief darin.
Ach Sprache, meine stumme Braut,
sag mir, wo ich zuhause bin.
Wenn ich nun im dritten Gang Reflexionen fortwährender Ankunft herauslese, wird sich zeigen, dass die in diesen Gedichten aus den Fugen geratene Positionalität des Ichs nicht einfach die wehmütige Situation eines Exilanten darstellt; vielmehr bricht in dieser Konzeption der Conditio humana die Erfahrung des 21. Jahrhunderts bereits Bahn.
Eine Erfahrung, die man in den frankophonen Literaturen und im angloamerikanischen Diskurs kurzsichtig in der Domäne der Post-Colonial Studies thematisierte. Sie ist mehr als bloße Migration oder kulturelle Hybridität. Sie ist die mit Urbanisierung und Globalisierung, aber auch dem beschleunigten Wandel des sozialen Gefüges sowie mit einer Labilität sonst eingependelter Tradierungstechniken einhergehende Grundbefindlichkeit des Menschen im 21. Jahrhundert. Sie ist die unzuverlässige, zweifelhafte, sich bodenlos entwerfende Existenz.
An den Städten vorbei
am Palaver
vorbei an den öligen Stränden
mit dem großen Bruder des Schlafs
übers Stoppelfeld, ich steh
mit blutenden Händen
in der schartigen Welt
In friedlicher Zeit
folgt mir ein Schatten
der Vater der Dinge
ich schließe die Augen
und rede mich stumm, ich geh
mit blutender Klinge
zwischen den Wörtern herum […]
(Der Schlaf des Trommlers, „In friedlicher Zeit“)
Aus der rezeptiven Position, denke ich, ist es nun absolut notwendig, die Novität dieses Projektes, die jetztgebundene Diesseitigkeit der 1992 veröffentlichten Gedichte aus Der Schlaf des Trommlers ernst zu nehmen und sie nicht reflexartig mit typischen Lektüremustern gehobener Literatur aus der BRD der 80-Jahre zu verrechnen. Die – man muss es leider so sagen – bequeme Art besteht nämlich darin, wie es zahlreiche Kommentatoren getan haben, die Gedichte auf die Grand Narratives der literarischen BRD nach 1945 einzupassen. Doch schon 1988, im Band Kopfland. Passagen mahnt das lyrische Ich im »Fragment für Arnika«, indem es seine Eigenständigkeit fast apodiktisch behauptet:
das von vorhin, was
war, das war nicht
ich, das war Celan, das ist vorbei, das von vorhin, vorbei
und wohin.
Reflexionen fortwährender Ankunft
Im Gedicht „Hotel Eden“ erhält der Leser eine aufschlussreiche Einsicht in die Konzeption der Ankünftigkeit.
Zwischen Ankunft
und Abschied, praktischerweise
am Bahnhof und meist nur
in größeren Städten, jedenfalls fern
der Natur – dort, Wanderer, kommst du
zum Eden.
Das explizite Involvieren des Lesers geschieht in der Anrufung »dort, Wanderer kommst du«. Schon in dieser Passage wird deutlich, dass es hierbei keinesfalls oder nur aus illustrativen Gründen um ein am Autor orientiertes biographisches Projekt geht. Vielmehr verhandeln die Gedichte den Wanderer, sein Vagantendasein, auf einer allgemeineren Ebene.
Es ist der Großstadtmensch, der im fortwährenden Transit existiert, der »praktischerweise« von einer utilitaristischen Ideologie geprägt ist, die ihn von »der Natur« entfernt, sein Leben »meist nur / in größeren Städten« ertragen lassen. Aber es gibt auch Trost, denn das Gedicht, darin der Garten der Schöpfung nicht mehr Ursprung, sondern schlicht ein »Hotel« darstellt, darin man unverbindlich ein- und ausgeht, schließt mit folgender Strophe:
Wanderer, du kannst es nicht verfehlen.
Auch hier ist Arkadien, du überlebst
im Eden, bis der jüngste Tag anbricht
und schreibst auf einem Feigenblatt
Papier und wäschst dich mit der Seife
der Ideen und wählst zuerst die Null
um mit Utopia zu sprechen.
Man hat das Gefühl, das lyrische Ich entwickle sich gerade zu einem Virgil, der den Wanderer Dante gerade durch den Hades führe mit einer antikisch-klassischen Gelassenheit und Weisheit: »Auch hier ist Arkadien, du überlebst«. In dieser Strophe fließen gleich mehrere Eschatologien zusammen: die christliche Vorstellung vom »jüngsten Tag«, die abrahamitische Vorstellung von »Eden« und die aus dem Fall entstandene Scham (»Feigenblatt«), aber auch eine humanistische Soteriologie des Reinwaschens der Ideen und der Nullpunkt einer Utopie. Aber zwischen all diesen Dingen ist »Arkadien«, der vielleicht glücklichste Landstrich aller Erinnerung. Doch auf dem bodenlosen Boden all dieser Eschatologien gilt es nun, das einzulösen, was in zahlreichen Texten immer wieder beschworen wird – etwa in der letzten Strophe von »Kleines Emigrantenlied« oder der letzten Strophe im Gedicht »Swanns Reise«, das den Band abschließt (in beiden Fällen wechselt das Gedicht in die Anrede).
Schreib im offenen Gelände
uns beiden ein Stück
vom verstümmelten Ende
zum passenden Anfang zurück.
(„Kleines Emigrantenlied“)
Liebste, der Weltnebel weicht
In entlegene Wörter zurück:
Was uns am Ende erreicht,
ist ein geschriebenes Glück.
(„Swanns Reise“)
„Verschüttetes wuchert und schwelt / an bitteren Schichten vorbei“
Wie wirkt sich die oben in drei Akzentuierungen herausgearbeitete Positionalität und Konstitution des Subjekts auf seine Imaginationen und Evokationen des Vergangenen aus? Welche/s Vergangenheitserlebnis(se) simuliert der Text des Gedichts? Die Emigrantenerfahrung, wie soeben angedeutet, dramatisiert eine harte Scheidung zwischen Subjekt der Gegenwart und seinen Vergangenheiten. Es lässt eine Grundbefindlichkeit der Verunsicherung, der Bodenlosigkeit, der Hybridisierung, der ständigen Ankünftigkeit, auch der Unbehaustheit wie sie alle für alle in der Moderne lebenden Menschen gilt, besonders grell erscheinen. Sie verweist auf eine Struktur der Herkunft, die nicht nur zeitlich entrückt, sondern auch örtlich distanziert ist bzw. diesen kaum identifizieren kann.
Das Gedicht „Wortstaub“ benennt diesen Bruch im Bild von „Verschüttete[m]“, als sei der Stollen des Selbst verschüttet, der Grund nicht mehr betretbar. Oder: schaut das Subjekt zurück auf eine Ebene, der es entstiegen ist, wie auf eine Landschaft, die nun unter einer Lawine liegt und unsichtbar geworden ist? Doch fort besteht diese verschüttete Vergangenheitslandschaft, sie „wuchert“ oder – noch bedrohlicher – „schwelt“. Beide Verben konnotieren die örtlich und zeitliche distanzierte Vergangenheit aktivisch. Sie ist unsichtbar, aber nicht erloschen, was sie umso gefährlicher zu machen scheint.
Zeitszenerien: Bühne des Gewesenen
Was mir auffällig scheint an Gedichten wie „Siebenbürgischer Heuweg“, darin sich die lyrische Stimme grammatisch in einer simulierten Vergangenheit lokalisiert („hier / war ich“), ist der Detailreichtum, mit dem das Gedicht Orte und Landschaften präsentiert. Obschon es dort heißt, es sei eine „unpoetische Landschaft“, unternimmt die Stimme hier eine große Anstrengung, um diese Szene detailliert auszuschmücken.
Der Leser erfährt vom „schwarzen, unruhigen Vieh“. Er wird an einen scheinbar genau zu identifizierenden Ort gebracht „hinter den Bergen am Waldrand“, ihm bringt das Gedicht die Figuren („die Männer“) in detaillierter Sinnlichkeit ihrer Bewegung nahe: „durchs kniehohe Gras“. Der akustische Reichtum dieser Landschaft wird zur Sprache gebracht: „Hornissengewölk“, „ein verspäteter Kuckuck rief“, „schrill / schrie der Maulwurf“, „sangen Stein und Metall“.
Gleichwohl scheint mit dieser „unpoetischen Landschaft“ etwas nicht zu stimmen. Sie ist voller brutaler Zufälligkeit, wenn etwa der gerade noch dem Kuckuck antwortende Maulwurf offenbar von der Sense der Männer geköpft wird. Diese Enthauptung des Maulwurfs jedoch macht den eigentlichen Kern der Vergangenheitserfahrung dieses Gedichts aus, denn „bevor“ er geköpft wird, kann er noch eine „Antwort“ geben auf die „fremde Stimme des Glücks“, womit der Kuckuck ruft. So ist diese „unpoetische Landschaft“ voll von – nun geköpften – Dialogen zwischen Lebewesen und Dingen jener Welt, deren „Blutspur“ das lyrische Ich gefolgt ist, um sie hervorzurufen aus dem Gewesenen.
Diese fast mikrokosmisch versessene Detailliertheit findet sich in zahlreichen retrospektiven Gedichten, sei es „ein Löffel voll Mehl / in der Truhe“ in dem Gedicht „Hinterlassenschaft“ oder sei es die dörfliche Kulinarik im Gedicht „In der Küche“, darin wir „zwischen Messer und Brett“ geführt werden, oder sei es schließlich das Figurenpanorama jener Welt wie z.B. „Parteisekretär“, der „Herr Pfarrer“, das „Mägdlein“, die „Märchenerzähler“. Dieser Detailreichtum ist keine zärtliche Reminiszenz, wie die vom verstummten Maulwurf hinterlassene „Wunde im Gras“; auch ist er nicht so sehr ein scheinbarer konkreter Fluchtpunkt für die Metapher. Vielmehr insistiert das Detail auf die Gesamtheit dieser Landschaft.
Aufhebung der Zeit und das Hereinbrechen der Geschichte
Anhand des Gedichts „Königsboden“ lässt sich eine weitere Konnotation dieser „unpoetischen Landschaft“ diskutieren. Diese bäuerliche Welt wird im Stil der Bukolik als zeitenthoben in ihrer vormodernen Konstitution angerufen: „auf und ab und davon in eine Zeit / ohne Vergangenheit“. Im Verfolg des Gedichts geschieht jedoch eine seltsame Wandlung. Zunächst „stapft der Bauer im Kleefeld“ noch einer „wildernden Kuh hinterher“. Was zunächst wie eine Szene aus einem Idyll daherzukommen scheint, nimmt jedoch eine gewaltsame Wendung: er „sticht / ihr gnädig den Bauch auf“.
Diese fast biblisch scheinende Szene, darin der autochthon vorgestellte Bauer das Tier hinmordet, führt nun eine Sequenz ein, die voller Momente der Plünderung ist. Diese sakrale Stimme wird aber erst noch erhöht: „Die Krone mit dem dampfenden Schweißband / am Stroh hält er hoch und grüßt / die Hoheit der Äcker“. Man gewinnt den Eindruck das „gnädig“ erstochene Tier werde plötzlich Teil eines Rituals. Doch nun nahen sogleich die Räuber und Plünderer: der „Bussard, der sich greift / was der Herr über Leben und Tod auf dem Boden / mit dem gedengelten Zepter gescheucht hat“. Der Dolch wird zum Zepter, der offene Bauch der „wildernden Kuh“ wird nun ausgebeutet: „Zischend verendet das Vieh, ein Windstoß / aus dem gedunsenen Bauch lockt die himmlische / Heerschar der Fliegen und Bremsen“.
Nun bricht endlich in diese Szene die schwere Hand der Weltgeschichte ein, denn unvermittelt wandelt sich auch der Kadaver der Kuh zu Kriegsopfern: „Der Soldat / mit hölzernem Kreuz salutiert, als übers rumpelnde Feld / der Wagen herankommt und die Gefallenen abholt“. Das Idyll wird zum Kriegsschauplatz, das Gehen des „Bauern im Kleefeld“ wird zum „Gespann“, ein Wagen, womit „der knochige Mann / mit der Peitsche die Flur“ durchstreift über den „Hohlweg“.
Das Gedicht „Königsboden“ präsentiert sich als Wandlungsszene, in der „in einer Zeit ohne Zukunft“, eine Landschaft die noch keinen „Umgang / durch Schäden“ kennt, ihre Versehrung entgegengeht. So wird die „unpoetische Landschaft“ zu einem Vergangenheitserlebnis, bei dem eine paradiesisch zeitlose Welt zu einer verwundeten postlapsarischen Welt wird. Eine solche Verschränkung von dörflicher Welt und militärisch versehrter Welt, der die Unschuld geraubt ist, findet sich auch beispielsweise im Gedicht: „Sandkuhle“:
Verlassene Gegend: im Stroh
Hühnerblut, Großmutters Kinder –
Puppen im Nirgendwo.
Schwalbenflug, Regenverkünder,
du treibst uns die Büffel ins Joch,
Herrgott, du treibst sie ins Eisen.
In Großvaters Brust ist ein Loch,
draus tönen die alten Weisen.
Er geht mit der Sense vorbei,
brennendes Mehl im Tornister,
die Asche gestreut von der Spreu.
Erntezeit, Stiefelgeflüster.
Die Mühsal des Tiers und die Schrapnell-Wunde klingen hier zusammen im Reim von „Joch“ auf „Loch“. Aber auch das lebenserhaltende, lebensnotwendige Schlachten der Hühner, das „im Stroh / Hühnerblut“ hinterlässt wird modifiziert zum Vorzeichen der Kriegsgefallenen: „Großmutters Kinder“. Und in der letzten Strophe des Gedichts wird zumindest auf der Ebene des Reims dieser Zusammenklang getrennt. Es reimen sich nur noch „Tornister“ und „Stiefelgeflüster“ (beides aus der Welt des Krieges) einerseits sowie „vorbei“ und „Spreu“ (dialektal gereimt „Sprei“) andererseits. Darüber düster das viele Gedichte durchziehende Motiv der „Sense“, die sowohl die bäuerliche Landarbeit signalisiert, aber auch die „Erntezeit“ des Todes.
Die so imaginierte Vergangenheit ist doppelt kodiert, als zeitlos und als zunehmend versehrt. Wie in der biblischen Denkung beginnt allerdings mit dieser postlapsarischen Verwundung die Zeitrechnung, die diese dörfliche Welt aus ihrer Zeitlosigkeit herausreist in die Geschichte der Moderne. So steht diese »unpoetische Landschaft« nur teilweise außerhalb des abendländischen Grand Narratives. Sie ist in den Gedichten nicht zu einer idyllischen Heimat stilisiert, sondern wird zum Ort, darin die Geschichte der Moderne ihre blutige Geburt zelebriert.
Sturm auf die Bastille: Evokationen weltgeschichtlicher Daten
Doch die Gedichte in Der Schlaf des Trommlers treiben nicht nur Szenen subjektgebundener Erfahrung hervor, sondern inszenieren auch geschichtsbuchverbürgte, kollektive Daten wie etwa der Text „Paris im November“. Ich möchte zwei davon besprechen, da sie die oben skizzierte Dynamik von Geschichte klarer erkennen lassen, nämlich im Kontrast.
Obwohl unterschiedliche Quellen dieses Gedicht speisen mögen, möchte ich den Blick auf den Umgang mit der französischen Revolution hier betrachten—ein in Lehrbüchern fest fundiertes Datum der Weltgeschichte. Es zeigt wie „uralte Muster im Gepäck“ hier modifiziert Verwendung finden.
Durch die abgeriegelte Avenue Kléber
braust die Nachhut der Revolution:
ein paar Limousinen mit Blaulicht
Vor der Bastille steht das Volk
diese wildfremden Leute
und holt uns für einen Zehner
die Freiheit vom Feuer
ein paar gebrannte Kastanien.
Die Aufmerksamkeit wird zunächst auf die „Revolution“ gerichtet: die historische Dimension jener Straße im 16. Arrondissement, die nach dem in Kairo am 14. Juni 1800 ermordeten General der Revolution Jean-Baptiste Kléber benannt ist. Während das Gedicht diese hohe Historie der heute auf den Arc de Triomphe zulaufenden Avenue hochhält, wird die dem Gedicht eingeschriebene Gegenwartsbeobachtung satirisch gestimmt: „die Nachhut der Revolution“, die den adeligen Eliten ein Ende setzen sollte und zu einer demokratischen Konstitution der Republik führte, ebendiese „Nachhut“ besteht gegenwärtig aus den unter Polizeigeleit umherfahrenden „Limousinen“, deren Insassen offenbar zu den vielen Luxushotels unterwegs sind, wie etwa das an der Nr. 17 befindliche Hotel Raphael oder das Hotel Majestic (Nr. 19), das nach dem Krieg die UNESCO beherbergte und inzwischen durch den Emir von Katar als The Peninsula Paris Hotel geführt wird.
Auch die zweite Strophe führt qua Beschwörung der Geschichte eine Kapitalismuskritik bzw. eine Kritik der Konsumgesellschaft vor: Während das französische Volk in der Revolution die Bastille als Symbol der Unterdrückung stürmte, genügt nun die kleine „Freiheit vom Feuer“, die aus „gebrannten Kastanien“ besteht. Auch das Volk wird als eine sich gegenseitig unbekannte Ansammlung von „wildfremden Leuten“ beschrieben, das nicht im Akt seiner Befreiung geeint ist, sondern im Moment eines kleinen Konsums. Anders als in den subjektgebundenen Geschichtserlebnissen, wird hier die Französische Revolution als Lehrstück zitiert.
Ein ähnlicher Umgang mit kollektiv etablierten Vergangenheitsbildern findet sich auch im Gedicht „Alter Klosterarten in Royaumont“. Die Technik erinnert etwas an Carl Spitzweg oder Caspar David Friedrich. Auch hier tritt die Ausgestaltung des Gedichts mit minutiösen Details zurück, wie sie in den autobiographisch arbeitenden Texten stattfindet. Die klösterliche Szenerie wird als Bild der Vergänglichkeit zu einer Folie für das Leben des Individuums in einer Geschichtsvorstellung, die vom beständigen errichten und niedergehen ausgeht, also zyklisch gedacht ist: „Steinhaufen errichtet / und niedergebrannt, Vorräte angelegt / in unterirdischen Gewölben, die Welt / angeschwärzt bei sich selbst“. Diese Reflektion auf den Ort wird nun im Verfolg des Textes auf das Individuum appliziert: „Durch die Jahrhunderte ziehen / auf zwei Beinen / mehr oder weniger / lauthals und spurlos“.
„In beiden Fällen, also bei beiden Gedichten ist Historie als eine Konvention gedacht, eine bereits erzählte, reflektierte, erforschte Geschichte, die als Geschichtsschreibung ihre Lehren enthält. Dies ist nicht spektakulär, doch lässt sich dadurch die Dynamik der anderen Formen der Vergangenheitssimulation (etwa in „Königsboden“) umso klarer sehen, denn dort entsteht Geschichte aus der Zeit. Sie wird nicht herbeizitiert als Datum, sondern erschaffen als existenzielle Stimmung und existenzielles Erleben.„7
Zugespitzt könnte man die alte Kritik (Geschichte zu schreiben, hieße zu verzichten, sie zu machen) umkehren, denn das lyrische Subjekt wird hier erst als Geschichtserlebnis erfahrbar und kommunikabel. Das oben beschriebene an sich zweifelnde Subjekt des Gedichts erzeugt im Modus des Dichtens immerfort, insofern es nicht einfachhin Geschichtsdaten als Kulisse verwendet, den zeitlosen legendären, märchenhaften, aber „legitimen“ Raum darin erlebte „Gegenwart und Vergangenheit“ ihre „Bezüglichkeit eingehen“. Werner Söllner umgeht mit einem spezifisch konstituierten Subjekt, das die Stimme des Gedichts trägt, jene Prämissen der historischen Schule, samt ihres universalgeschichtlichen Gestus, der historische Erfahrungen als vorausgesetzt übergeht … Werner Söllner umgeht oder überwindet diese Prämissen zugunsten einer poetologischen Methode der imaginierenden Simulation, der selbstreferenziellen Entzifferung des auch in der Dechiffrierung seiner Imaginationen sich zweifelhaft bleibenden Selbst und eines rezeptionsermöglichenden Verstehens des lyrischen Subjekts, das nicht als kognitivistische Einsicht basiert, sondern sich als Erlebnis vollzieht. Damit problematisieren diese Gedichte die Konstitution des Selbst in der urbanen Spätmoderne; sie ringen um Selbsthabe und Selbstverständigung angesichts einer permanenten Umschichtung der Dinge. Diese Linie findet sich auch eindrücklich im Band Kopfland. Passagen (1988) und zeichnet eine der vielen wertvollen Spuren aus, die Werner Söllner seinen Lesern als ästhetische Erfahrung ausgestreut hat.